Zusammenfassung
Die meisten älteren Menschen möchten zu Hause wohnen bleiben und dort gepflegt werden. In Deutschland werden ca. 1,38 Mio. Menschen ohne professionelle Hilfe zu Hause gepflegt. Häusliche Pflege kann ein Risikofaktor für Gewalt gegen ältere Menschen sein. Das vorgestellte Projekt beschäftigt sich mit dem Thema aus der rechts- und sozialwissenschaftlichen Perspektive. Ziel ist die Entwicklung eines rechtlichen Rahmens, der hilfeorientierte Prävention und Intervention in der familialen Pflege Älterer durch öffentliche Institutionen und Gerichte beinhaltet. Nach Auswertung empirischer Daten zur Situation der häuslichen Pflege sollen die aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen untersucht werden. Darauf aufbauend sollen Empfehlungen für Verwaltung und Gesetzgebung unter Mitwirkung von Praktikern formuliert werden. Erste Befunde zeigen, dass die häusliche Pflege trotz verschiedener Beratungs- und Entlastungsangebote sowie Pflegeschulungen nicht immer sicher ist. Im Unterschied zur vorhandenen Gesetzgebung im Kindesschutz fehlen gesetzliche Vorschriften zu Gewalt in der familialen Pflege. Die zu erarbeitenden Empfehlungen an den Gesetzgeber sollen die Prävention bei Pflegeproblemen durch effizientere Unterstützung der Pflegenden stärken sowie hilfeorientierte Interventionen im Fall von Gewalt ermöglichen. Dabei muss allerdings dem hohen Stellenwert des Selbstbestimmungsrechts der/des Gepflegten Rechnung getragen werden.
Abstract
Most elderly people wish to remain and be cared for in their own home. Approximately 1.38 million people in Germany are cared for without professional support. However, domestic care by relatives can be a risk factor for violence against the elderly. This research project deals with the issue from a legal and social sciences perspective. The aim of the project is to develop a regulatory framework providing aid-oriented prevention and intervention in the family care of vulnerable elderly people by public agencies and courts. Firstly, empirical data on the situation in family care will be analyzed; secondly, the existing legal framework will be examined. In a third step, recommendations for legislation and administration will be developed in collaboration with practitioners. Initial findings show that, although various support, advice, and training services exist, the situation at home is not always safe. There is a lack of legal regulation on the issue of abuse in the family care setting, especially compared with German legislation on child protection. Thus, the legal framework should reinforce the prevention of care problems by giving more efficient support to carers and permitting legal intervention in the case of abuse. However, at the same time, the proposed legislation should take into account the importance of the individual’s right to self-determination.
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Das Projekt „Interdisziplinäre Untersuchung zu Rechtsschutzdefiziten und Rechtsschutzpotenzialen bei Versorgungsmängeln in der häuslichen Pflege alter Menschen (VERA)“ zielt auf die Formulierung von Empfehlungen an Gesetzgebung und Verwaltung zur Verbesserung des Rechtsschutzes für alte Menschen und ihre pflegenden Angehörigen. Basis ist eine umfassende Bestandsaufnahme verfügbarer Daten zu Versorgungsmodalitäten und -mängeln (Gewalt und Vernachlässigung) sowie die Sichtung einschlägiger Rechtsschutzmöglichkeiten und -defizite. Das Thema „Gewalt in der familialen Pflege“ wird hier erstmals aus rechtlichem Blickwinkel aufgegriffen. Der Problemkreis ist zwar zunehmend Gegenstand von Forschungs- und Modellprojekten. Diese befassen sich aber zumeist mit außerrechtlichen Fragen der Wahrnehmung von Gewaltformen, -risiken und -folgen sowie der Beratung und Schulung bei Pflegeproblemen.
