Unter einer Anämie versteht man einen Mangel an erythrozytären Sauerstoffträgern, der laborchemisch mit einer Erniedrigung des Hämoglobinwerts (Hb) korreliert. Die Ausprägung der klinischen Symptomatik ist dabei abhängig von der Geschwindigkeit und Ausprägung des Hb-Abfalls sowie von der individuellen Konstitution. Eine Anämie gilt daher in der Regel als Symptom für eine oder mehrere zugrunde liegende andere Erkrankungen und kann über längere Zeit asymptomatisch verlaufen.

Anämie kommt in jedem Lebensalter vor, erfährt jedoch im höheren Lebensalter ab 75 Jahren unter ambulanten Patienten einen Prävalenzsprung von ca. 16% auf  >20% [10]. Dies konnte in der NHANES-III-Studie 1988–1994 deutlich gemacht werden, die auch eine Schwerpunktverlagerung zeigt: Bis zum 65. Lebensjahr sind vor allem mehr Frauen von einer Anämie betroffen, zwischen dem 65. und 75. Lebensjahr kommt es nahezu zu einem Ausgleich und ab dem 75. Lebensjahr leiden vor allem Männer an einer Anämie [10]. Solange diese älteren Betroffenen dabei asymptomatisch sind, selbstständig leben und keine behandlungsbedürftigen Komorbiditäten haben, spricht man eher von einer Anämie im höheren Lebensalter, die jedoch nicht durch das Alter selbst bedingt ist [5] und prinzipiell (aber unter individueller Abwägung von therapeutischer Konsequenz) einer Abklärung bedarf. Tritt eine Anämie bei älteren, hospitalisierten Patienten mit behandlungsbedürftigen Komorbiditäten auf, wird sie als Anämie bei geriatrischen Patienten definiert. In dieser Patientengruppe steigt die Prävalenz der Anämie sogar bis zu 40% an [8] (s. auch Beitrag „Anämie und Eisenmangel in der Geriatrie“ in diesem Heft).

Bei geriatrischen Patienten steigt die Prävalenz der Anämie bis 40%

Es gibt viele Ursachen für das Auftreten einer Anämie im Alter: Zu den beiden häufigsten zählen chronische Erkrankungen („anemia of chronic disease“, (ACD [1, 11]) und Eisenmangel („iron-deficiency anemia“, IDA [5]). Weitere Ursachen sind Folsäure- und Vitamin-B12-Mangel, Eiweißmangelernährung sowie myelodysplastische Syndrome [15]. Das National Anemia Action Council (NAAC, http://www.anemia.org) teilt die Anämien in drei große Gruppen ein [9, 10]:

  • nutritions-/blutungsbedingte Anämie (IDA),

  • infektassoziierte Anämie (ACD) und

  • nicht sicher erklärbare Anämie („unexplained anemia“, UA).

Es wird vermutet, dass es sich bei der letztgenannten Gruppe in vielen Fällen um ein noch nicht sicher diagnostiziertes myelodysplastisches Syndrom, eine nichterkannte ACD oder eine Frühform der renalen Anämie handeln könnte [7].

In den letzten Jahren konnte in mehreren Untersuchungen belegt werden, dass die Anämie im Alter mit einer erhöhten Morbidität verbunden ist. So untersuchten Beard et al. [4] den Zusammenhang zwischen Anämie und kognitiven Defiziten bei Alzheimer-Patienten. Sie zeigten, dass unter den Patienten mit Anämie der Anteil an Alzheimer-Erkrankungen doppelt so hoch war als unter den Patienten ohne Anämie [4].

Salive et al. [15] kamen in ihrer Studie zu dem Schluss, dass eine umgekehrt proportionale Beziehung zwischen Anämie und Krankenhausaufenthalten bei älteren Patienten besteht: Die Patienten, die während des betrachteten Jahres nicht im Krankenhaus gewesen waren, hatten einen signifikant höheren Hämoglobinspiegel als diejenigen, die stationär behandelt werden mussten [15].

