In Deutschland ist eine Zunahme alter Menschen eine Tatsache. Auch die Zunahme altersabhängiger Erkrankungen ist aufgrund dieser Entwicklung unausweichlich. Ziel dieser Arbeit ist es, das Ausmaß in der Ophthalmologie zu prognostizieren.

Hintergrund und Ziel

Aufgrund der demographischen Entwicklung in Deutschland ist eine Zunahme alter Menschen in Deutschland sicher (Abb. 1). 2050 wird jeder dritte Deutsche über 60 Jahre alt sein, die Zahl der 80-Jährigen wird sich verdreifachen [20]. Daher ist die Zunahme altersabhängiger Erkrankungen unausweichlich. Ziel dieser Arbeit ist es, das Ausmaß im Bereich der Ophthalmologie zu prognostizieren. Wie groß wird die Anzahl Blinder und Sehbehinderter in den nächsten 25 Jahren sein?

Abb. 1
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Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland am 31.12.01 und am 31.12.50 [20]

Literaturrecherche

Auf der Suche nach Prävalenz- und Inzidenzangaben zu Erblindung und Sehbehinderung in Deutschland, ergab die Literaturrecherche im Onlinekatalog der PubMed der amerikanischen National Library of Medicine (http://www.ncbi.nlm.nih.gov; Stand: 15.05.06) 135 Ergebnisse. Suchbegriffe: [Title/Abstract] prevalence or incidence or epidemiology or causes and [Title/Abstract] blind or blindness or visual loss or low vision or visually impaired or visual impairment and [text word] Germany. Außerdem erfolgte eine ausführliche Internetrecherche nach Homepages von Verbänden und Interessengemeinschaften Blinder und Sehbehinderter.

Definition von Blindheit, hochgradiger Sehbehinderung und Sehbehinderung in Deutschland

Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung hat in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz [3] in Anlehnung an die Bestimmungen der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) die Begriffe „blind“, „hochgradig sehbehindert“ und „sehbehindert“ für Deutschland definiert (Tab. 1). Schwere Störungen des Sehvermögens, die einer Beeinträchtigung der Sehschärfe in den angegebenen Visus-Grenzen gleich zu achten sind, sind für „Blindheit“ in Form von Fallgruppen auf Bundesebene definiert. „Hochgradige Sehbehinderung“ dagegen ist nur und nicht immer auf Landesebene definiert. Dadurch erklären sich abweichende Definitionen auf Bundes- und Landesebene [16] bzw. zwischen einzelnen Bundesländern.

Tab. 1 Definition von Blindheit, hochgradiger Sehbehinderung und Sehbehinderung

In der deutschen Literatur und Forschung finden die gesetzlichen Definitionen Anwendung. Im internationalen Vergleich entspricht die Gruppe der Blinden und hochgradig Sehbehinderten der WHO Definition Grad 3,4 und 5 und die der Sehbehinderten insgesamt der WHO Definition Grad 1 und 2.

Datenlage in Deutschland

Studien der letzten 15 Jahre bezüglich Prävalenz und Inzidenz Blinder und Sehbehinderter in Deutschland sind in Tab. 2 zusammengefasst. In den Übersichtsarbeiten zu WHO-Daten über Blindheit und Sehbehinderung [14, 18, 23] finden deutsche Daten bis auf eine Ausnahme [6] keine Erwähnung.

