Hintergrund und Fragestellung

Die zunehmende Lebenserwartung in Kombination mit einer niedrigen Geburtenrate führt in Deutschland, wie in vielen anderen Industrieländern, zu einer raschen Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung. Trotz Immigration wird aufgrund des demografischen Wandels hierzulande voraussichtlich bis zum Jahr 2050 der Altenquotient (Verhältnis der Personen in Rente zu denen, welche aktiv in Arbeit sind) unter den 4 höchsten der G20-Staaten sein [27]. Das kann weitreichende Konsequenzen für das Rentensicherungssystem haben. Jede Person, die als Arbeitnehmer in den Ruhestand übertritt, verursacht Kosten in zweifacher Hinsicht: Sie scheidet als Beitragszahler zur Rentenversicherung aus und nimmt zugleich Rentenleistungen in Anspruch. Nicht zuletzt mit Blick auf die verlängerte Lebenserwartung können daher besonders Personen, welche vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden, für die Solidargemeinschaft „teuer“ werden. Die Dauer der Erwerbsteilhabe im höheren Erwerbsalter ist allerdings sozial ungleich verteilt (s. auch Beitrag von Kadefors et al. im vorliegenden Heft und [26]).

Von „sozialer Ungleichheit“ spricht man, wenn die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe regelmäßig mit Vor- oder Nachteilen einhergeht. Im Alltagsgebrauch wird unter „sozialer Ungleichheit“ meist Ungleichheit im Sinne einer Schichtung in „oben“ und „unten“ bzw. Besser- und Schlechterstellung verstanden. Zu dieser vertikalen Form der sozialen Ungleichheit gehören z. B. Bildungsstand und berufliche Stellung. Dagegen können jedoch auch deutliche soziale Ungleichheiten in Merkmalen der horizontalen sozialen Ungleichheit bestehen [16], die ein „Nebeneinander“ beschreiben, wie Geschlecht und Migrationshintergrund. So stellt sich Erwerbsteilhabe für Männer und Frauen fundamental unterschiedlich dar [15, 20], wie auch für Gruppen mit und ohne Migrationshintergrund [3].

Neben den Kosten für die Solidargemeinschaft ist die Dauer des Erwerbsverbleibs unter dem Gesichtspunkt einer alternden Arbeitnehmerschaft für den Erhalt der Arbeitskraft eines Landes bedeutsam. Wie lange eine Person in ihrem Leben erwerbstätig ist, kann das Ergebnis eines oft lang andauernden Prozesses und dabei des komplexen Wechselspiels zahlreicher Faktoren auf Mikroebene (Person: z. B. Gesundheit, persönliches Umfeld), auf Mesoebene (Arbeit, Betrieb) und Makroebene (z. B. Gesetzgebung, gesellschaftliche Ressourcen, Arbeitsmarkt) sein, wie es im lidA-Denkmodell visualisiert wird [13]. Bedeutsame Faktoren stellen zweifellos häufig soziale Determinanten und Arbeitsumstände dar [7].

Im Beitrag von Engstler et al. zum vorliegenden Schwerpunktheft wird gezeigt, dass die Planung, vorzeitig aus dem Erwerbsleben auszusteigen, häufig prädiktiv für den tatsächlichen späteren Erwerbsausstieg ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist es interessant, Faktoren mit Einfluss auf die Motivation, vorzeitig aus dem Erwerbsleben auszusteigen, zu untersuchen und hierbei zwischen Erwerbsgruppen unterschiedlicher zentraler Sozialmerkmale zu unterscheiden. Durch frühzeitiges Erkennen von sozialgruppenspezifischen – vertikalen und auch horizontalen – Unterschieden in dem Wunsch zum vorzeitigem Erwerbsausstieg und Faktoren mit Erklärungsgehalt könnten frühzeitig zielgruppenspezifische Interventionen initiiert werden, um Motivationsunterschiede auszugleichen – Beispiele wären etwa ein verstärktes Weiterbildungsangebot für bildungsschwache Schichten oder aber arbeitsbezogene Maßnahmen zur Reduzierung von Doppelbelastungen bei weiblichen Beschäftigten. Diese Interventionen müssten die Mikro‑, Meso- und Makroebene einbeziehen, um nachhaltig Erfolg zu haben. So können Maßnahmen zur Reduzierung sozialer Ungleichheit nicht auf die betriebliche Ebene beschränkt bleiben, sondern bedürfen zugleich Anstrengungen auf der Ebene der Arbeits- und Sozialpolitik, weil oft auch strukturelle Veränderungen erforderlich sind, um solche Interventionen langfristig erfolgreich umzusetzen.