Der Zusammenhang zwischen Anämie und Mortalität war Gegenstand der Untersuchung von Kikuchi et al. [12]. In der 5-jährigen Beobachtungszeit entwickelten sich sowohl in der Fall- als auch in der Kontrollgruppe Karzinome. Die Karzinompatienten mit Anämie hatten eine signifikant kürzere Überlebensrate als die der Kontrollgruppe; keiner der Probanden der Kontrollgruppe verstarb an der Karzinomerkrankung [12].

Bisher gibt es keine deutsche Leitlinie zur Anämie im höheren Lebensalter

Doch obschon die negativen Auswirkungen der Anämie im Alter bekannt sind, gibt es bisher in Deutschland keine Empfehlungen oder Leitlinien zu Diagnostik und Therapie der Anämie im höheren Lebensalter. Dies wurde in Deutschland von Wedding et al. [18] schon 2007 kritisiert.

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) wurde 1962 gegründet, um gemeinsame Interessen gegenüber staatlichen Institutionen und Körperschaften der ärztlichen Selbstverwaltung besser vertreten zu können. Die von den einzelnen wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften erarbeiteten Leitlinien zu Diagnostik und Therapie werden seit 1995 auf Anregung des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen durch die AWMF koordiniert. Dabei werden die Leitlinien entsprechend ihrer Entwicklungsstadien gekennzeichnet und im World Wide Web veröffentlicht. Auf diese Weise sind sie jedem Interessenten frei zugänglich (http://www.awmf.org/leitlinien). Während sich die AWMF auf die Publikation und Weiterentwicklung von Leitlinien auf nationaler deutscher Ebene konzentriert, werden auf internationaler Ebene Leitlinien im National Guideline Clearinghouse (NGC, http://www.guideline.gov) und dem Guidelines International Network (G-I-N, http://www.g-i-n.net) publiziert, an dessen Gründung die AWMF beteiligt war.

Hinsichtlich des demographischen Wandels ist in naher Zukunft mit einer wachsenden Anzahl von Anämiefällen im höheren Lebensalter zu rechnen. Daher ist es für Ärzte, die sich der Versorgung älterer Menschen gewidmet haben, wichtig, über Orientierungshilfen für ethisch vertretbare und kosteneffektive Diagnostik- und Therapieoptionen zu verfügen. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung sollen zur Formulierung einer solchen Leitlinie Anstoß geben.

Material und Methoden

Durchgeführt wurde eine Onlinerecherche der nationalen Leitlinien der AWMF sowie der internationalen Leitlinien des NGC und des G-I-N. Die AWMF archivierte im März 2011 bundesweit insgesamt 689 geltende Leitlinien nationaler Fachgesellschaften. Das G-I-N archivierte im selben Zeitraum 7414 internationale Leitlinien, das NGC 2327. Folgende Suchbegriffe kamen zum Einsatz:

  • bei AWMF „Anämie“, „Geriatrie“, „Anämie Geriatrie“ und

  • bei G-I-N/NGC „anemia“, „geriatrics“, „anemia geriatrics“.

Zudem wurden die Internetseiten der spanischen (Sociedad Española de Geriatría y Gerontología, SEGG), französischen (Société Française de Gériatrie et Gérontologie, SFGG), englischen (British Geriatric Society, BGS), italienischen (Società Italiana di Gerontologia e Geriatria, SIGG) und europäischen (European Union Geriatric Medicine Society, EUGMS) Geriatrie-Fachgesellschaften auf Leitlinien bzw. Empfehlungen zu Therapie und Diagnostik der Anämie im höheren Lebensalter durchsucht.

Zunächst wurde die Anzahl der aufgerufenen Leitlinien notiert. Danach wurden diese Leitlinien hinsichtlich des thematischen Bezugs zur „Anämie im Alter“ überprüft.

Die AWMF-Leitlinien, die sich unter der Begriffskonstellation „Anämie Geriatrie“ aufriefen ließen, wurden zusätzlich im Hinblick auf Empfehlungen zu diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen durchgesehen. Unter „Empfehlungen für diagnostische Maßnahmen“ fielen alle ausdrücklich genannten Empfehlungen wie die Anfertigung eines Blutbilds, die Hämoglobinbestimmung oder auch weiterführende laborchemische Anämiediagnostik (z. B. Blutausstrich, Eisenstatus, Hämoglobinelektrophorese). Zu „Empfehlungen für therapeutische Maßnahmen“ gehörten konkret genannte Empfehlungen wie die Gabe von Eisenpräparaten, Erythropoetin oder die Verabreichung von Erythrozytenkonzentraten.