Tab. 2 Studien zur Prävalenz und Inzidenz von Erblindung in Deutschland

Datengrundlage aller Arbeiten sind Blindengeldbescheinigungen der jeweiligen Leistungsträger der Länder. Da die materielle Versorgung Betroffener in Deutschland relativ gut ist, kann angenommen werden, dass sich ein großer Teil der Anspruchsberechtigten auch registrieren lässt. Allerdings kommen in den Bundesländern zum einen verschiedene Definitionen von hochgradiger Sehbehinderung zur Anwendung (s. o.). Zum anderen sind die Vorraussetzungen zur Gewährung von Blindengeld, z. T. Landespflegegeld genannt, unterschiedlich. Nur in Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfahlen, Sachsen und Sachsen-Anhalt wird Blindengeld auch an hochgradig Sehbehinderte gezahlt [4]. In den restlichen 10 Bundesländern können hochgradig Sehbehinderte somit nicht über die Blindengeldbescheinigungen erfasst werden. Andererseits vermuten Gräf et al., dass gerade in Bundesländern, deren Blindengeldgesetz den Begriff der wesentlichen Sehbehinderung nicht vorsieht, die Kriterien bei grenzwertiger Sehbehinderung nachgiebiger ausgelegt werden [6]. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband schätzt die Zahl der Blinden in Deutschland derzeit auf rund 145.000, basierend auf den in Tab. 3 genannten Annahmen. Man muß aber davon ausgehen, dass in der geschätzten Zahl von 145.000 Blinden, auch hochgradig Sehbehinderte enthalten sind. Der Deutsche Blinden und Sehbehinderten Verband DBSV schätzt die Zahl der Blindengeldempfänger auf Nachfrage aktuell auf etwa 120.000. 1992 gab das statistische Bundesamt die Zahl von 112.000 Blindengeldempfängern an [19]. Nach Aussage des DBSV wird von vielen Betroffenen im Senioren- und hohen Seniorenalter kein Nachteilsausgleich oder Schwerbehindertenausweis beantragt. Andere sind sich ihrer Sehbehinderung nicht bewusst oder möchten sie verdrängen. So wird nach Hochrechnungen, Erfahrungs- und Schätzwerten aus den DBSV-Landesvereinen von einer Dunkelziffer von 5000 Blinden ausgegangen. Hinzu kommen 10.000 Kriegsblinde und 10.000 Frührentner wegen Unfall am Arbeitsplatz. Denn ist die Ursache der Sehschädigung Folge einer Kriegs- oder Wehrdienstschädigung, eines Verbrechens, einer staatlichen Impfmaßnahme oder eines Berufsunfalls/einer Berufskrankheit, sind die Leistungsträger der Länder nicht zuständig [4]. In Tab. 3 werden die Angaben des DBSV mit denen der Schwerbehindertenstatistik des Statistischen Bundesamtes von 2003 verglichen [22].

Tab. 3 Anzahl Blinder und Sehbehinderter in Deutschland

Die Schwerbehindertenstatistik unterschätzt mit 130.178 Blinden und hochgradig Sehbehinderten sicherlich die wahren Gegebenheiten, da Blinde und Sehbehinderte ohne Schwerbehindertenausweis in der Statistik nicht erfasst werden. Laut Angaben des Blinden- und Sehbehindertenverbands (1996) haben ca. 95% der Betroffenen einen Schwerbehindertenausweis [16]. Lafuma et al. [12] nennen in ihrer Arbeit den Anteil der nichtregistrierten Sehbehinderten in Deutschland mit 10,8% und berufen sich dabei auf die Homepage des DBSV vom April 2004. Berücksichtigt man den Anteil von 10,8% Nichtregistrierten, ergeben sich knapp 145.000 Blinde und hochgradig Sehbehinderte. Sehbehinderte, bei denen die Sehbehinderung nicht die schwerste Art der Behinderung ist, werden in der Statistik ebenfalls nicht aufgeführt, da mehrfach behinderte Menschen nur entsprechend ihrer schwersten Behinderung erfasst werden. Da Blinde und hochgradig Behinderte immer mit einem Grad der Behinderung von 100% erfasst werden, kann angenommen werden, dass hier vor allem die Gruppe der sonstigen Sehbehinderten betroffen ist. Rechnet man die Prävalenzangaben der WHO für Europa auf Deutschland um, ergibt sich eine höher geschätzte Zahl von 164.000 Blinden und hochgradig Sehbehinderten [1]. Zu beachten ist, dass für die WHO-Region Eur-A nur Studien aus Dänemark, Finnland, Island, Irrland, Italien, Niederlande und Großbritannien eingingen [18]. Im europäischen Vergleich aber kann die Prävalenz von Sehbehinderung in Deutschland als unterdurchschnittlich eingestuft werden, wie Lafuma et al. [12] zeigen (Tab. 4). Zu berücksichtigen ist, dass Lafuma et al. jeweils die landesspezifische Definition von „Blindheit“ zugrunde legen, die in Deutschland mit Visus ≤0,02 strenger ist als in den 3 anderen Ländern.

