Hintergrund

Die Gruppe der älteren Menschen mit Migrationshintergrund ist die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Schätzungen zufolge wird der Anteil aller über 65-jährigen Migranten von 9,4 % im Jahr 2011 auf 15,1 % im Jahr 2032 ansteigen [4].

Personen türkischer HerkunftFootnote 1 stellen innerhalb der Bevölkerung mit Migrationshintergrund die größte Gruppe dar. Zwar ist die Altersstruktur in dieser Bevölkerungsgruppe mit 6,2 % der über 65-Jährigen derzeit noch vergleichsweise jung (Anteil der über 65-Jährigen in der deutschen Bevölkerung: 23,6 %), ein demografischer Wandel zeichnet sich jedoch analog zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung auch hier ab. Entgegen früherer Erwartungen sind viele der türkischen Arbeitsmigranten aus der ersten Zuwanderungsgeneration nicht in ihre Heimatländer zurückgekehrt, sondern werden jetzt in Deutschland alt [17].

Angesichts dieser demografischen Entwicklung gewinnt die Demenz als eine vorwiegend altersassoziierte neurodegenerative Erkrankung auch in der Bevölkerungsgruppe mit türkischem Migrationshintergrund zunehmend an Bedeutung [8]. Zur Anzahl demenzkranker Menschen mit Migrationshintergrund liegen derzeit keine validen Angaben vor; geschätzt wird, dass etwa 120.000 Menschen mit Migrationshintergrund insgesamt von einer Demenz betroffen sind [21]. Eine Gliederung der einzelnen Migrationsgruppen nach Herkunftsländern fehlt, sodass für die Gruppe der Menschen türkischer Herkunft keine Angaben zu Inzidenz und Prävalenz von Demenzen möglich sind.

Demenzielle Erkrankungen sind durch die fortschreitenden kortikalen Beeinträchtigungen und den damit einhergehenden Autonomieverlust eine der Hauptursachen für die Pflegebedürftigkeit. Die häusliche Versorgung eines Menschen mit Demenz ist für die versorgenden Angehörigen besonders zeitintensiv und belastend [10, 15]. Über das Belastungserleben türkischer Familien ist bekannt, dass die pflegenden Angehörigen starken, psychischen, familiären und sozialen Belastungen ausgesetzt sind [5]. Dennoch werden insbesondere in türkischstämmigen Familien Angehörige mit Demenz nahezu ausnahmslos in der Häuslichkeit versorgt [7]. Die häusliche Pflege wird dabei genau wie in der deutschen Bevölkerung, zumeist von Müttern, Töchtern oder Ehefrauen geleistet [3, 27], die als ausführende Angehörige die wichtigste Ressource in der Versorgung von Menschen mit Demenz darstellen [3, 9, 13].

Kulturell und religiös verwurzelte Einstellungen prägen das türkische Familiensystem: Die Pflege und Betreuung eines erkrankten Angehörigen sowie die gegenseitige Unterstützung werden als essenzielle Bestandteile der jeweiligen Familienkonzepte gesehen [12]. Insbesondere ältere Menschen genießen große Wertschätzung und verlassen sich traditionell im Alter und insbesondere im Fall von Pflegebedürftigkeit auf das soziale Netz der Familie [27].

Dabei werden Versorgungsarrangements in türkischen Familien oftmals ohne Inanspruchnahme formeller Hilfen (z. B. in Form von Beratungs- und Unterstützungsleistungen) organisiert, und eine Heimeinweisung erfolgt in den seltensten Fällen [6, 7, 9, 13, 22].

Zugangsbarrieren zu formellen Hilfen sind u. a. in Informationsdefiziten und/oder Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten begründet. Aber auch die Sichtweise pflegender Angehöriger auf die Last der Versorgung als „gottgewollt“ und „schicksalshaft“ [13, S. 194] beeinflusst die Organisation der Versorgungsarrangements und wirkt sich hemmend auf die Inanspruchnahme formeller Hilfen aus.

Des Weiteren ist der Umgang türkischer Familien mit Demenz durch Scham und Tabuisierung gekennzeichnet und wird innerhalb der türkischen Gemeinschaft verspottet oder verschwiegen [18], sodass türkischstämmige Familien oftmals keine oder nur geringe Erfahrungen im Umgang mit Demenzen aufweisen [6].

