Hintergrund und Fragestellung

In einer früheren Ausgabe dieser Zeitschrift haben wir die Ergebnisse einer Untersuchung über die Prävalenz der wichtigsten chronischen Krankheiten, die mit Pflegebedürftigkeit in Deutschland einhergehen, dargestellt. Grund für diese Analyse war, dass chronische Krankheiten und Multimorbidität signifikant mit progressiven Funktionsverlusten der Mobilität, der Kognition, und der Sinnesfunktionen assoziiert sind und somit wesentlich zur Entstehung von Pflegebedürftigkeit beitragen [1].

Bisher ist in Deutschland nach dem Kenntnisstand der Autoren jedoch noch nicht systematisch untersucht worden, welche chronischen Krankheiten mit den Pflegestufen und den verschiedenen Pflegesektoren (ambulant vs. stationär) zusammenhängen.

In der vorliegenden Studie wird die Frage untersucht, inwiefern sich die Morbidität der im Pflegeheim lebenden Pflegebedürftigen von denen, die zu Hause leben, unterscheidet. Zusätzlich beschäftigen sich die Autoren mit der Frage, welche Morbiditätsunterschiede zwischen den drei Pflegestufen gegeben sind. Diese differenzierte Untersuchung der pflegeassoziierten Morbidität soll Anhaltspunkte sowohl für die Angebotsplanung der pflegerischen Versorgung im ambulanten und stationären Sektor als auch für die Optimierung der täglichen Versorgung von pflegebedürftigen Menschen liefern.

Pflegebedürftigkeit wird in Deutschland sozialrechtlich in drei Stufen eingeteilt. Pflegebedürftige Personen werden in der eigenen Wohnung oder in spezialisierten stationären Einrichtungen (Pflegeheimen) medizinisch, pflegerisch und sozial betreut. Die Untersuchung der Morbidität bei Pflegebedürftigkeit umfasst das Ensemble der chronischen Krankheiten der Menschen, die gemäß Sozialgesetzbuch XI im Untersuchungszeitraum vom 01.01. bis zum 31.12.2006 pflegebedürftig waren. Hierbei wurden Individuen zu ganz verschiedenen Zeitpunkten ihrer Pflege eingeschlossen. Diese Definition von pflegeassoziierter Morbidität ist somit nicht identisch mit der pflege(bedürftigkeits)- bzw. der heimaufnahmebegründenden Morbidität [1].

Untersuchungspopulation und Methodik

Für diese Studie wurden die zu Abrechnungszwecken erhobenen Routinedaten der Gmünder ErsatzKasse (GEK; heute: BARMER GEK) aus dem Jahre 2006 verwendet. Die Methodik der Untersuchung wird ausführlich bei Bussche et al. [1] dargestellt, weswegen diese hier nur kurz beschrieben werden soll: Die Untersuchungspopulation besteht aus den GEK-Versicherten im Alter ab 65 Jahren (n = 123.640). Als pflegebedürftig wurde eine Person eingestuft, die in 2006 mindestens einmal eine Pflegestufe im Sinne des Sozialgesetzbuches XI aufwies oder als Härtefall (Pflegestufe 4) klassifiziert wurde. Bei einem Wechsel der Pflegestufe im Laufe des Jahres wurde die Person in die jeweils höchste Pflegestufe eingestuft. Die Härtefälle (n = 19) wurden der Pflegestufe 3 zugeordnet. Im Beobachtungsjahr 2006 gab es keine Person, die eine Einstufung als pflegebedürftig wieder verlor. Der Pflegesektor – ambulant oder stationär – wurde anhand der gewährten Pflegeleistungen definiert. Als stationär gepflegt wurden Personen definiert, wenn ihnen mindestens eine der folgenden SGB-XI-Leistungen gewährt wurden:

  • vollstationäre Pflege,

  • Zuschuss zur stationären Pflege oder

  • vollstationäre Behindertenpflege.

Personen mit anderen Leistungsarten wurden als ambulant gepflegt klassifiziert [2], wenn sie z. B. folgende Leistungen erhielten:

  • Pflegegeld,

  • technische Hilfsmittel oder

  • Kurzzeitpflege.