Ergebnisse

Die Eingabe der Suchbegriffe bei der jeweiligen Datenbank brachte folgende Ergebnisse:

Von 689 AWMF-Leitlinien ließen sich 62 mit dem Suchbegriff „Anämie“ aufrufen, 11 mit dem Suchbegriff „Geriatrie“ und eine mit der Suchbegriffkonstellation „Anämie Geriatrie“.

Von den 7414 G-I-N Leitlinien ließen sich 40 mit dem Suchbegriff „anemia“ aufrufen, 38 mit dem Suchbegriff „geriatrics“ und keine zur Suchbegriffkonstellation „anemia geriatrics“.

Weder unter den AWMF-Leitlinien noch unter den G-I-N-Leitlinien bezieht sich eine thematisch und inhaltlich schwerpunktmäßig auf Aspekte der Anämie im Alter.

Die einzige AWMF-Leitlinie, die sich unter der Suchbegriffkonstellation „Anämie Geriatrie“ aufrufen ließ, ist die Nationale VersorgungsLeitlinie Chronische Herzinsuffizienz [2], die sich schwerpunktmäßig mit der chronischen Herzinsuffizienz befasst. Sie ließ sich ebenfalls unter dem Suchbegriff „Anämie“ aufrufen und wurde dort hinsichtlich Empfehlungen zu Diagnostik und Therapie analysiert.

Von den 2327 NCG-Leitlinien ließen sich 214 mit dem Suchbegriff „anemia“ aufrufen, 366 mit dem Suchbegriff „geriatrics“ und 21 zu der Suchbegriffkonstellation „anemia geriatrics“. Von diesen 21 Leitlinien beinhaltete eine konkrete Angaben zu Diagnostik und Therapie der Anämie bei dauerhaft pflegebedürftigen älteren Patienten in Seniorenheimen [14].

Die gesichteten Internetseiten der anderen europäischen Fachgesellschaften ergaben nur bei einem Teil der Gesellschaften Links zu erstellten Leitlinien.

  • SEGG: 14 Leitlinien, keine zu Anämie im höheren Lebensalter

  • SFGG: 0 Leitlinien

  • BGS: 10 Leitlinien und 36 „good practice guides“, keine zu Anämie im höheren Lebensalter

  • SIGG: 0 Leitlinien

  • EUGMS: 4 Leitlinien, keine zu Anämie im höheren Lebensalter

Diskussion

Die Ergebnisse der Untersuchung lassen darauf schließen, dass sich trotz hoher Prävalenz und nachgewiesener negativer Beeinflussung von Morbidität und Mortalität durch die Anämie im höheren Lebensalter der Blick der Fachgesellschaften nur langsam für diese Problematik schärft. Erste Ergebnisse aus Untersuchungen der eigenen Arbeitsgruppe ergaben, dass im nichtgeriatrischen, stationären Bereich kein einheitliches diagnostisches und therapeutisches Prozedere bei geriatrischen Patienten mit einer Anämie besteht [13, 20]. Diesbezügliche Daten für den ambulanten hausärztlichen Bereich in Deutschland fehlen völlig.

Wichtig sind strukturierte Empfehlungen für den klinischen Alltag

Eine kroatische Arbeitsgruppe analysierte den Effekt einer gezielten hämatologischen Schulung von Hausärzten hinsichtlich Abklärung und Behandlung von Eisenmangelanämie bei ambulanten Patienten. Sie konnte zeigen, dass eine entsprechende Schulung der Hausärzte zu einer signifikanten Verkürzung der Zeit bis zur Diagnosefindung und Therapiebeginn führte [3]. Eine englische Studie untersuchte bereits 2004 den Umgang von Hausärzten mit Eisenmangelanämie und den entsprechenden diagnostischen Maßnahmen zum Ausschluss einer gastrointestinalen Genese. Sie ergab, dass die Prävalenz gastrointestinaler Blutungsquellen im ambulanten und stationären Bereich vergleichbar ist, die Diagnostik im ambulanten Bereich jedoch aufgrund verzögerter Durchführung und Abklärungsbereitschaft deutlich verzögert wird [19]. Auch wenn das Patientengut in diesen beiden Studien nicht schwerpunktmäßig geriatrisch war, so unterstreichen die Ergebnisse dennoch die Bedeutung und Nachhaltigkeit von strukturierten Diagnostik- und Therapieempfehlungen für den klinischen Alltag.