Forschungsinteresse

Zu Übernahme und Organisation häuslicher Versorgungsarrangements von Angehörigen mit Demenz und zum Versorgungshandeln in türkischen Familien liegen nur wenig wissenschaftliche Erkenntnisse vor. Es ist jedoch anzunehmen, dass der Wandel gesellschaftlicher Strukturen (z. B. steigende Berufstätigkeit von Frauen, räumliche Distanz von Familienmitgliedern durch zunehmende Mobilität und evtl. auch eine abnehmende Pflegebereitschaft bei jüngeren Generationen) vermutlich auch in türkischen Familien bisher etabliertes Versorgungshandeln verändern wird [2, 3, 23]. Es stellt sich also die Frage, wie das deutsche Versorgungssystem angesichts eines erwarteten Anstiegs pflege- und betreuungsbedürftiger Personen türkischer Herkunft bei einem gleichzeitig angenommenen Rückgang von innerfamiliärem Pflege- und Betreuungspotenzial bedarfs- und bedürfnisgerecht reagieren kann. Für die Versorgungsforschung ergibt sich daraus die Aufgabe, zunächst die subjektiven Sichtweisen und dann auch die daraus resultierenden Bedürfnisse und Bedarfslagen zu eruieren, um Empfehlungen der Versorgungsgestaltung für diese spezielle Bevölkerungsgruppe ableiten zu können. An dieser Stelle setzt die vorliegende Studie an.

Ausgehend von der bis dato unzureichenden Datenlange bezüglich der Lebens- und Versorgungssituation von türkischstämmigen Menschen mit Demenz in Deutschland [13, 18, 24] wurde in der hier vorliegenden qualitativen Studie der Frage nachgegangen, welche aus Sicht der versorgenden Angehörigen die Kennzeichen und Besonderheiten bei der Übernahme und Organisation der häuslichen Versorgung sind, und wie Angehörige diese erleben.

Ethische Überlegungen

Die Studienteilnehmer wurden schriftlich und mündlich über das Erkenntnisinteresse und die Ziele der Untersuchung sowie über den Umgang mit personenbezogenen Daten (Datenschutzgesetz) informiert. Eine Einwilligung der Teilnehmer erfolgte im Sinne eines „informed consent“ [25]. Ein ethisches „clearing“ wurde von der Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V. (DGP) erteilt.

Methoden

Für das hier beschriebene Forschungsprojekt wurde eine explorativ qualitative Herangehensweise gewählt. Die Datenauswertung orientierte sich an den Prinzipien der Grounded theory [11, 20].

Die Datenerhebung erfolgte mithilfe teilstrukturierter, leitfadengestützter Interviews mit versorgenden Angehörigen eines Menschen mit Demenz aus türkischen Familien. Der Leitfaden wurde so strukturiert, dass sich das Gespräch vom Allgemeinen zum Spezifischen bewegen konnte. Ausgangspunkt stellte die Perspektive des versorgenden Angehörigen dar. Dem Kriterium der Offenheit entsprechend ([11], S. 138–142) wurde zum Gesprächseinstieg eine Frage mit erzählgenerierendem Stimulus gewählt:

Wie ist das so ist, wenn man einen Angehörigen mit Demenz zu Hause versorgt? Erzählen Sie doch mal, wie sich das alles ergeben hat.

In Anlehnung an die vorangegangenen Ausführungen des versorgenden Angehörigen wurde in der Nachfragephase spezifischer nach der Entwicklung und dem Erleben der Demenz, der Organisation der häuslichen Versorgungssituation und den Auswirkungen auf das eigene (Familien-)Leben gefragt. Am Ende des Gesprächs wurde der versorgende Angehörige im Ausblick um eine Gesamteinschätzung zur derzeitigen und zukünftigen Versorgung des Menschen mit Demenz gebeten. Zusätzlich wurden am Ende der Gespräche soziodemografische Daten erhoben.Footnote 2