Ausgangslage und empirische Annäherung
Fast drei Viertel (73 %) der heute ca. 2,86 Mio. Pflegebedürftigen, also mehr als 2,08 Mio. Menschen, werden – nach der Pflegestatistik 2015 [22] – in der Familie gepflegt und davon wiederum 1,38 Mio. allein durch Angehörige ohne professionelle Hilfe. Hinzu kommen geschätzte 3 Mio. Menschen, die in der Familie versorgt werden, ohne Leistungen aus der Pflegeversicherung zu beziehen [21]. Die häusliche Versorgung entspricht den Wünschen der meisten Betroffenen, wie sich jüngst auch aus der Frankfurter Studie Hier will ich wohnen bleiben [18] wieder klar ergeben hat. Zudem ist die häusliche Pflege sozialpolitisch erwünscht; denn sie ist wesentlich „kostengünstiger“ als jede institutionelle Versorgung. EhepartnerInnen, Töchter und Schwiegertöchter, Söhne und Schwiegersöhne unterstützen, versorgen und pflegen ihre alten Angehörigen durchweg unentgeltlich und mit großem persönlichem Einsatz – ohne spezifische (familien-)rechtliche Verpflichtung.
Doch die Betreuung zu Hause führt Pflegende und Gepflegte vielfach an die Grenzen ihrer körperlichen und psychischen Belastbarkeit sowie zu sozialer Isolation [5, 7, 12]. Daraus können sich – insbesondere im Zusammenhang mit familialen Konflikten, hohem Aggressionspotenzial oder „Bewältigungsversuchen“ durch Alkohol oder Drogen – massive Probleme in der Versorgung, auch in Form von Gewalt gegen die Gepflegten, ergeben. Gewalt meint hier im Sinne der World Health Organization (WHO, [23]) „eine einmalige oder wiederholte Handlung oder ein Fehlen einer gebotenen Handlung, innerhalb einer jedweden Beziehung, in der Vertrauen erwartet wird, die bei einer älteren Person zu Schädigung oder Leid führt“.
Repräsentative Daten liegen dazu bislang nicht vor; hier ist dringender Forschungsbedarf anzuzeigen. Private Notrufinitiativen, Verbände und Medien machen seit geraumer Zeit darauf aufmerksam, dass Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung in der häuslichen Versorgung keine seltene Ausnahme darstellen. Erste empirische Studien bestätigen dies [10] und weisen darauf hin, dass zu den bekannt werdenden Fällen eine erhebliche Anzahl im Dunkelfeld hinzuzurechnen ist, was auch durch internationale Studien bekräftigt wird [6, 11, 13, 16, 19].
Die institutionelle Versorgung und Pflege alter Menschen ist insoweit bereits Gegenstand der rechtspolitischen Diskussion – wie auch die jüngsten Neuregelungen des Heimrechts in den Ländergesetzen zeigen. Nicht weniger dringend stellt sich indes die Frage, inwieweit das Recht den Schutzbelangen versorgungs- und pflegebedürftiger alter Menschen und damit auch dem Rechtsschutz für Pflegende in der weit überwiegenden häuslichen Versorgung besser Rechnung tragen kann und muss [8, 9, 14, 15, 24, 25]. Dieser Frage soll die hier skizzierte Untersuchung „VERA“ in drei Schritten nachgehen.