Diejenigen Personen (n = 380), bei denen 2006 mindestens eine ambulante Leistung und die Angabe „Ruhen“ (in der Leistungsgewährung) vermerkt waren, wurden dem ambulanten Sektor zugeordnet. Analog wurden 26 Personen dem stationären Sektor zugeordnet, wenn bei ihnen zusätzlich die Angabe „Ruhen“ vorkam. Insgesamt 664 Personen erhielten sowohl ambulante als auch stationäre Leistungen, weswegen diese aus der Untersuchung ausgeschlossen wurden, wenn Unterschiede zwischen ambulantem und stationärem Sektor untersucht wurden. Bei 125 von diesen 664 Personen war auch ein Ruhen verzeichnet. Bei der Analyse von Unterschieden zwischen den Pflegestufen wurden diese 664 Personen jedoch in die Untersuchung eingeschlossen. Bei 8 Personen wurde im gesamten Jahr 2006 nur die Kodierung „Ruhen“ angegeben. Diese Personen wurden in keiner Analyse berücksichtigt, wodurch sich die Population der Pflegebedürftigen auf n = 8.670 und die gesamte Population auf n = 123.632 reduzierte.

Untersucht wurde die Prävalenz von 46 chronischen Krankheiten bzw. Krankheitsgruppen, d. h. alle vertragsärztlich kodierten chronischen Erkrankungen mit einer Prävalenz ≥ 1 % in der Altersgruppe 65 Jahre und älter im GEK-Datensatz. Die Entstehungsprozedur dieser Krankheitsliste wurde an anderer Stelle ausführlich beschrieben [3]. Die Untersuchung des Einflusses von einzelnen Krankheiten auf die Pflegebedürftigkeit nach Sektoren und Stufen beschränkte sich auf diejenigen Krankheiten, die ein hohes Risiko für Pflegebedürftigkeit in der Gruppe aller Pflegebedürftigen aufweisen. Die diesbezüglichen Untersuchungsergebnisse sind in [1] dargestellt.

Zunächst wurden die Prävalenzunterschiede der Krankheiten zwischen den drei Pflegestufen bzw. zwischen den zu Hause (ambulant) oder im Pflegeheim (stationär) lebenden Pflegebedürftigen verglichen. Anschließend wurden die relativen Risiken (RR) für stationäre Pflegebedürftigkeit im Vergleich zur ambulanten Pflegebedürftigkeit berechnet. Das RR drückt – unter Berücksichtigung der jeweiligen Prävalenz [4] – die Wahrscheinlichkeit aus, dass ein Merkmal (hier: eine chronische Krankheit) mit einem Risiko (hier: der Pflegebedürftigkeit) assoziiert ist. So bedeutet ein RR von 2 bei Krankheit X, dass Menschen mit dieser Krankheit im Vergleich zu Personen ohne diese Krankheit ein doppelt so hohes Risiko haben, zu den Pflegebedürftigen zu gehören. Ein RR-Wert von 1 bedeutet dementsprechend, dass es keinen Risikounterschied zwischen den Populationen mit und ohne dieses Merkmal gibt. Zur Analyse des Zusammenhangs des sektordifferenzierten Pflegerisikos mit der Morbidität, dem Alter, dem Geschlecht und der Pflegestufe wurden schließlich multinominale logistische Regressionsanalysen durchgeführt. Die statistischen Analysen erfolgten mit dem Programm PASW Statistics®, Version 18. Die Untersuchung wurde von der Ethikkommission der Ärztekammer Hamburg genehmigt (PV3057).

Ergebnisse

Untersuchungspopulation

In die Studie wurden 123.632 GEK-Versicherte im Alter von ≥ 65 Jahren einbezogen. Gemäß dem oben beschriebenen Einschlussverfahren wurden 8.670 Personen als pflegebedürftig in die Untersuchung eingeschlossen, d. h. 7,0 % der Untersuchungspopulation. Im Jahr 2007 betrug dieser Prozentsatz in der deutschen Bevölkerung über 65 Jahren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 5,9 %. In dieser Altersgruppe lebten 34,0 % der Pflegebedürftigen in einem Pflegeheim und 66,0 % zu Hause [5]. In der Population für diese Studie betrug der Anteil der ambulant Gepflegten 73,7 %. Hierbei waren diejenigen, die sowohl ambulante als auch stationäre Leistungen erhielten, aus der Betrachtung ausgeschlossen worden. Insgesamt

  • 51 % der Pflegebedürftigen waren in Pflegestufe 1 eingestuft (n = 4.381),

  • 37 % in Pflegestufe 2 (n = 3.199) und

  • 13 % in Pflegestufe 3 (n = 1.090).