Die Rekrutierung der Interviewteilnehmer gestaltete sich außerordentlich schwierig und langwierig. Obwohl der Zugang über zahlreiche verschiedene Schlüsselpersonen in ambulanten Pflegediensten, Selbsthilfegruppen für pflegende Angehörige mit türkischem Migrationshintergrund, Alzheimer-Gesellschaften, Demenz-Service-Zentren, Arbeiterwohlfahrtsverbänden etc. erfolgte, konnten auf diesem Weg lediglich 5 Interviewpersonen rekrutiert werden. Das „sample“ wurde deshalb über persönliche Kontakte im sozialen Umfeld der Erstautorin ergänzt. So konnten 2 weitere Interviewpartner gewonnen werden. Ein „theoretical sampling“ im Sinne der Grounded theory [20] war unter diesen Umständen im Rahmen der hier beschriebenen Studie nicht möglich.

Alle Interviews wurden in Deutsch geführt; die Dauer der Interviews variierte zwischen 30 und 120 min. Die Interviews wurden auf Tonband aufgezeichnet und vollständig transkribiert sowie anonymisiert.

Die systematische Auswertung der qualitativen Interviewdaten erfolgte unter Rückgriff auf die Codierprinzipien der Grounded theory [20]. Hierbei kamen hauptsächlich das offene Codieren (die Daten werden analytisch aufgeschlüsselt, und einzelne Phänomene werden zu Kategorien zusammengefasst) und das axiale Codieren (vorhandene Kategorien werden auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten hin untersucht) zum Einsatz. Dies ermöglichte die Entwicklung eines Kategoriensystems. Im Rahmen der Auswertung konnten weiter im Sinne des selektiven Codierens als dritter Codiertyp (eine zentrale Kernkategorie wird dargestellt und analysiert; [20]) Hinweise auf zentrale Merkmale der Übernahme und Organisation häuslicher Versorgungsarrangements eines Angehörigen mit Demenz in den untersuchten Familien generiert werden.

Über den gesamten Forschungsprozess wurden Memos angefertigt, um systematisch interpretative Gedanken zu sammeln und zu reflektieren. Zur intersubjektiven Nachvollziehbarkeit wurden der gesamte Forschungsprozess dokumentiert und die Ergebnisse der Auswertung immer wieder mit nicht direkt am Interpretationsprozess beteiligten Kollegen diskutiert und rückgekoppelt („peer debriefing“, [19]).

Ergebnisse

Es wurden insgesamt 7 Interviews geführt (Tab. 1). Zwei der Befragten waren männlich; die Alterspanne betrug zwischen 24 und 50 Jahre. Somit spiegeln die Ergebnisse die Sichtweisen von versorgenden Angehörigen der 2. und 3. Generation wider.

Tab. 1 Pflegende Angehörige (pA) 1–7, soziodemografische und pflegerelevante Merkmale

Der ethnische Hintergrund der befragten Personen umfasst sowohl Türken (n = 5) als auch Kurden (n = 2). Die Altersspanne der versorgten Menschen mit Demenz betrug zwischen 63 und ungefähr 85 Jahre; aufgrund fehlender Dokumente, z. B. Geburtsurkunden, waren teilweise keine genauen Angaben möglich. Die Versorgungsarrangements waren in Bezug auf Wohnsituation, Versorgungsdauer und Grad der Pflegebedürftigkeit (abgebildet in den Pflegestufen) recht heterogen. Einer Erwerbstätigkeit wurde, wenn überhaupt, in Teilzeit nachgegangen; hierbei befanden sich 2 der Befragten (3. Generation, Enkelkinder und keine Hauptpflegepersonen) in einem Studium. Lediglich in 2 der untersuchten Versorgungsarrangements wurden formelle Hilfen in geringem Umfang (z. B. Medikamentengabe) in Anspruch genommen.

Nachfolgend werden zentrale Ergebnisse dargestellt, die zu einem besseren Verständnis von türkischen Familien bei der Versorgung eines Angehörigen mit Demenz beitragen. Dabei werden die pflegenden Angehörigen mit pA und der entsprechenden Nummerierung aus Tab. 1 zitiert. Die Darstellung der Ergebnisse orientiert sich inhaltlich an den Konzepten und Kategorien (ohne konkrete Nennung dieser), die mithilfe der an der Grounded theory orientierten Analyse der Daten ermittelt werden konnten.