Projektphasen
Bestandsaufnahme zur Situation der familialen Versorgung und ihrer Mängel
Dieser erste Schritt umfasst eine interdisziplinäre Literaturanalyse, in deren Fokus Pflege- und Versorgungsmängel sowie „gefährliche Pflegesituationen“ mit Folgeschäden für die gepflegte Person stehen. Diese können in sehr unterschiedlichen Formen auftreten (z. B. körperliche/seelische Misshandlung; Vernachlässigung elementarer Bedürfnisse der Ernährung, Bewegung, Körperpflege, ärztlichen Behandlung, Ansprache; freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie Einschließung und Fixierung; finanzielle Ausbeutung). Zudem werden Risikofaktoren für derartige Versorgungsmängel adressiert, wie Überlastung/Überforderung der Pflegenden, biografisch bedingte Beziehungskonflikte, hohes Aggressionspotenzial aufseiten der Pflegenden/der Pflegebedürftigen und problematische Bewältigungsversuche (Alkohol-, Drogenkonsum). Schließlich werden risikoerhöhende oder -vermindernde Umstände und soziale Rahmenbedingungen der Pflege thematisiert. Das sind insbesondere Art und Grad der Pflegebedürftigkeit (Multimorbidität, körperliche Einschränkungen, Demenz), Beziehung der Pflegenden zu der/dem Pflegebedürftigen (z. B. Partnerschaft, Verwandtschaft, Schwägerschaft), finanzielle, soziale und gesundheitliche Situation der Pflegeperson sowie deren weitere Verpflichtungen (Erwerbstätigkeit, Sorge für Kinder und PartnerIn) und Zuständigkeit als gesetzliche/r BetreuerIn. Insoweit wird an die Befunde aus einschlägigen deutschen Forschungsprojekten wie Sicher leben im Alter (SiLiA, [2]), Monitoring in Long-Term-Care – Pilot Project on Elder Abuse (MILCEA, [17]), Potenziale und Risiken in der familialen Pflege alter Menschen (PURFAM, [25]), Safer Care [1] oder Reduktion von Fixierung (ReDuFix, [20]) angeknüpft.
Sichtung und Analyse von vorhandenem Rechtsschutz und -defiziten
Im zweiten Schritt werden auf der Grundlage des geltenden Rechts die vorhandenen Möglichkeiten zum Schutz vor Gewalt und Vernachlässigung analysiert und die verbleibenden Schutzlücken herausgearbeitet. Dazu sind Gesetzgebung, Rechtsprechung und rechtswissenschaftliche Literatur umfassend auszuwerten.
Empfehlungen zur Verbesserung des Rechtsschutzes in der familialen Pflege alter Menschen
Den dritten Schritt bildet schließlich die Entwicklung von Empfehlungen an Gesetzgebung und Verwaltung zur Verbesserung des Rechtsschutzes in der familialen Pflege alter Menschen. Zu prüfen ist dabei, ob und inwieweit gesetzgeberische und verwaltungsrechtliche Maßnahmen – ausgehend von den festgestellten Defiziten – sinnvoll wären. Denkbar wären etwa Maßnahmen zur Ergänzung sowie effizienteren Ausgestaltung vorhandener gesetzlicher Unterstützung, Beratung und Kontrolle. In Betracht kommt außerdem die Schaffung gesetzlicher Grundlagen für behördliche und (familien-)gerichtliche Zuständigkeiten für Ermittlungen und hilfeorientierte Maßnahmen sowie zur Vernetzung vorhandener Hilfe-, Beratungs- und Kontrollinstitutionen durch Informations-, Beratungs- und Kooperationsregelungen oder auch innerhalb eines „Pflegemix“.
Diskussion
Der Staat ist verpflichtet, sich schützend vor den versorgungsabhängigen, pflegebedürftigen alten Menschen zu stellen und hat grundsätzlich dafür Sorge zu tragen, dass dieser vor Gewaltanwendung geschützt wird. Ausgangspunkt ist insoweit – wie auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wiederholt ausgeführt hat –, dass das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetztes (GG) den Einzelnen nicht nur vor entsprechenden staatlichen Eingriffen schützen soll, sondern dass die Grundrechte den Staat und seine Organe auch dazu verpflichten, sich schützend vor seine Bürger zu stellen [3]. Die Aufstellung und die normative Umsetzung eines Schutzkonzepts sind Sache des Gesetzgebers, dem grundsätzlich auch dann ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt, wenn er dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen [4]. Dabei hat der Gesetzgeber bereits eine Reihe von Gesetzen erlassen, die gerade auch dazu beitragen sollen, den Schutz alter und gebrechlicher Menschen zu gewährleisten. Hervorzuheben sind insoweit auch die jüngsten Gesetzesreformen, die den Begriff der Pflegebedürftigkeit grundlegend erneuert und den Ausbau der gesetzlich vorhandenen Leistungen erweitert haben. Dennoch fehlt es nach wie vor an einem in sich geschlossenen Normgefüge, welches Gefährdungen in der häuslichen Pflege wirksam vorbeugt, gezielt zur Aufdeckung von Gewalt und Vernachlässigung beitragen kann und als Ultima Ratio auch hilfeorientierte Interventionen erlaubt. Das hier vorgestellte Forschungsprojekt stützt sich insoweit auf die These, dass es zur Effektivierung eines wirksamen Schutzes vor Gefährdungen in der häuslichen Pflege weiterer gesetzlicher Regelungen bedarf.