Hinsichtlich der Formulierung einer solchen Empfehlung für die Diagnostik und Therapie der Anämie im höheren Lebensalter stellen sich zwei Fragen:

1) Soll die Empfehlung für selbstständig lebende ältere Personen mit einer asymptomatischen Anämie oder für geriatrische Patienten mit Komorbiditäten und symptomatischer Anämie erarbeitet werden?

2) Welche geriatrischen Besonderheiten (Outcomes) müssen unabhängig von der Ursache der Anämie berücksichtigt werden?

Hinsichtlich Frage 1 erscheint es den Autoren plausibler, eine Empfehlung zu formulieren, die sich auf die Gruppe der selbstständig lebenden älteren Personen mit einer asymptomatischen Anämie bezieht. Denn hier spielt der Präventionsaspekt zum Erhalt der Alltagstauglichkeit und Früherkennung bzw. möglicher Vermeidung kostenintensiver Komorbiditäten und Pflegebedürftigkeit eine besondere Rolle. Bei diesen Personen wird eigenen klinischen Erfahrungen zufolge eine Anämie eher zufällig gefunden und bei fehlender Symptomatik auch nicht zwangsläufig eine weiterführende Diagnostik angeschlossen. Die Kriterien für oder gegen eine weiterführende Diagnostik sind unbekannt. Studiendaten liegen dazu in Deutschland noch nicht vor. Gegenwärtig wird jedoch vom Lehrstuhl für Geriatrie der Universität zu Köln in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Hochschule Hannover eine entsprechende Datenerhebung vorbereitet.

Der Erhalt von Alltagstauglichkeit und Lebensqualität ist entscheidend

Die Autoren erachten es andererseits als sinnvoll, bei den geriatrischen Patienten mit symptomatischer Anämie bei bekannten Komorbiditäten, wie chronische Nieren- oder Herzinsuffizienz oder Tumorerkrankungen, in Analogie zu jüngeren Patienten auf die Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften zur Supportivtherapie zurückzugreifen [2, 6].

Hinsichtlich Frage 2 muss der besonderen Situation des älteren Menschen mit limitierter Lebenserwartung Rechnung getragen werden. Hier spielt die individuelle Entscheidung des Patienten ebenso eine entscheidende Rolle wie der Erhalt von Alltagstauglichkeit und Lebensqualität. Um den betroffenen Patienten adäquat beraten zu können, muss nach Ansicht der Autoren das Ergebnis eines multifunktionalen geriatrischen Basisassessments (MGBA) mit einbezogen werden. Konzentriert man sich nur auf die Gruppe der selbstständig lebenden älteren Personen mit einer asymptomatischen Anämie, sollte gemeinsam mit dem Patienten der Befund der Anämie besprochen und ein Vorschlag zu Diagnostik und Therapie nach Erhebung und in Abhängigkeit vom MGBA unterbreitet werden. Hinsichtlich der optionalen Diagnostik- und Therapiemaßnahmen sollte eine Orientierung an der NGC-5655-Leitlinie [14] erfolgen.

Fazit

  • Es erscheint plausibler, eine Empfehlung zu formulieren, die sich auf die Gruppe der selbstständig lebenden älteren Personen mit einer asymptomatischen Anämie bezieht.

  • Bei geriatrischen Patienten mit symptomatischer Anämie und bekannten Komorbiditäten sollte auf die Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften zur Supportivtherapie zurückgegriffen werden.

  • Eine gute Zusammenarbeit zwischen Allgemeinmedizinern, Geriatern und ggf. Hämatologen könnte im Sinne des Patienten die Prävention und längerfristige Kostendämpfung erleichtern.

  • Die Autoren erachten es für sinnvoll und notwendig, eine entsprechende Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der asymptomatischen Anämie im höheren Lebensalter interdisziplinär unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie zu erarbeiten.