Hauptmerkmal (Kernkategorie) häuslicher Versorgungsarrangements in türkischen Familien

Versorgung wird selbstverständlich und bedingungslos übernommen

In allen Interviews wurde von den Angehörigen übereinstimmend die Selbstverständlichkeit einer bedingungslosen Übernahme und Organisation der häuslichen Versorgung eines demenziell erkrankten Familienmitglieds betont. Kennzeichnend ist, dass sich die Befragten keine Option einräumen, die Pflege und Versorgung abzulehnen (pA5: 24). Die Versorgungsarrangements seien „einfach entstanden“, und es herrscht die Auffassung vor, dass nur Familienangehörige als Hauptpflegepersonen für die Durchführung der Versorgung im häuslichen Umfeld infrage kämen. Eine (Teil-)Delegation dieser Rolle an „Fremde“ ist ausgeschlossen (pA5: 28), obwohl in den hier befragten Versorgungsarrangements neben der Pflege des Angehörigen mit Demenz häufig zusätzlich Kinder bzw. Enkelkinder betreut werden. Weiterhin wird für die Übernahme und Organisation der Versorgung innerhalb des befragten Sample beschrieben, dass selbstverständlich private Belange und berufliche Ziele zurückgestellt bzw. verworfen werden, um eine Rund-um-die-Uhr-Versorgung zu gewährleisten. Die befragten Angehörigen der 3. Generation innerhalb dieses Sample (pA2 und pA6), die als Enkelkinder der zu betreuenden Person mit Demenz derzeit nicht als Hauptpflegepersonen fungieren, stellen die jetzige Regelung allerdings infrage. Die Umsetzung beruflicher Pläne und Ziele wird von ihnen im Konflikt mit der Verantwortung für einen pflegebedürftigen Angehörigen gesehen.

Im Folgenden werden ausgewählte migrationsspezifische Kennzeichen und Eigenschaften dargestellt, die im Zusammenhang mit dem Hauptmerkmal der selbstverständlichen Übernahme und Organisation von Versorgungsarrangements relevant werden. Grundsätzlich beschreiben die befragten Angehörigen im Kontext ihrer Ausführungen immer wieder ihr Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe der türkischen Migranten (türkische Gemeinschaft) in Deutschland. Diese Zugehörigkeit in Abgrenzung zur deutschen Bevölkerung wird immer wieder auch als Begründung für Versorgungshandeln herangezogen „So läuft das bei uns Türken irgendwie ab“ (u. a. pA5: 37) und „Ich glaube, die Deutsche sind da ein bisschen anders“ (pA5: 37).

Demenz ist kein Einflussfaktor bei der Entscheidung zur Übernahme der Versorgung

Für die versorgenden Angehörigen in dieser Studie spielt das Vorliegen einer demenziellen Erkrankung bei der Entscheidung für die Übernahme der Versorgung keine Rolle. Alleiniges Entscheidungskriterium ist der Umstand, dass der Betroffene aus dem Familienkreis auf Hilfe angewiesen ist. Es zeigt sich aber auch, dass die Familien meist nicht auf die besonderen Bedarfslagen bei Demenz vorbereitet sind. Insbesondere der Umgang mit den Persönlichkeitsänderungen und sog. herausfordernden Verhaltensweisen – die befragten Angehörigen berichten hier von Aggressivität, Ängstlichkeit, Reizbarkeit, etc. der Menschen mit Demenz- (u. a. pA4: 13) wird zwar u. U. als problematisch empfunden, ist aber kein Grund, die Versorgungsentscheidung zu revidieren.