Tab. 4 Anteil Sehbehinderter insgesamt im Vier-Länder-Vergleich nach Lafuma et al. [12]

Prävalenz von Blindheit und Sehbehinderung in Deutschland – Prognose bis 2030

Aufgrund einer fehlenden altersspezifischen Prävalenzstudie in Deutschland ist die Schwerbehindertenstatistik des Statistischen Bundesamtes von 2003 [22] die einzige aktuelle Quelle altersbezogener Fallzahlen Blinder und Sehbehinderter und somit die einzige mögliche Datengrundlage für eine Hochrechnung der Prävalenz. Die oben genannten Definitionen auf Bundesebene sind Grundlage dieser Schwerbehindertenstatistik. Grundlagen der Prognose für die Prävalenz von Blinden und Sehbehinderten sind die Statistik der schwerbehinderten Menschen 2003, erschienen März 2005 [22], und die 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, mittlere Variante 5, erschienen Juni 2003 [21]. Beides stammt vom Statistischen Bundesamt Wiesbaden (http://www.destatis.de). Der Prognose liegt die Annahme zugrunde, dass die Prävalenz für Erblindung und Sehbehinderung auf dem Stand von 2003 bleibt. Wegen der bekannten Unterschätzung der Ausgangsdaten der Schwerbehindertenstatistik von 2003 wird entschieden, die Prognose als gesicherte untere Grenze anzusehen. Sicherlich ist ein Zuschlag der 11% Nichtregistrierter gerechtfertigt. Als bester Schätzer kann die Zahl der Blinden und hochgradig Sehbehinderten angesehen werden. Zum einen entspricht er der WHO-Definition für Blinde und ist so zum internationalen Vergleich am besten geeignet. Zum anderen kommt er, insbesondere nach Addition der 11% Nichtregistrierten, der vom DBSV genannten Zahl von 145.000 Blinden nahe. Diese Zahl wiederum beinhaltet auch hochgradig Sehbehinderte, denn bei den vom DBSV genannten Blindengeldempfängern sind hochgradig Sehbehinderte aus den 6 Bundesländern enthalten, die Blindengeld auch bei wesentlicher Sehbehinderung zahlen. Für die restlichen Bundesländer kann vermutet werden, dass die Kriterien zur Gewährung von Blindengeld auf Landesebene nachgiebiger gehandhabt werden, als in der strengen gesetzlichen Definition auf Bundesebene vorgeschrieben.

Bis 2030 gibt es über ein Drittel mehr Blinde

In Abb. 2 wird die Prognose der Anzahl Blinder und Sehbehinderter bis 2030 gezeigt (gesicherte untere Grenze). Demnach wird es 2020 mindestens 165.000 Blinde und hochgradig Sehbehinderte geben, und 2030 werden es mindestens 178.000 sein. Die wahren Zahlen liegen bei den Blinden mit großer Sicherheit um ca. 11% höher, bei den Sehbehinderten ist der Prozentsatz wahrscheinlich noch größer.

Abb. 2
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Anzahl der Blinden und Sehbehinderten in Deutschland 2003 und prognostiziert bis 2030

Der geschätzte Zuwachs beträgt über den Betrachtungszeitraum von 2003–2030 bei den Blinden 34%, bei den Blinden und hochgradig Sehbehinderten 36% und bei den Sehbehinderten insgesamt 34%. Die Prävalenz Blinder und hochgradig Sehbehinderter wird von 157/100.000 im Jahr 2003 auf 219/100.000 für 2030 prognostiziert und die der Sehbehinderten insgesamt von 417/100.000 für 2003 auf 567/100.000 für 2030 vorausberechnet. Die Ergebnisse stimmen mit der Prognose von Pfau und Kupsch für 2000–2020 überein, deren Datengrundlage 10 Jahre älter war [16].

Inzidenz von Blindheit und Sehbehinderung in Deutschland – Prognose bis 2030

Datengrundlage der Hochrechnung der Inzidenzen für Neuerblindungen ist die Arbeit von Trautner et al. (Tab. 4; [24]) sowie die 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, mittlere Variante 5, [21]. Angenommen werden gleich bleibende Inzidenzen für Erblindung allgemein und für Erblindung durch AMD, Glaukom und diabetischer Retinopathie wie in den Jahren 1994–1998.