Ziel dieser Analyse ist es, zu untersuchen, ob sich ältere Arbeitnehmer aus unterschiedlichen sozialen Gruppen in ihrer Motivation zum vorzeitigem Erwerbsausstieg unterscheiden und inwieweit die Unterschiede durch Arbeitsfaktoren oder andere Faktoren erklärt werden können. Der Vergleich horizontaler sozialer Merkmale erfolgt in Form von Geschlecht und Migrationshintergrund; vertikale soziale Ungleichheit wird anhand von Unterschieden in Schul- und beruflicher Ausbildung parametrisiert.

Studiendesign und Untersuchungsmethoden

Studienstichprobe

Diese explorative Untersuchung erfolgte mit Daten der lidA-Studie. In der prospektiven lidA-Kohortenstudie (www.lida-studie.de) wurden sozialversichert Beschäftigte der Geburtsjahrgänge 1959 und 1965 von März bis Oktober 2011 (Welle 1, n = 6585) und von Januar bis April 2014 (Welle 2, n = 4244) mittels persönlichem Interview („computer assisted personal interview“, CAPI) zu Arbeit, Gesundheit, Erwerbsteilhabe sowie zu arbeitsbezogenen und individuellen Faktoren befragt. Die deutschlandweite Stichprobenziehung erfolgte durch ein zweifaches Auswahlverfahren unmittelbar aus dem Registerdatensatz der Integrierten Erwerbsbiografien (IEB) der Bundesagentur für Arbeit (BA), welche alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland umfasst. Aus 222 zufällig gezogenen Rekrutierungspunkten in 206 Gemeinden erfolgte die wiederum zufällige Ziehung der initial 6585 Teilnehmenden. Durch diese doppelte Zufallsauswahl wurde eine hohe Repräsentativität der Stichprobe für alle sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten dieser Jahrgänge erreicht [22, 28]. Eine detaillierte Beschreibung zur lidA-Kohorte findet sich im lidA-cohort-Profil [12], zur lidA-Erhebung in den Methodenberichten [22, 28]. Für die Studiendurchführung liegt die Einwilligung der zuständigen Ethikkommission an der Bergischen Universität Wuppertal vom 05.12.2008 vor. In die Analyse wurden Arbeitnehmer einbezogen, welche in den beiden ersten Studienwellen (2011, 2014) in Arbeit waren (n = 3961).

Einbezogene Variablen

Die Zielgröße Motivation zum vorzeitigen Erwerbsausstieg wurde durch den Wunsch nach der Länge des Erwerbsverbleibs parametrisiert. Zu diesem Zweck wurde die Frage „Bis zu welchen Alter wollen Sie arbeiten?“ nach „weniger als 65 Jahre“ bzw. „mindestens 65 Jahre“ dichotomisiert. Als Altersgrenze wurde das bis 2011 gültige offizielle Regelrenteneintrittsalter gewählt, da bei den Analysen zwischen regulärem und vorzeitigem Erwerbsausstieg unterschieden werden sollte und die Autoren davon ausgehen, dass die meisten Befragten sich noch an der alten Regelrenteneintrittsaltersgrenze orientieren.

Als unabhängige Größen wurden eine vertikale und zwei horizontale Variablen sozialer Ungleichheit einbezogen. Bildung wurde mittels eines kombinierten Scores aus schulischer Bildung und beruflicher Ausbildung parametrisiert und anschließend in drei Bildungsklassen von niedriger bis hoher Bildung eingeteilt [1]. Migrationshintergrund wurde in den Kategorien ohne Migrationshintergrund, mit Migrationshintergrund in der 1. Generation (1G; im Ausland geboren) oder 2. Generation (2G; selbst in Deutschland geboren und mindestens ein Elternteil im Ausland geboren) erfasst. Geschlecht wurde in zwei Kategorien erfasst (Tab. 1).

Tab. 1 Beschäftigtenmerkmale und gewünschtes Erwerbsausstiegsalter – 3961 Beschäftigte der lidA-Studie, welche zu beiden Studienwellen in Arbeit waren

In dem Modell fanden Kovariaten Berücksichtigung, welche potenziell als „confounder“ oder Moderatoren in Betracht kamen, also bei denen eine beidseitige Assoziation zu oder aber Moderation von der unabhängigen und abhängigen Größe zumindest plausibel annehmbar erschien.