Sozialer Konsens bezüglich der Rollenverteilung im Versorgungsarrangement

Wird ein Familienmitglied hilfebedürftig, scheint es nach Schilderungen der befragten Angehörigen innerhalb der türkischen Gemeinschaft einen sozialen Konsens bezüglich der Rollenverteilung zu geben. Dieser sieht vor, dass die Frauen sich um die Versorgung eines Pflegebedürftigen innerhalb der Familie kümmern und die Verantwortung für das Versorgungsarrangement übernehmen. Dabei wurde deutlich herausgestellt, dass Männer nur indirekt in die Pflege mit „eingeplant“ und „einbezogen“ werden können, weil ihnen pflegerische Tätigkeiten wie z. B. Waschen, Toilettengänge etc. nicht „zugemutet“ werden könnten (pA5: 37, pA1: 111). Innerhalb der untersuchten Versorgungsarrangements übernahmen die männlichen Familienmitglieder eher organisatorische Funktionen wie z. B. die Begleitung bei Arztbesuchen.

Ein starkes familiäres Netz ermöglicht eine flexible Versorgung

Die Betrachtung familiärer Versorgungsstrukturen in den befragten türkischen Familien zeigt, dass hier meist auf ein dichtes Netz von Hilfen aus dem familiären Umfeld zurückgegriffen werden kann. Dies gilt sowohl für die Betreuung innerhalb der Mehrgenerationen- als auch innerhalb der Zweipersonenhaushalte dieses Sample. In vielen der befragten Versorgungsarrangements sind unabhängig von der räumlichen Entfernung der Angehörigen oder dem Verwandtschaftsgrad des zu betreuenden Menschen mit Demenz Hinweise auf eine Vielzahl an Hilfspersonen bzw. -netzwerken zu finden. Diese Hilfsangebote sind nach Angaben der befragten Angehörigen in dieser Studie durch einen starken, familiären Zusammenhalt gekennzeichnet, was eine Versorgung flexibel gestaltbar mache. In diesem Kontext berichten einige der Befragten allerdings auch von einem Koordinierungsaufwand für die zahlreichen Hilfsangebote. Die Zuteilung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten sei nicht immer ganz einfach und führe teilweise auch zu Schwierigkeiten und Konflikten innerhalb der Familien (pA2: 38; pA3: 27).

Die Wünsche der zu betreuenden Person mit Demenz werden zur Handlungsmaxime

Die Hilfsnetzwerke der Familien mit türkischem Migrationshintergrund in dieser Studie sind bemüht, den Bedürfnissen der hilfebedürftigen Person bezüglich der Gestaltung der Versorgung zu entsprechen: „Sie ist auch mal zu uns gekommen für eine Woche oder für einen Monat, mal bei meiner Tante …, sie war quasi immer für eine längere Zeit immer bei jemand anderes, wenn sie das wollte“ (pA6: 6). Die Entscheidungsmacht liegt hier unabhängig von der Schwere der Demenz und der Sinnhaftigkeit der geäußerten Wünsche und damit verbundenen Konsequenzen bei der Person mit Demenz. Insgesamt wird diese Entscheidungsfreiheit über Aufenthaltsort und -dauer von den befragten Angehörigen dieser Studie als ein besonders positives Kennzeichen türkischer Familien empfunden. In der Konsequenz bedeutet das u. U. aber auch wechselnde Zuständigkeiten bzw. einen mehrfachen Wechsel der Hauptpflegeperson innerhalb des Versorgungsarrangements.

Wissensdefizite und fehlende Erfahrungen prägen den Umgang mit Demenz

Wir wussten gar nicht, was Demenz ist. Wir wussten, was Alzheimer ist, aber Demenz wussten wir gar nicht. (pA5: 56)

Die Wissensdefizite und fehlenden Erfahrungen der befragten Familien türkischer Herkunft im Umgang mit Demenzen zeigen sich u. a. im wiederholten Aufsuchen von deutschen und türkischen Ärzten mit dem Wunsch, sowohl eine Erklärung für die veränderten Verhaltensweisen des Angehörigen mit Demenz zu bekommen, als auch mit der Vorstellung und dem Wunsch, Medikamente dagegen einsetzen zu können (pA5: 16). Ein versorgender Angehöriger beschreibt konkret die Annahme eines türkischen Familienmitglieds, Demenz sei eine vorübergehende Erkrankung, die geheilt werden und deren Genesungsprozess durch das Entbinden aus den alltäglichen Verrichtungen beschleunigt werden könne: „Sie soll nur schlafen und liegen“ (pA5: 18).