Im Bundesdurchschnitt betrugen diese Zahlen laut Statistischem Bundesamt bei den ≥ 65jährigen:

  • 52 % in Stufe 1,

  • 35 % in Stufe 2 und

  • 12 % in Stufe 3 [5].

Die soziodemographischen Merkmale der Untersuchungspopulation fasst Tab. 1 zusammen. Der Anteil stationär Gepflegter ist mit 67 % bei den Frauen bedeutend höher als mit 33 % bei den Männern. In den jüngeren Altersgruppen dominiert die ambulante, in den älteren die stationäre Pflege. Zwischen den Pflegestufen finden sich nur geringe geschlechtsspezifische Anteilsunterschiede. Bemerkenswerterweise gilt dies auch für die altersgruppenspezifischen Unterschiede.

Tab. 1 Soziodemographische Merkmale der Untersuchungspopulation (n = 8670)

Die Verteilung der Pflegestufen nach Pflegesektoren geht aus Tab. 2 hervor. Erwartungsgemäß überwog der Anteil der ambulant Versorgten in Pflegestufe 1 mit 84 % deutlich, während dieser Anteil in Stufe 2 nur noch 69 % und in Stufe 3 mit 49 % nur noch ungefähr die Hälfte betrug (Angaben ohne die sowohl ambulant und stationär Gepflegten).

Tab. 2 Verteilung der Untersuchungspopulation auf die Pflegestufen und die Pflegesektoren (n = 8670)

In Tab. 3 werden die Prävalenzen der 13 chronischen Krankheiten, die ein relatives Risiko für Pflegebedürftigkeit von ≥ 1,5 aufwiesen [1], für alle Pflegebedürftigen (Spalte 1) sowie nach den zwei Pflegesektoren (Spalten 2 und 3) und den drei Pflegestufen (Spalten 4 bis 6) dargestellt. Spalte 7 zeigt das relative Risiko für stationäre im Vergleich zur ambulanten Pflege.

Tab. 3 Prävalenzen der 13 chronischen Krankheiten mit dem höchsten Pflegebedürftigkeitsrisiko nach Pflegesektor und Pflegestufe sowie das relative Risiko für stationäre Pflege, absteigend sortiert (n = 8006)

Morbiditätsunterschiede nach Pflegesektor

Ambulant versorgte Pflegebedürftige wiesen im Mittel eine chronische Krankheit mehr auf als stationär versorgte (6,3 vs. 5,4; p = 0,000), wie Tab. 1 zu entnehmen ist. Personen, die sowohl ambulante wie stationäre Leistungen erhielten, lagen mit 5,8 Krankheiten zwischen beiden Werten. Gemäß Tab. 3 (Spalten 2 und 3) war Diabetes mellitus mit 36 % die häufigste Krankheit bei den ambulant Betreuten. Mit 31 % war Diabetes auch bei den stationär Betreuten häufig, wurde dort allerdings von der Demenz mit 56 % deutlich übertroffen. Die Prävalenz der Demenz war bei stationär Gepflegten (56 %) mehr als doppelt so hoch wie bei ambulant Gepflegten (21 %). Unter Harninkontinenz litten 18 % der zu Hause Lebenden und 28 % der Pflegebedürftigen in Heimen. Die Häufigkeit eines Zustands nach Schlaganfall war in beiden Sektoren annähernd gleich (28 % ambulant vs. 27 % stationär) und auch für Herzinsuffizienz waren die Prävalenzunterschiede nicht sehr groß (20 % vs. 27 %). Dementsprechend war das RR für stationäre Pflege (im Vergleich zur ambulanten; vgl. Spalte 7 in Tab. 3) am höchsten für Demenz (RR = 2,6), gefolgt von Harninkontinenz (RR = 1,5), Herzinsuffizienz (RR = 1,3), M. Parkinson und Depression (je RR = 1,2). Für drei Krankheiten (Anämie, Osteoporose und Zustand nach Schlaganfall) war das Risiko für stationäre Pflegebedürftigkeit nicht erhöht. Schwindel, Diabetes, Niereninsuffizienz, Atherosklerose/PAVK und Neuropathien wiesen sogar ein verringertes Risiko für stationäre Pflegebedürftigkeit auf (RR von 0,8 bis 0,6; vgl. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Relatives Risiko (und 95 % Konfidenzinterval) für stationäre Pflegebedürftigkeit im Vergleich zur ambulanten für die 13 Krankheiten mit einem sektorenunabhängigen relativen Pflegebedürftigkeitsrisiko ≥ 1,5