Als arbeitsbezogene Kovariaten gingen das individuelle Beschäftigungsverhältnis in den Kategorien Voll- oder Teilzeittätigkeit, ein geringfügiges (Mini- oder Midijobs mit einem Verdienst von max. 800 €) oder ein anderes Beschäftigungsverhältnis (z. B. Ein-Euro-Job oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahme) in die Analysen ein. Arbeitsbezogener Stress wurde mittels der extrinsischen Komponente des Modells beruflicher Gratifikationskrisen [23] gemessen. Diesem liegt zugrunde, dass ein Ungleichgewicht von beruflicher Verausgabung und dafür empfangener Belohnung zu chronischem Stress führen kann. Es erfolgte eine Terzilbildung – also eine größengeordnete Teilung der Werte in 3 Abschnitte gleichen Umfangs: unteres, mittleres und oberes Drittel – aus dem Quotienten aus den Scores der 11 Effort- und 6 Reward-Items (jeweils 4‑Punkt-Likert-skalierte Itemversion) unter Einbezug eines Gewichtungsfaktors zum Ausgleich der unterschiedlichen Anzahlen von Items in Zähler und Nenner [24]. Auf Grundlage der Blossfeld-Klassifikation erfolgte eine Dichotomisierung der beruflichen Tätigkeit in überwiegend manuell oder nichtmanuell. Zufriedenheit mit Führungsqualität wurde anhand der Dichotomisierung einer Skala aus 3 Fragen des Fragebogeninstruments Copenhagen Psychosocial Questionnaire (COPSOQ; [18]) abgebildet: Misst der Vorgesetzte der Arbeitszufriedenheit einen hohen Stellenwert bei, sorgt er für gute Entwicklungsmöglichkeiten bzw. für eine gute Konfliktlösung? Einfluss bei der Arbeit wurde durch Dichotomisierung einer Skala aus 3 COPSOQ-Items (Einfluss darauf, mit wem, was und wie viel man arbeitet) gebildet. Work-to-privacy-Konflikt wurde mittels zweier COPSOQ-Fragen zu Belastungen des Privatlebens aufgrund der Inanspruchnahme von Zeit und Energie durch die Arbeit parametrisiert (Tab. 1).

Nichtarbeitsbezogene Kovariaten waren Alter in den zwei Altersgruppen 1965 bzw. 1959, Gesundheit, gebildet durch Dichotomisierung der einfachen Frage aus dem SF12 (12-„Item-Short-Form“-Erhebungsinstrument) nach der gegenwärtig selbst eingeschätzten Gesundheit in „zufriedenstellend“ bis „sehr gut“ vs. „schlecht bis sehr schlecht“ sowie Einschätzung des finanziellen Frühberentungsspielraumes in Form der Frage, inwieweit man es sich leisten kann, vorzeitig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Beim Beschäftigungsverhältnis des Partners gab es zusätzlich zu den Kategorien Vollzeit, Teilzeit oder geringfügig noch „arbeitslos“ „in Rente“ oder „kein Partner“ (Tab. 1).

Statistische Auswertung

Assoziationen zwischen Geschlecht, Migrationsstatus sowie Bildung und der Wunsch nach vorzeitigem Erwerbsausstieg werden zunächst bivariat mittels Cramérs V und dann multivariat mittels hierarchischer logistischer Regression analysiert. Cramérs V liefert neben dem p-Wert zusätzlich die Information über die Stärke des Zusammenhangs für 2 dichotome Größen, welche wie ein Phi(φ)‑Korrelationskoeffizient interpretiert werden kann [35]. Im multiplen Modell wurde neben den unabhängigen Sozialvariablen für demografische (Alterskohorte), arbeitsbezogene (u. a. Arbeitsstress, physische Arbeitsbelastungen, Work-to-privacy-Konflikt) und nichtarbeitsbezogene Kovariaten bzw. mögliche Confounder adjustiert. Zudem erfolgte eine Testung auf Interaktion zwischen den arbeitsbezogenen und individuellen Kovariaten und den 3 unabhängigen Sozialvariablen in Bezug auf die Zielvariable vorzeitige Erwerbsausstiegsmotivation. Mit der Interaktionstestung wurde untersucht, ob die Kovariaten die Assoziation zwischen unabhängiger und abhängiger Variable beeinflussen und ob ggf. eine für die interagierende Kovariate stratifizierte Analyse angebracht ist. Die Regressionsmodelle wurden auf Basis eines mittels der „Fully-conditional-specification“(FCS)-Methode multiple imputierten (MI) Datensatzes analysiert. Mit der FCS-Methode ist die Imputation sowohl parametrischer und nichtparametrischer stetiger sowie auch kategorialer Items durch die Anwendung verschiedener Regressionsverfahren möglich. Wie von Graham et al. [9] für Fraktionen fehlender Werte von weniger als 30 % empfohlen, wurden für die vorliegende Analyse 20 Imputationsdatensätze erzeugt, die anschließend separat analysiert und durch Mittelung zu gemeinsamen Effektschätzern zusammengeführt wurden (detaillierte Verfahrensbeschreibung: [21, 32]). Mithilfe der Statistiksoftware SPSS 24 erfolgten MI und Analyse.