Die befragten Angehörigen dieser Studie beschreiben, dass innerhalb der türkischen Gemeinschaft, Alzheimer und Demenz keine Themen sind, über die eine öffentliche Diskussion oder ein Austausch stattfindet: „Wir haben das überhaupt nicht in unserem Umkreis, Alzheimer, ich kenne das nicht, wir in der Türkei kennen das nicht“ (pA1: 82). Es besteht also kaum die Chance, Wissensdefizite durch Austausch mit anderen Betroffenen im sozialen Umfeld auszugeichen.

Zugangsbarrieren hemmen die Inanspruchnahme formeller Hilfen

Bei der Versorgung eines Angehörigen mit Demenz im häuslichen Umfeld sind wenig bis keine formellen Hilfs- und Unterstützungsangebote bekannt und werden dementsprechend auch nicht genutzt: „Bei den Türken ist das halt einfach in den Familien so, dass sie einfach nicht wissen, welche Hilfen sie bekommen“ (pA3: 77). Doch die Unwissenheit über Angebote ist nicht der einzige Grund für eine geringe Inanspruchnahme. Auch das Fehlen von migrationsspezifischen Angeboten in Form von ambulanten Pflegediensten oder Tagespflegeeinrichtungen im Umkreis der türkischen Familien oder die fehlende Berücksichtigung ihrer Kultur in bestehenden Angeboten der Altenhilfe: „türkische Sprache, türkisches Essen und türkische Feiertage“ (pA1: 64) und der Wunsch, vom gleichen Geschlecht versorgt zu werden (pA7: 80), werden als Gründe für eine geringe Inanspruchnahme beschrieben. Formelle Hilfen werden, wenn überhaupt (hier in 2 von 7 Fällen), erst sehr spät im Krankheitsverlauf genutzt „Ja, es war quasi auch die Not, die uns zunehmend dazu zwang, auch Hilfe in Anspruch zu nehmen“ (pA2: 26) und dann auch nicht primär als entlastende Serviceleistung, sondern eher als Ausdruck der eigenen Not beschrieben. Die Befragten beschreiben, dass die Inanspruchnahme von „fremden“ Hilfen sowohl vom familiären Umfeld als auch der türkischen Gemeinschaft häufig mit „eigenem Versagen“ gleichgesetzt würde (pA1: 64). Die Option einer Unterbringung des pflegebedürftigen Angehörigen mit Demenz in einem Altersheim oder einer Demenzwohngruppe wurde auf Nachfrage größtenteils kategorisch abgelehnt: „Irgendwie kommt das Thema Altersheim bei uns niemals infrage. Niemals“ (pA5: 42).

Diskussion

Für die Übernahme und Organisation der Versorgung eines pflegebedürftigen Familienmitglieds konnte, wie bereits in vorherigen Untersuchungen [2, 18, 23, 27], die bedingungslose Selbstverständlichkeit als Hauptmerkmal herausgearbeitet werden. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse unter dem Fokus Demenz auch neue Erkenntnisse. So wurde deutlich, dass in Familien mit türkischem Migrationshintergrund das Vorliegen einer Demenz die Entscheidung zur Übernahme der Versorgung nicht beeinflusst und die Versorgung meist wenig informiert über die Erkrankung übernommen und organisiert wird. Dies bedeutet, dass die Familien sich oftmals völlig unvorbereitet mit den demenzspezifischen Herausforderungen häuslicher Versorgung konfrontiert sehen. Die befragten Angehörigen schildern in diesem Zusammenhang unvorhergesehene Probleme wie beispielsweise einen krankheitsbedingten Verlust der deutschen Sprache, Persönlichkeitsveränderungen und herausfordernde Verhaltensweisen des Menschen mit Demenz (z. B. pA4: 13). Scham und Tabuisierung dieser Themen [9, 18] sind möglicherweise Gründe für den von den Befragten beklagten mangelnden Austausch und die bisher wenig stattfindende Thematisierung von Demenz innerhalb der türkischen Gemeinschaft.