Bis 2030 gibt es über 60% mehr Neuerblindungen

Aufgrund der zwischen 1994 und 1998 in Württemberg-Hohenzollern neu registrierten Blindengeldempfängern nennen Trautner et al. 9939 Neuerblindungen pro Jahr. Ausgehend von dieser Zahl ist bei den Neuerblindungen bis 2030 ein Zuwachs von 62% zu erwarten (Abb. 3). Die Inzidenz von 12,3/100.000 wird auf 26,8/100 000 bis 2030 prognostiziert.

Abb. 3
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Anzahl der Neuerblindungen in Deutschland 2003 und prognostiziert bis 2030

Betrachtet man nach Trautners Zahlen [24] die häufigsten Ursachen für Neuerblindungen in Deutschland (Abb. 4), zeichnet sich für die altersbedingte Makuladegeneration und das Glaukom ein enormer Anstieg von 84% bzw. 80% ab und für die diabetische Retinopathie ein Anstieg um 46% (Abb. 5).

Abb. 4
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Ursachen für Neuerblindungen in Deutschland

Abb. 5
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Anzahl der Neuerblindungen pro Jahr durch AMD, Glaukom und diabetische Retinopathie für 2003 und prognostiziert bis 2030

Die Zahl der Neuerblindungen ist dabei sicher nur die Spitze des Eisbergs. Hinter jeder Erkrankung steht ein zahlenmäßig größeres Kollektiv derer, die an der zur Erblindung führenden Erkrankung leiden. Nach Schätzung der AMD Alliance International sind in Deutschland ca. 4,5 Mio von der altersbedingten Makuladegeneration betroffen [7]. Nach Pauleikhoff und Holz [15] wird die Häufigkeit einer späten AMD mit 4–8% bei Patienten im Alter >70 Jahre angegeben [5, 8]. Zeichen einer frühen AMD fanden sich bei dieser Altersgruppe in ca. 30% einer untersuchten Normalbevölkerung [8]. Die Schätzung der Häufigkeit aller AMD-Spätformen für Deutschland liegt nach Daten internationaler epidemiologischer Studien [8, 13, 25] bei 400.000–580.000 [2]. Nach Pfau und Kupsch wird in der Gruppe der 43- bis 86-Jährigen die Zahl der an später AMD Erkrankten von rund 570.000 im Jahr 1998 auf rund 680.000 bis 2020 steigen, ein Zuwachs von 19% [16]. Auch diese Prognose stützt sich auf die Prävalenzangaben der Beaver Dam Studie [8] von 1988–1990 (USA), da für Deutschland keine altersbezogenen Prävalenzdaten existieren. Pizzarello [17] gibt in seiner Arbeit von 1987 eine Prognose bis 2020 für die USA bezüglich der zu erwartenden Patientenzahlen bei AMD, Glaukom und diabetischer Retinopathie.

Fazit für die Praxis

In Deutschland leben zurzeit rund 145.000 Blinde und ca. 500.000 Sehbehinderte. Aufgrund der alternden Bevölkerung in Deutschland muss in 25 Jahren mit einem Drittel mehr Blinden und über 60% mehr Neuerblindungen gerechnet werden. Vor allem bei der altersbedingten Makuladegeneration ist mit einem starken Anstieg zu rechnen. Die Zahl der Blinden bzw. Neuerblindeten ist nur die Spitze des Eisbergs derer, die in Zukunft an ophthalmologischen Erkrankungen leiden werden. Diese in Zukunft in der Ophthalmologie zu erwartenden Patienten sollten schon heute in gesundheitsökonomische Überlegungen einfließen. Fragen nach den Kosten einer Therapie oder eines Diagnoseverfahrens, wie sie in Zukunft immer öfter zu erwarten sind, brauchen eine solide epidemiologische Datengrundlage. Wünschenswert in der Ophthalmologie wäre eine zentrale Erfassung der Betroffenen mit einer für alle Bundesländer einheitlichen Klassifikation nach WHO Kriterien, um internationale Vergleichbarkeit zu gewähren. Durch ein offizielles Register würden Forderungen nach Forschungsförderung mehr Nachdruck erlangen und das Problem der Sehbehinderung und Erblindung würde mehr Aufmerksamkeit erhalten.