Ergebnisse

Deskription und bivariate Analyse

In der bivariaten Analyse (Tab. 1) fanden sich für alle 3 Sozialparameter hinsichtlich des Wunsches, vor dem 65. Lebensjahr in den Ruhestand zu gehen, signifikante Unterschiede: Konkret war der Anteil der Arbeitnehmer, welche angaben, vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden zu wollen, bei den Männern kleiner als bei den Frauen (83,9 vs. 87,6 %, p = 0,001). Dieser Anteil war auch bei Beschäftigten mit 1G-Migrationshintergrund mit 80,7 % niedriger (p = 0,018) als bei denen mit 2G-Migrationshintergrund (86,6 %) bzw. bei denen ohne Migrationshintergrund (86,3 %). Zudem fand sich ein ausgeprägter Sozialgradient: Beschäftigte mit hohem Bildungsstand wollen zu einem signifikant geringeren Teil (77,2 %) vor dem 65. Lebensjahr aus dem Arbeitsleben ausscheiden als solche mit einem mittleren (87,7 %) oder einem niedrigen Bildungsstand (90,2 %).

Zusätzlich fanden sich auch für einige arbeitsbezogene sowie nicht unmittelbar arbeitsbezogene Kovariaten in der bivariaten Analyse signifikante Unterschiede in Bezug auf die Erwerbsausstiegsmotivation (Tab. 1). Konkret waren Voll- oder Teilzeitbeschäftigung, hoher Arbeitsstress, als gering eingeschätzte Führungsqualität des Vorgesetzten, geringer Einfluss bei der Arbeit, schlechte Gesundheit und, sich den vorzeitigen Erwerbsausstieg finanziell leisten zu können, häufiger mit dem Wunsch eines vorzeitigen Erwerbsausstiegs verbunden.

Multiple Analyse

In der hierarchischen logistischen Regression ließen sich die in der bivariaten Analyse beobachteten Assoziationen zwischen den drei Sozialparametern und der Erwerbsausstiegsmotivation reproduzieren. Auch hier fand sich ein Bildungsgradient bezüglich der Erwerbsausstiegsmotivation. Konkret ist die Chance weniger gebildeter Beschäftigter, vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden zu wollen, höher. Auch der Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und dem vorzeitigem Erwerbsaustiegswunsch ließ sich im Basismodell (Modell 1) sowie nach Einbezug der arbeitsbezogenen (Modell 2) und nichtarbeitsbezogen Variablen (Modell 3) in der logistischen Regression wiederfinden (Tab. 2). Demnach sind die Unterschiede bezüglich des Wunsches nach vorzeitigem Erwerbsausstieg zwischen Arbeitnehmern mit 1G-Migrationshintergrund zu denen ohne Migrationshintergrund sowie zu Personen mit 2G-Migrationshintergrund unabhängig von den einbezogenen soziodemografischen, arbeitsbezogenen und nichtarbeitsbezogenen Merkmalen.

Tab. 2 Vertikale und horizontale soziale Ungleichheit und gewünschter Erwerbsverbleib (<65 Jahre vs. ≥65 Jahre) in der hierarchischen logistischen Regressiona

Im vollsaturierten multiplen logistischen Modell (Tab. 2) blieben von den arbeitsbezogenen Variablen nur Arbeitsstress, die Art des Beschäftigungsverhältnisses sowie der Einfluss auf die Arbeit signifikante Einflussgrößen auf den intendierten vorzeitigen Erwerbsausstieg. Konkret führen höherer Arbeitsstress sowie geringerer Einfluss auf die Arbeit zu einer Erhöhung des vorzeitigen Erwerbsausstiegswunsches, wohingegen geringfügige oder Teilzeitbeschäftigung nach Korrektur für Kovariaten wie die finanzielle Möglichkeit zur Frühberentung mit einer Reduzierung einhergingen.