Schnittstellenproblematiken innerhalb der Familie

Bezüglich der Organisation der häuslichen Versorgungsarrangements in dieser Studie konnte festgestellt werden, dass versorgende Angehörige im Bedarfsfall auf zahlreiche familiäre Hilfen grundsätzlich und zu jeder Zeit zurückgreifen können. Pflegetätigkeiten und andere Aufgaben werden von den, in diesem Sample durchweg weiblichen Hauptpflegepersonen, an weitere Familienmitglieder delegiert [24]. Die Aufgaben sind hierbei geschlechterspezifisch klar verteilt: Die Frauen übernehmen die direkte Pflege der Angehörigen und die Männer oftmals eher die indirekte Pflege in Form von organisatorischen Aufgaben (Pflegemanagement).

Ein in der Literatur bisher nichtdiskutiertes Ergebnis der vorliegenden Studie ist, dass sowohl bei der Organisation und Ausgestaltung von türkischen Versorgungsarrangements als auch bei der Wahl der Hauptpflegeperson die Entscheidungsmacht oftmals bei der zu betreuenden Person lag. Hier wird das Konzepts des „primary carer“ (Hauptpflegeperson), der über die gesamte Dauer der Erkrankung maßgeblich die Verantwortung der Organisation des Versorgungsarrangements trägt [26], anders gehandhabt. So berichten einige der Befragten in den hier untersuchten Versorgungsarrangements, dass prinzipiell immer die Möglichkeit bestehe, die Rolle der Hauptpflegeperson flexibel innerhalb der Familie zu besetzen. Durch diese teils fragmentierte Versorgungsübernahme (Menschen mit Demenz ziehen in einigen Fällen von Haushalt zu Haushalt) können sich jedoch insbesondere innerhalb der Familien Problemlagen ergeben. So kann es auf der Ebene der innerfamiliären Organisation für die am Versorgungsarrangement beteiligten Personen zu Konflikten bei der Frage nach Zuständigkeiten/Verantwortlichkeiten und Aufgaben kommen, sodass die grundsätzlich als Vorteil empfundene Vielfalt der familiären Hilfen u. U. sogar zu einem belastenden Faktor werden kann. Auf der Ebene der formellen Versorgung sind bestehende Beratungs- oder Schulungsangebote, die an eine zentrale Hauptpflegeperson adressieren, in türkischen Familienarrangements u. U. wenig geeignet.

Formelle Hilfen sind nicht bedürfnisorientiert und kultursensibel

Die generell sehr zögerliche Inanspruchnahme formeller Hilfen von türkischstämmigen Familien bei der Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger ist bekannt (u. a. [7, 9]) und wird in der Literatur sowohl auf strukturelle Voraussetzungen als auch auf sozio- bzw. ethnopsychologisch motivierende Gründe zurückgeführt [13]. Von den Befragten der vorliegenden Studie wird die Inanspruchnahme formeller Hilfsangebote zumeist mit dem Annehmen fremder Hilfe gleichgesetzt (z. B. pA5: 28; [9]). Die Befragten schildern, dass beim Annehmen fremder Hilfe befürchtet wird, kulturelle Normen zu verletzen und in der Folge die soziale Stellung des Einzelnen und das Ansehen der gesamten türkischen Familie zu schwächen [24]. Hier liegen also auch traditionelle Vorbehalte vor, Stigmatisierung und Angst vor gesellschaftlichen Sanktionen, wie sie auch in anderen Untersuchungen ermittelt werden konnten [13, 14].

Wie bereits Kücük 2008 [5] in ihrer Untersuchung feststellt, zeigen auch einige der im Rahmen dieser Studie befragten Angehörigen grundsätzlich die Bereitschaft, formelle Hilfen in Anspruch zu nehmen, beklagen aber Informationsdefizite, eine mangelnde Transparenz der Hilfs- und Unterstützungsangebote und die fehlende Kultursensibilität in bestehenden Angeboten der Altenhilfe (Sprache, Essen, Feiertage, [1]). Hier lässt sich also dringender Handlungsbedarf ableiten.