Die Regressionen mit der abhängigen Variable stationäre Pflegebedürftigk eit und der ambulanten Pflegebedürftigkeit als Referenzkategorie werden in Tab. 4 dargestellt. Unter Kontrolle der anderen Variablen zeigte die Interaktion von Alter und Geschlecht (OR 1,03) in Modell 1 keinen Einfluss auf das Risiko, stationär statt ambulant pflegerisch betreut zu werden. Erwartungsgemäß zeigten die Pflegestufen erhöhte OR für stationäre Pflegebedürftigkeit (OR = 2,0 für Stufe 2 im Vergleich zu Stufe 1; OR = 3,7 für Stufe 3 im Vergleich zu Stufe 1, Tab. 4). Von den vier Krankheiten mit dem höchsten relativem Risiko für Pflegebedürftigkeit zeigte nur die Demenz mit 3,3 eine stark erhöhte OR, während Harninkontinenz, Zustand nach Schlaganfall und Herzinsuffizienz – unter Kontrolle aller anderen Variablen – keinen Einfluss auf das Risiko hatten, stationär gepflegt zu werden. Um den Einfluss des Schweregrades der Krankheit (im Sinne der Pflegestufenhöhe) zu erfassen, wurden weitere schrittweise logistische Regressionen berechnet. In Modell 2 wurde die Interaktion der einzelnen Diagnosen und der Pflegestufen modelliert, was aber keine Erhöhung der Varianzaufklärung nach sich zog. Bezüglich der Interaktion von Demenz und Pflegestufen erhöhten sich die OR mit steigender Pflegestufe jeweils im Vergleich zu Stufe 1 (OR = 2,9 für Demenz in Stufe 1, OR = 6,7 in Stufe 2 und OR = 17,8 in Stufe 3). Hingegen ergaben sich für die Interaktion von Pflegestufe und Herzinsuffizienz bzw. Zustand nach Schlaganfall nahezu keine OR-Unterschiede für stationäre Pflegebedürftigkeit zwischen den Pflegestufen. Für die Interaktion von Harninkontinenz und Pflegestufe waren die OR für stationäre Pflegebedürftigkeit sogar niedriger in den jeweils höheren Pflegestufen (OR 1,5 für Harninkontinenz in Stufe 1, OR 1,2 in Stufe 2 und OR 0,6 in Stufe 3).

Tab. 4 Ergebnisse der schrittweisen logistischen Regressionen mit der abhängigen Variable stationäre Pflegebedürftigkeit (Referenzkategorie: ambulante Pflegebedürftigkeit; n = 8006)

Morbiditätsunterschiede nach Pflegestufen

Bei Personen mit Pflegestufe 1 wurden im Mittel 0,3 Krankheiten mehr als für Pflegestufe 2 kodiert (6,3 vs. 6,0; p = 0,002), genauso für Personen in Stufe 2 im Vergleich zu Stufe 3 (6,0 vs. 5,4; p = 0,000, Tab. 1). Zwischen Männern und Frauen gab es diesbezüglich keine Unterschiede. Der Median unterschied sich nicht zwischen Stufe 1 und 2 (Median jeweils 6), während er in Stufe 3 um eine Krankheit niedriger war (Median 5; vgl. Spalten 5–7). Bei Demenz, M. Parkinson, Harninkontinenz und Zustand nach Schlaganfall war eine deutlich höhere Prävalenz in der jeweils höheren Pflegestufe gegeben (Tab. 3). Demgegenüber unterschied sich die Prävalenz der Herzinsuffizienz, Anämie und Depression kaum zwischen den Pflegestufen. Für Osteoporose, Schwindel, Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz, Atherosklerose/PAVK und Neuropathien nahm die dokumentierte Prävalenz von Pflegestufe 1 über Pflegestufe 2 zu Pflegestufe 3 sogar kontinuierlich ab. Im Vergleich von Stufe 1 zu 2 ergaben sich für diese sechs Krankheiten dabei geringere Abnahmen der Prävalenz als zwischen Stufe 2 und 3.