Bei den nichtarbeitsbezogenen Kovariaten waren im multiplen Modell folgende Assoziationen beobachtbar (Tab. 2): Der fehlende finanzielle Spielraum zur Frühberentung sowie Partnerlosigkeit gingen mit einer vergleichsweise niedrigeren Chance für den Wunsch nach vorzeitigem Erwerbsausstieg einher. Insgesamt erklärte Modell 3 einen höheren Teil der Varianz als Modell 1.

Bei der Untersuchung auf Interaktionen zwischen unabhängigen Sozialvariablen sowie Kovariaten in Bezug auf vorzeitigen Erwerbsausstiegswunsch fand sich eine statistisch auffällige Interaktion zwischen Migrationshintergrund und Bildung. Nach Stratifizierung für die 3 Bildungsgruppen war der signifikante Unterschied im Risikoschätzer zwischen Beschäftigten mit 1G-Migrationshintergrund und denen ohne Migrationshintergrund nur noch in der Gruppe der Arbeitnehmer mit dem niedrigsten Bildungsstand beobachtbar (Abb. 1). Dieser Migrationsunterschied im untersten Bildungsstratum blieb auch nach Adjustierung für arbeitsbezogene und nichtarbeitsbezogene Kovariaten bestehen (Tab. 3), war also offenbar auch in dieser Bildungsschicht nicht durch arbeitsbezogene oder nichtarbeitsbezogene Faktoren (z. B. „es sich finanziell nicht leisten können, frühzeitig in Rente zu gehen“ oder Unterschiede in der selbst eingeschätzten Gesundheit) erklärbar.

Abb. 1
figure 1

Verteilung des vorzeitigen Erwerbsausstiegswunsches bei älteren Arbeitnehmern mit und ohne Migrationshintergrund nach Bildungsstand in der lidA-Stichprobe. 1G 1. Generation (im Ausland geboren), 2G 2. Generation (selbst in Deutschland und mindestens ein Elternteil im Ausland geboren)

Tab. 3 Migrationshintergrund und gewünschter Erwerbsverbleib (<65 Jahre vs. ≥65 Jahre) bei niedrigem Bildungsstand in der hierarchischen logistischen Regressiona

Diskussion

Durch Merkmale der horizontalen und der vertikalen sozialen Ungleichheit gekennzeichnete Gruppen unterscheiden sich nach den vorliegenden Analysen in ihrem Wunsch nach vorzeitigem Erwerbsausstieg.

Horizontale soziale Ungleichheit

Geschlecht

Weibliche Beschäftigte wollen zu einem signifikant höheren Anteil vor dem 65. Lebensjahr aus dem Erwerbsleben aussteigen als männliche (Tab. 1). Nach Adjustierung für nichtarbeitsbezogene und arbeitsbezogene Kovariaten ist dieser Effekt des Geschlechts in Bezug auf vorzeitigen Erwerbsausstiegswunsch in der schrittweisen logistischen Regression noch deutlicher zu erkennen. Die Studienlage zur Rolle des Geschlechts in Bezug auf die Häufigkeit des Wunsches nach vorzeitigem Erwerbsausstieg ist inkonsistent. Während einige Studien in Übereinstimmung mit den vorliegenden Ergebnissen häufiger bei weiblichen Beschäftigten den Wunsch nach vorzeitiger Erwerbsaufgabe als bei männlichen verzeichneten (z. B. [29]), fanden andere Studien eine umgekehrte (z. B. [25]) oder aber keine geschlechtsspezifische Assoziation (z. B. [14]). Der Umstand, dass das durchschnittliche Alter in Partnerschaften bei Männern höher als bei Frauen ist und Paare häufig zeitglich in Rente gehen wollen, wurde als Erklärung für den Wunsch von Frauen, vorzeitig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, herangezogen [10]. In der vorliegenden Analyse war nach Adjustierung für das Beschäftigungsverhältnis des Partners der Geschlechterunterschied in der Erwerbsausstiegstendenz noch ausgeprägter (Tab. 2), und in der Interaktionsanalyse fand sich kein Zusammenhang zwischen Geschlecht und Beschäftigungsverhältnis des Partners in Bezug auf das geplante Erwerbsausstiegsalter. Das mag daran liegen, dass in der hier untersuchten Altersgruppe die sich bereits in Rente befindlichen Partner dies zum großen Teil aufgrund von Erwerbsminderung sein dürften und andere zwischengeschlechtliche Mechanismen eine Rolle spielen als bei der Altersberentung. Möglicherweise liegt das aber auch daran, dass sich in der untersuchten Babyboomer-Generation klassische Rollenvorstellungen der älteren Generation bereits auflösen und weniger starke gleichzeitige Berentungsbestrebungen unter den Partnern bestehen. Eine weitere mögliche Erklärung für die Geschlechtsunterschiede wäre, dass Frauen einen geringeren Bezug zur Arbeit als Männer haben bzw. einen stärken Bezug zum sozialen Umfeld, einschließlich Familie [17]. Schließlich ist zu bedenken, dass die untersuchten Frauen in der Babyboomer-Generation in Deutschland den Großteil ihres Lebens von einem für Frauen niedrigeren Renteneintrittsalter ausgegangen sind; erst 1992 wurde es dem für Männer angeglichen, auf damals 65 Jahre. Auch wenn dies zum Zeitpunkt der Befragung (2014) bereits 22 Jahre zurücklag, ist anzunehmen, dass die gesellschaftlichen Erwartungen nach wie vor in der hiesigen Erwerbsausstiegskultur präsent und prägend sind. Dass die Ausstiegspläne gerade bei Frauen nicht immer mit dem realen Erwerbsausstieg übereinstimmen müssen, zeigt Engstler ([8], im vorliegenden Schwerpunktheft): Frauen verweilen demnach in Deutschland signifikant häufiger länger als geplant im Arbeitsleben, als dies bei Männern der Fall ist.