Dabei liegt der Blick auf den rechtlichen Versorgungs- und Gewaltschutz in anderen Bereichen nahe – insbesondere der Blick auf den Kinderschutz [26,27,28]. Die familiale Betreuung von Kindern und ihre Mängel in Form einer „Gefährdung des Kindeswohls“ (insbesondere durch Misshandlung und Vernachlässigung) sind seit Langem Gegenstand von Wissenschaft, Recht und Politik. Kinderschutzgesetze und -institutionen sind gerade in den letzten Jahren kontinuierlich diskutiert und weiterentwickelt worden. Für Eltern sind umfassende Rechtsansprüche auf Beratung und Erziehungshilfen geschaffen worden; für den Fall, dass das Kindeswohl gefährdet ist und Hilfeangebote allein nicht greifen, bestehen Kontroll- und Interventionsmöglichkeiten durch Jugendämter und Familiengerichte.
Alte Menschen sind zwar nicht „wie Kinder“, sie sind im hohen Alter und insbesondere bei Versorgungs- und Pflegebedürftigkeit aber ähnlich wehrlos und verletzlich. Daher können entsprechende konzeptionelle Überlegungen vielfältige Anregungen aus der Entwicklung des modernen Kinderschutzrechts aufnehmen. Freilich müssen dabei notwendige Differenzierungen im Auge behalten werden. Insbesondere haben mündige erwachsene Menschen im Unterschied zu Kindern das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, das auch Gefährdungen einschließen kann. Besondere Beachtung verdient die Tatsache, dass das Spektrum möglicher Hilfen für alte Menschen im Vergleich zu Kindern spezifische Begrenzungen aufweisen kann, so z. B. im Fall von Demenzerkrankungen. Schließlich können Eingriffe in die verfassungsrechtlich geschützte Privatsphäre der Familie nur unter strikter Abwägung mit den individuellen Schutzbelangen geregelt werden. Indes ist auch insoweit die Parallele zum Kindesschutz offensichtlich, wo das staatliche Wächteramt und das verfassungsrechtlich geschützte Elternrecht miteinander in Einklang zu bringen sind.
Fazit
Zur Überprüfung der beschriebenen Perspektiven und entsprechender Empfehlungen an den Gesetzgeber bedarf es rechtswissenschaftlicher und -politischer Überlegungen in engem Bezug zu den sozialwissenschaftlichen Befunden und unter Einbeziehung einschlägiger Praxiserfahrung aus Wohlfahrtsverbänden und Verwaltung.
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Förderung
Das Projekt wird von dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pflege gefördert.
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Interessenkonflikt
A. Schwedler, N. Konopik, L. Heber, M. Wellenhofer, F. Oswald, G. Zenz und L. Salgo geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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Der vollständige Titel des Forschungsprojekts lautet: Interdisziplinäre Untersuchung zu Rechtsschutzdefiziten und Rechtsschutzpotenzialen bei Versorgungsmängeln in der häuslichen Pflege alter Menschen (VERA).
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Schwedler, A., Konopik, N., Heber, L. et al. Gewalt gegen alte Menschen in häuslicher Pflege. Z Gerontol Geriat 50, 294–297 (2017). https://doi.org/10.1007/s00391-017-1232-4
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