Diskussion

Krankheitslast allgemein

In dieser Untersuchung unterschieden sich Pflegebedürftige von nicht Pflegebedürftigen im Hinblick auf die Zahl der chronischen Krankheiten im arithmetischen Mittel um eine (6,1 vs. 5,0; + 22 %), im Median um zwei Krankheiten (6 vs. 4) [1]. Bei den ambulant Gepflegten war die Krankheitslast im Vergleich zu den stationär Gepflegten um eine chronische Krankheit höher (6,2 vs. 5,3; + 16 %). Allerdings überrascht, dass die kodierte Krankheitslast bei den ambulant Gepflegten höher war als bei den stationär Gepflegten – und nicht umgekehrt. Ein ebenfalls nicht erwartetes Ergebnis fanden wir bezüglich der Pflegestufen, bei denen eine höhere Stufe mit einer relativ geringeren Zahl von chronischen Krankheiten einherging. Die Tendenz einer abnehmenden Prävalenz chronischer Krankheiten bei höherer Pflegestufe bzw. bei stationärer Pflege ist medizinisch unwahrscheinlich, kann aber verschiedene andere Gründe haben. Sie kann darauf zurückzuführen sein, dass Patienten mit bestimmten Krankheiten (z. B. Demenz) in höheren Pflegestufen von weniger Beschwerden berichten (können). Nicht auszuschließen ist, dass differenzielle Überlebensraten („survival bias“) eine Rolle spielen. Weiterhin kann ein stufenabhängiges Kodierverhalten der Vertragsärzte gegeben sein, wenn in den höheren Pflegestufen eine Konzentration der Behandlung auf das Wesentliche im Sinne einer abnehmenden Behandlungsintensität bei einzelnen Krankheiten zugunsten eines palliativen Ansatzes im Zuge des fortschreitenden Abbaus des Allgemeinzustandes des Patienten stattfindet. Eine solche Einschränkung des Kodierens wäre im Übrigen gesetzeskonform, da nur diejenigen Krankheiten kodiert werden sollen, die aktuell behandelt werden. Unter rein epidemiologischen Gesichtspunkten heißt dies allerdings auch, dass von einer Untererfassung der Prävalenz einzelner Krankheiten in der höchsten Pflegestufe auszugehen ist, was im Übrigen zwangsläufig eine Untererfassung der Prävalenzen dieser Krankheiten bei Pflegebedürftigkeit allgemein zur Folge hat [7].

Prävalenzen einzelner chronischer Krankheiten

Werden die Prävalenzen der einzelnen Krankheiten betrachtet, ergibt sich ein gemischtes Bild: Anämie, Osteoporose, Schwindel, Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz, Atherosklerose/PAVK und Neuropathien wie auch Zustand nach Schlaganfall kommen bei stationär gepflegten Personen weniger häufig vor als bei ambulant gepflegten und bis auf Zustand nach Schlaganfall nimmt die Prävalenz dieser Krankheiten mit steigender Pflegestufe ab. Eine höhere Prävalenz bei den stationär im Vergleich zu den ambulant Gepflegten bzw. in den höheren im Vergleich zu den niedrigeren Pflegestufen fanden wir hingegen für Demenz, Harninkontinenz, Herzinsuffizienz und M. Parkinson. Auch die Depression kommt bei stationär gepflegten Personen häufiger vor, allerdings sinkt die Prävalenz von Pflegestufe 2 zu 3.