Migrationshintergrund

Hinsichtlich des Sozialmerkmals Migrationshintergrund war zu beobachten, dass Arbeitnehmer mit 1G-Migrationshintergrund häufiger nach dem 65. Lebensjahr aus dem Erwerbsleben ausscheiden wollen als Arbeitnehmer ohne Migrationshintergrund bzw. mit 2G-Migrationshintergrund; die Beobachtung in letzterer Gruppe könnte im Sinn einer Angleichung an hiesige Verhältnisse interpretiert werden. Allerdings fand sich nach Stratifizierung nach dem Bildungsstand der Unterschied in der Erwerbsausstiegsmotivation bei Arbeitnehmern mit 1G-Migrationshintergrund nur noch in der Gruppe mit geringer Bildung wieder. Die hierarchische logistische Regression nur für das unterste Bildungsstratum erbrachte hingegen keinen Hinweis darauf, dass sich dieser Unterschied zwischen bildungsniedrigen Personen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu den gering gebildeten Arbeitnehmern ohne Migrationshintergrund durch die einbezogenen Kovariaten erklären ließen. Offenbar kennen und verstehen wir die Erwerbsperspektiven der (ja äußerst heterogenen) Gruppe der älteren Erwerbstätigen mit Migrationshintergrund noch viel zu wenig. Hier wären weitere spezifische – auch qualitative – Studien angebracht, wie bereits Phillipson und Smith [19] sowie Hasselhorn und Apt [11] festgestellt haben.

Vertikale soziale Ungleichheit

Schließlich ermittelte die vorliegende Untersuchung einen Sozialgradienten in der Beziehung von Bildungsstand und Wunsch nach vorzeitigem Erwerbsausstieg. Die Beobachtung, dass Erwerbspersonen mit niedrigem Bildungsstand zu einem höheren Anteil vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden wollen, war in zweierlei Hinsicht erwartungstreu: Sie bestätigt zum einen Ergebnisse früherer Studien [25, 29, 33]. Zum anderen spielt Bildung hierzulande eine Schlüsselrolle zum Erreichen einer besseren beruflichen Position. Studien, die mit abnehmender beruflicher Klasse zunehmende Erwerbsausstiegsintentionen fanden (z. B. [34]), weisen damit in die gleiche Richtung wie die vorliegenden Ergebnisse. Nun ist Bildung oft auch Voraussetzung für das Erwirtschaften eines bestimmten Einkommens. Ein niedriges Einkommen könnte jedoch ein Grund sein, länger im Erwerbsleben verbleiben zu wollen (bzw. zu müssen), weil damit geringere Rentenzahlungen einhergehen können, und man es sich aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht leisten kann, frühzeitig in Rente zu gehen. Aus diesem Grund wurde im multiplen Modell für die Variable „es sich leisten können, vorzeitig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden“ adjustiert, welche, wiederum erwartungstreu, bei denen, die es sich nicht leisten können, eine geringere Chance, vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden zu wollen, aufzeigte. Auch nach Adjustierung für diese Variable war der Bildungsstand ein signifikanter Prädiktor für die Motivation zum vorzeitigen Erwerbsausstieg. Nach Hinzunahme von arbeitsbezogenen und nichtarbeitsbezogenen Kovariaten zeigte sich keine Verringerung des Risikoschätzers von Bildung auf den Wunsch zum Erwerbsaustieg vor 65 Jahren, was ein Hinweis auf eine Mediation durch die Kovariaten gewesen wäre. Außer mit Migrationshintergrund (s. oben) fanden sich auch keine weiteren Interaktionen des Bildungsstands mit anderen arbeitsbezogenen und nichtarbeitsbezogenen Variablen. Auch diese Beobachtung ist bemerkenswert, da es ja durchaus vorstellbar wäre, dass sich soziale Unterschiede in dem Wunsch, vor 65 aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, z. B. durch schichtspezifisch unterschiedliche Arbeitsbeanspruchungen, erklären ließen. Bezüglich der hier einbezogenen Kovariaten stellt sich Bildung in der vorliegenden Analyse allerdings als unabhängiger Prädiktor für den frühzeitigen Erwerbsausstiegswunsch dar.