Generationskonflikte zeigen sich schon jetzt und werden weiter zunehmen

Die Erwartung der älteren türkischen Generation gegenüber ihren Kindern, Enkelkindern und Schwiegerkindern bezüglich einer selbstverständlichen Versorgung im Pflegefall führt in vielen türkischen Familien in Deutschland bereits heute zu Konflikten. Zwar sind die befragten Angehörigen dieser Studie (vornehmlich die versorgenden Kinder der Menschen mit Demenz) dazu bereit, eine Versorgung im Pflegefall langfristig zu gewährleisten und damit eigene Bedürfnisse zurückzustecken. Inwieweit es den nachfolgenden Generationen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland (in diesem Sample die versorgenden Enkelkinder der Menschen mit Demenz) aufgrund der veränderten Lebensentwürfe (räumliche Entfernung, Bildungsaufstieg etc.) überhaupt möglich ist und ob sie dazu bereit sind, wird allerdings schon jetzt infrage gestellt. Ein Bildungsaufstieg ist u. U. nicht mehr mit einer bedingungslosen und selbstverständlichen Übernahme und Organisation von Versorgungsarrangements vereinbar.

Limitationen

Die Limitationen der vorliegenden Studie sind insbesondere auf Rekrutierungsschwierigkeiten bei der Zusammenstellung des Untersuchungssample zurückzuführen. Wie bereits in anderen Untersuchungen mit der Zielgruppe Menschen türkischer Herkunft (u. a. [2, 6, 9, 23]) stellte es sich auch in dieser Studie als außerordentlich schwierig heraus, potenzielle Teilnehmer zu identifizieren, zu erreichen und für eine Teilnahme zu gewinnen. Es konnte keine Familie ausfindig gemacht werden, in denen an Demenz erkrankte Männer versorgt wurden. Möglicherweise ist die Thematik hier noch mehr mit Ängsten vor Stigmatisierung innerhalb der türkischen Gemeinschaft besetzt. Sprachliche Barrieren waren ein weiteres Problem bei der Rekrutierung, da v. a. ältere potenzielle Interviewpartner häufig nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügten und die Interviewerin zwar kurdisch, jedoch kein türkisch sprach. Deshalb konnte in einigen Fällen nicht die Hauptpflegeperson befragt werden, und es wurden stattdessen andere involvierte Familienmitglieder interviewt.

Implikationen für weiteren Forschungsbedarf

Die hier vorgestellte Untersuchung hatte das Ziel, explorativ Merkmale der häuslichen Versorgung von türkischstämmigen Menschen mit Demenz durch Angehörige zu identifizieren und zu beschreiben. Zur Entwicklung einer umfassenden, gesättigten Theorie im Sinne der Grounded theory in zukünftigen Studien wäre es notwendig, weitere kontrastierende Fälle (Theoretical sampling) zu finden; beispielsweise türkischstämmige versorgende Angehörige von männlichen Demenzerkrankten, türkischstämmige Familien, die formelle Hilfen in größerem Umfang in Anspruch nehmen oder sich für die Unterbringung des Menschen mit Demenz in einem Pflegeheim entschieden haben, oder Familien mit keinem oder einem anderen als einem türkischen Migrationshintergrund.

Für ein solches Vorhaben können die hier vorgestellten Ergebnisse Anhaltspunkte geben.

Fazit für die Praxis

  • Es konnten neue Erkenntnisse zu den Sichtweisen versorgender Angehöriger mit türkischem Migrationshintergrund von Menschen mit Demenz generiert werden.

  • Die Zahl der an Demenz erkrankten Menschen mit türkischem Migrationshintergrund wird zukünftig bei gleichzeitiger Abnahme des informellen Pflegepotenzials steigen. Aus dieser Entwicklung geht ein Pflege- und Hilfebedarf in dieser Gruppe hervor, der derzeit nicht abgedeckt ist.

  • Ein wichtiger Handlungsbereich ist die Sensibilisierung und Aufklärung der Bevölkerungsgruppe mit türkischem Migrationshintergrund für das Thema Demenz und Pflegebedürftigkeit.

  • Bestehende Angebote der Altenhilfe müssen sich stärker an den individuellen, kulturellen Bedarfslagen der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund ausrichten.

  • Akteure im Versorgungs- und Pflegebereich sind gefordert, Ergebnisse aus der Forschung aufzugreifen, um türkische Familien zukünftig bei der Versorgung eines Menschen mit Demenz in der Häuslichkeit zu unterstützen und zu entlasten.