Eine gute Vergleichsmöglichkeit dieser stationären Prävalenzen mit den in den USA ermittelten ergibt sich auf der Basis einer Studie von Moore et al. [8]. Die Autoren ermittelten in 2004 die 20 chronischen Krankheiten mit der höchsten Prävalenz in einer repräsentativen Stichprobe von 11.788 Pflegeheimbewohnern (Frauenanteil 75 %) im Alter über 64 Jahren und fanden folgende Prävalenzen:

  • Demenzen 51 %,

  • Depression 35 %,

  • Diabetes mellitus 24 %,

  • Herzinsuffizienz 20 %.

Diese Zahlen stimmen größenordnungsmäßig mit den Ergebnissen der vorliegenden Studie (Tab. 3) für den Heimbereich überein.

Vergleich der Prävalenzen mit anderen Studien

Abgesehen von der vorliegenden Studie liegt bis dato keine systematische Untersuchung vor, die die medizinischen Diagnosen von ambulant und stationär Pflegebedürftigen in Deutschland vergleicht. Nur für die Demenz gibt es zwei vergleichende Studien.

Jakob et al. [9] untersuchten die sektorabhängigen Demenzprävalenzen zwischen 1997 und 1999 auf der Basis eines kognitiven Tests und fanden in Heimen eine Prävalenz bei den über 75-Jährigen von 48 %, eine 4-mal höhere als bei zu Hause Lebenden. Rothgang et al. [10] analysierten die Daten der Gmünder Ersatzkasse der Jahre 2004 und 2005 und fanden bei über 60-Jährigen eine Punktprävalenz der Demenz von etwa zwei Dritteln in Heimen und etwa einem Drittel in der ambulanten Versorgung (genaue Zahlen für die Gesamtgruppe fehlten), bei geringen Unterschieden zwischen den Geschlechtern. Auf der Basis einer Literaturanalyse kommen diese Autoren zu dem Ergebnis, dass die Prävalenz von Demenz bei Heimbewohnern je nach methodischem Ansatz zwischen einem und zwei Dritteln liegt [11]. Methodische Unterschiede sind denkbar in Bezug auf die Definition des Begriffs Heim ebenso wie bezüglich der Definition bestimmter Krankheiten, z. B. der Demenz [12, 13]. Auch erhebungsmethodische Unterschiede, Bewohnerassessments, Befragungen von Pflegepersonen oder Sekundäranalysen von Routinedaten, spielen eine wichtige Rolle [14]. Dies gilt ceteris paribus schon für Prävalenzuntersuchungen innerhalb eines Versorgungssektors. So fanden Schneekloth u. von Törne [15] 2005 auf der Basis von Interviews mit den jeweiligen Pflegepersonen in Heimen (MuG IV) eine Demenzprävalenz von 46 %, während eine im gleichen Band publizierte Studie von Schäufele et al. [16] auf der Basis eines Bewohnerassessments eine Demenzprävalenz von 69 % fand. Leider weist die parallele Untersuchung der Pflegebedürftigen in privaten Haushalten (MuG III) keine vergleichbaren Morbiditätsdaten für die ambulant Gepflegten auf [17].

Risikounterschiede zwischen ambulanter und stationärer Pflegebedürftigkeit

Die Autoren fanden nur drei Krankheiten mit hohem Pflegerisiko, die überhaupt ein deutlich erhöhtes Risiko aufwiesen, stationär anstatt ambulant pflegebedürftig zu sein:

  • Demenz (RR 2,6),

  • Harninkontinenz (RR 1,5),

  • Herzinsuffizienz (RR 1,3).

Unter Berücksichtigung der hohen Prävalenzen kann man dieses Trio als die charakteristischen Krankheiten für stationäre Pflegebedürftigkeit bezeichnen. Bis auf den Zustand nach Schlaganfall, der kein erhöhtes Risiko für einen der beiden Pflegesektoren aufwies (RR 1,0), deckt sich dieses Trio mit dem Quartett der charakteristischen Krankheiten für Pflegebedürftigkeit allgemein [1].