In die Analyse waren neben den 3 Variablen der vertikalen und horizontalen sozialen Ungleichheit auch arbeitsbezogene und nichtarbeitsbezogene Einflussgrößen signifikant mit einem vorzeitigen Erwerbsausstiegswunsch assoziiert. Diese Assoziationen werden durch die Ergebnisse vorangegangener Untersuchungen gestützt. In Übereinstimmung mit den vorgestellten Ergebnissen gingen in vorangegangenen Studien hoher Arbeitsstress [25, 34] und geringe selbst eingeschätzte Gesundheit [25] mit hohem frühzeitigen Erwerbsausstiegswunsch einher. Gesundheit war in dieser Analyse im multiplen Modell allerdings nicht mehr signifikant mit dem Erwerbsausstiegswunsch assoziiert und wurde wahrscheinlich durch Unterschiede in anderen Kovariaten bereits hinreichend erklärt (z. B. Bildungsstatus, ERI [6]). Teilzeitbeschäftigung [4], hohe Entscheidungsfreiheit bei der Arbeit [5], Partnerlosigkeit [33] oder, sich einen vorzeitigen Erwerbsausstieg nicht leisten können, waren negativ mit dem Wunsch, vorzeitig aus dem Erwerbsleben auszusteigen, assoziiert. Diese Zusammenhänge erscheinen auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten plausibel und könnten, für sich genommen, falls sie in weiterführenden Analysen verifiziert werden, zur förderlichen Gestaltung künftiger Arbeitsverhältnisse beitragen, um den Wunsch zum Erwerbsverbleib zu erhöhen. Primäres Anliegen dieser Untersuchung war es jedoch nicht, den Einfluss von arbeitsbezogenen und nichtarbeitsbezogenen Variablen auf den vorzeitigen Erwerbsausstiegswunsch zu untersuchen, sondern die Frage, ob arbeitsbezogene Variablen Unterschiede sozialer Gruppen in dem Erwerbsausstiegswunsch erklären können.

Stärken und Limitationen der Studie

Stärken der Untersuchung liegen in der großen Teilnehmerzahl der lidA-Studie, dem Umstand, dass es sich um einen deutschlandweiten repräsentativen Querschnitt aus allen Bereichen sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung handelt, in der Altershomogenität des Samples bei der Untersuchung dieser alterssensiblen Fragen sowie in der Möglichkeit, im Rahmen dieser Analyse zahlreiche arbeitsbezogene und nichtarbeitsbezogene Faktoren in Bezug zur Fragestellung zu berücksichtigen.

Limitationen bestehen in der primären Responserate in der ersten Welle der lidA-Studie von 27,3 % und einer Kooperationsrate von 32,6 % (RR5/COOP3 [„Response Rate“ 5/„Cooperation Rate“ 3] gemäß American Association for Public Opinion Research, [30]). Allerdings handelt es sich hierbei um ein relativ strenges Verfahren der Berechnung der Response- bzw. Kooperationsraten, bei dem im Zähler nur die vollständigen Interviews berücksichtigt werden, im Nenner aber zusätzlich die unvollständigen Interviews und die Teilnahmeverweigerungen, bei RR5 darüber hinaus u. a. die erfolglosen Kontaktaufnahmen. Die Teilnahmeverweigerungsrate betrug indes nur 55,6 %. Hinsichtlich der Frage der Repräsentativität des Samples zu Welle 2 könnte zudem relevant sein, dass der „lost to follow-up“ zwischen Wellen 1 und 2, bei Männern und auch bei Beschäftigten mit Migrationshintergrund in der 1G höher war. Im letzteren Fall war der Unterschied besonders deutlich: Während bei Personen in einem Beschäftigungsverhältnis zu Welle 1 ohne Migrationshintergrund noch von 66,2 % Angaben zu Welle 2 vorlagen, waren es bei denen mit 1G-Migrationshintergrund nur 50,3 %, während die mit 2G-Migrationshintergrund mit 67,8 % leicht überrepräsentiert waren. Ein Abgleich des Samples zu beiden Studienwellen bezüglich unterschiedlicher soziodemografischer Merkmale zeigte zwar eine hohe Übereinstimmung der Stichprobe zur IEB-Grundgesamtheit, d. h. zur sozialversicherten Erwerbsbevölkerung der beiden Jahrgänge [22, 28], eine Verzerrung durch die relativ geringe Teilnahmerate insbesondere der Beschäftigten mit 1G-Migrationshintergrund kann jedoch nicht ausgeschlossen werden. Die möglicherweise eingeschränkte Generalisierbarkeit der Ergebnisse auf alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigte der Jahrgänge 1959 und 1965 ist bei der Interpretation zu berücksichtigen. Bezogen auf alle Beschäftigte dieser Jahrgänge in Deutschland ist bezüglich einer Verallgemeinerbarkeit weiterhin zu berücksichtigen, dass sich der Anteil von Beschäftigten, welche einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, bei Personen mit und ohne Migrationshintergrund unterscheiden kann. Weiterhin kann nicht ausgeschlossen werden, dass sprachliche Barrieren bei Beschäftigten mit Migrationshintergrund Einfluss auf das Antwortverhalten genommen haben.

Schlussfolgerung

Die vorgestellten Analysen bestätigen das Vorliegen klarer sozialer Unterschiede in Bezug auf die Erwerbsperspektive älterer Beschäftigter, und zwar sowohl in vertikaler (Bildung) wie auch horizontaler Richtung (Geschlecht, Migrationsstatus). Dass diese Unterschiede auch mit unterschiedlichem realen Erwerbsverbleib einhergehen, ist anzunehmen, kann aus den vorliegenden Ergebnissen jedoch nicht abgeleitet werden und bleibt künftigen Untersuchungen – auch innerhalb dieser Kohortenstudie – überlassen.

Die Identifikation von sozialen Gruppen mit dem Wunsch nach vorzeitigem Erwerbsausstieg und der zugrunde liegenden Mechanismen kann helfen, Erwerbsteilhabe im höheren Erwerbsalter besser zu verstehen. Auswirkungen gegenwärtiger politischer Bestrebungen zur Verlängerung der Erwerbsteilhabe verschiedener Erwerbsgruppen können damit besser abgeschätzt werden.

Der in dieser Untersuchung beobachtete Zusammenhang eines geringeren vorzeitigen Erwerbsausstiegswunsches von älteren Arbeitnehmern mit 1G-Migrationshintergrund und geringer Bildung könnte unter sozialpolitischen Gesichtspunkten interessant sein: Zum einen besteht, wie auch in dieser Untersuchung beobachtet, bei geringer gebildeten Arbeitnehmern ganz allgemein häufiger die Intention, vorzeitig aus dem Erwerbsleben auszusteigen (z. B. [25]) bzw. tatsächlich früher auszusteigen [31]. Auf der anderen Seite ist der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund in geringer gebildeten Schichten höher ([2], s. auch Beitrag von Brzoska und Razum im vorliegenden Themenheft).

Fazit

Gemäß den Ergebnissen dieser Untersuchung besteht aus Sicht der Autoren Forschungsbedarf bezüglich der Unterschiede im vorzeitigem Erwerbsausstiegswunsch zwischen älteren Arbeitnehmern mit 1G-Migrationshintergrund im Vergleich zu den anderen Arbeitnehmern sowie in Geschlechtsunterschieden in der Erwerbsausstiegsperspektive und deren letztendlichen Umsetzung. Zur Klärung beider Fragestellungen kämen sowohl qualitative als auch longitudinale quantitative Forschungsansätze unter Einbezug mehrerer Alterskohorten infrage. Mit letzterer Methodik könnte auch geklärt werden, wie sich Unterschiede in der Erwerbsausstiegsperspektive bei sozialen Gruppen aus unterschiedlichen Generationen über die Zeit verändern.