Die regressionsanalytische Betrachtung verstärkte dieses Ergebnis noch: Abgesehen von der höheren Pflegestufe blieb als einzige Krankheit, die für sich allein die Heimpflege vorhersagt, nur die Demenz. Die Betrachtung der Interaktion der genannten Krankheiten mit den drei Pflegestufen in Modell 2 zeigte, dass nur im Falle der Demenz das Risiko einer stationären Pflege mit einem steigenden Schweregrad (im Sinne einer erhöhten Pflegestufe) der Demenz drastisch anstieg. Dieses Ergebnis verwundert weniger als jenes, dass bei hochprävalenten chronischen Krankheiten mit hohem Pflegebedürftigkeitsrisiko – z. B. Harninkontinenz, Herzinsuffizienz oder Zustand nach Schlaganfall – das Risiko, stationär anstatt ambulant gepflegt werden zu müssen, nicht mit der Pflegestufe und insoweit auch nicht mit dem Schweregrad dieser Krankheiten ansteigt. Für diese Krankheiten dürfte gelten, dass sie nur insoweit mit Heimpflege einhergehen, wenn sie starke Behinderungen und Begrenzungen der persönlichen Autonomie zur Folge haben und/oder die Funktionsfähigkeit des privaten und/oder professionellen Pflegenetzes defizitär (geworden) ist. So fanden Luppa et al. [18] in einem Review von 36 Studien zur Institutionalisierung in allen Studien einen niedrigen subjektiven Gesundheitsstatus, Gebrechlichkeit sowie funktionale und kognitive Einschränkungen als einweisungsbedingende Faktoren. Unter den Krankheiten erwies sich nur die Demenz als konsistent, während die Folgen von Schlaganfall, Bluthochdruck, Inkontinenz und Depression inkonsistent waren. In einer Analyse der AgeCoDe-Daten bezüglich Demenz und Heimaufnahme fanden Luppa et al. [19] den Familienstand – verwitwet bzw. allein lebend – als zusätzlich wichtigen Faktor für eine Heimaufnahme. Andere Studien bestätigen diese Prädiktoren [20, 21, 22]. Allerdings wurde in einer anderen Studie neben der Demenz auch der Zustand nach Schlaganfall als heimaufnahmebegründend identifiziert [22]. In den für die Untersuchung der Autoren vorliegenden Daten der GEK waren die Angaben zum Familienstand jedoch nicht konsistent angegeben, sodass sie nicht in die Analysen mit eingeschlossen werden konnten.

Folgerungen für die vertragsärztliche und pflegerische Versorgung

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie tangieren die Frage, ob und wie eine Verringerung bzw. Verzögerung der Heimaufnahme erreicht werden könnte. Für Harninkontinenz, Herzinsuffizienz oder Zustand nach Schlaganfall als hochprävalente und stark mit Pflegebedürftigkeit einhergehende chronische Krankheiten gilt, dass früh und intensiv in der ambulanten ärztlichen und pflegerischen Versorgung mit dem Ziel der Heimvermeidung interveniert werden müsste. Jedenfalls hat der Grundsatz ambulant vor stationär bei diesen Krankheiten eine reale Umsetzungschance, wenn ambulante Versorgungsleistungen sensitiv und spezifisch auf Heimvermeidung ausgerichtet wären. Welche Maßnahmen dies krankheitsspezifisch bewirken könnten, wäre vorrangig zu untersuchen. Da derartige tertiärpräventive Studien, nach Kenntnis der Autoren, bis dato nicht durchgeführt wurden, plädieren sie für entsprechende Kohortenstudien bei diesen Krankheiten.

Die Daten zeigen, dass die Verhältnisse im Fall der Demenz anders liegen. Dieses Syndrom hat – unter Kontrolle aller anderen untersuchten Faktoren – an sich ein verdreifachtes Risiko für eine stationäre Pflege und dieses Risiko steigt weiter exponentiell mit dem Schweregrad an, z. B. um das 18-Fache bei Pflegestufe 3. Vermutlich wirken hier mehrere Faktoren in die gleiche Richtung:

  • die mit der Progredienz einhergehende Zunahme an Funktionseinschränkung und Autonomieverlust,

  • die minimalen pharmakotherapeutischen Möglichkeiten,

  • die fehlenden Behandlungsmöglichkeiten im Krankenhaus und

  • die häufig nicht zu bewältigende Pflege, sowohl familiär wie professionell.

Trotz der vermutlich nicht einmal mittelfristig optimistischeren Aussichten auf Heimvermeidung, bleibt, neben der pharmakologischen und immunologischen Forschung, nur die Option der weiteren hartnäckigen Suche nach Strategien und Verfahren, um die ambulante Betreuung dieser Patienten und – genauso wichtig – der pflegenden Angehörigen zu verbessern. Einen belastbaren Beleg für eine medikamentös erzielbare Verzögerung der Heimaufnahme gibt es bisher nicht [23]. Einige nichtpharmakologische Ansätze sind dennoch bemerkenswert. Vernooij-Dassen et al. [24] zeigten ermutigende ergotherapeutische Ergebnisse in einem ersten randomisierten kontrollierten Versuch. Dröes [25, 26] zeigt seit 20 Jahren, dass ein multimodales Begegnungszentrum (Ontmoetingszentrum) im Vergleich zur traditionellen Tagespflege auch bezüglich harter Endpunkte wie Heimaufnahme positive Folgen aufweisen kann. Auch die Vernetzung qualifizierter Professioneller [27] sowie ein entwickeltes Casemanagement [28] deuten auf weitere Potenziale einer Optimierung der ambulanten Versorgung hin. Diese Ansatzpunkte müssen auch in Deutschland weiter verfolgt werden.

Stärken und Schwächen

Dies ist der erste systematische Vergleich der Morbidität in den verschiedenen Sektoren und Stufen der Pflegebedürftigkeit.

Die Autoren haben die Pflegebedürftigkeit im sozialrechtlichen Sinne untersucht. Theoretisch ist denkbar, dass andere Untersuchungen, die eine breitere Definition von Pflegebedürftigkeit benutzen, höhere Prävalenzen finden können. Die untersuchte GEK-Population kann qua Verteilung nach Pflegestufen und Pflegesektoren als repräsentativ für Deutschland angesehen werden. Der geringe Unterschied von 1,4 % im Vergleich zu Daten des Statistischen Bundesamtes bei der Verteilung ambulant vs. stationär könnte auf einer unterschiedlichen Handhabung der Pflegebedürftigen mit zugleich ambulanten und stationären Leistungen zurückzuführen sein. Die Ähnlichkeit der Zahlen der vorliegenden Studie mit denen des Statistischen Bundesamtes belegt die hohe Repräsentativität der Stichprobe der Autoren in Bezug auf die Einstufung.

Die vorliegenden Auswertungen basieren auf Routinedaten einer Krankenkasse, die Diagnosen wurden also nicht von eigens zu Studienzwecken geschultem Fachpersonal im Rahmen einer Primärerhebung gestellt. Einzelne Krankheiten könnten untererfasst sein, weil deren Untersuchung durch die Vertragsärzte (mit zunehmender Pflegestufe) unterblieb oder die diesbezüglichen Beschwerden von Demenzpatienten nicht mehr mitgeteilt werden. Ein weiterer Nachteil der Routinedaten ist, dass Informationen zur sozialen Situation fehlen, die für die Frage sehr wichtig sind, ob ambulante oder stationäre Pflege erforderlich ist. Auch wenn das Ziel dieser Arbeit die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Morbidität und ambulanter vs. stationärer Pflege und nicht die Untersuchung von Risikofaktoren für stationäre Pflege im Allgemeinen war, so wäre es doch wünschenswert gewesen, soziale Faktoren als Kontrollvariablen einbeziehen zu können.

Routinedatensätze der Krankenkassen ermöglichen auf der anderen Seite die Untersuchung von großen Versichertenpopulationen, die auch Hochbetagte bzw. Demenzpatienten einschließen. Nichtteilnahme oder Recall-Bias stellen in den Routinedaten keine Probleme dar.

Fazit

Unter den Krankheiten erhöht nur die Demenz das Risiko, stationär anstatt ambulant gepflegt zu werden. Krankheitsspezifische Risikostudien und sensitive ambulante Behandlungskonzepte für weitere Krankheiten mit hohem Pflegerisiko – z. B. Harninkontinenz, Herzinsuffizienz oder Zustand nach Schlaganfall – beinhalten prinzipiell die Möglichkeit, eine Heimaufnahme hinauszuzögern bzw. zu vermeiden.