Anatomischer Hintergrund

In anatomischer Hinsicht wird jede Struktur des Körpers – abdominelle und andere Organe, Knochen, Gelenke, Muskeln, Gefäße, Nerven – von einer speziellen Faszie umhüllt, was sie von benachbarten Geweben relativ unabhängig macht. Gleichzeitig ist so für Halt und Stabilität, aber auch Mobilität gesorgt, und die verschiedenen Strukturen können untereinander in Wechselbeziehung treten. Keine Verlagerung oder Verschiebung, kein Positionswechsel, keine Veränderung von Form oder Volumen einer Struktur sind möglich, ohne dass alle anderen Strukturen – ob benachbart oder weiter entfernt – darüber informiert und in gewisser Weise in diese Vorgänge involviert werden. Dies alles dient dem Zweck, die Funktion eines jeden einzelnen Körperteils zu unterstützen und aufrechtzuerhalten und insgesamt die Homöostase des Organismus zu garantieren, ohne die kein Leben möglich ist.

Bei jeder Körperbewegung verschiebt sich jeder einzelne Körperteil, jede einzelne Struktur adäquat zu den Nachbarstrukturen; am Ende befinden sich alle wechselseitig in einer optimalen Position. Auf diese Weise ist die Funktion der einzelnen Teile weiter gewährleistet, ohne dass die Bewegung des Körpers beeinträchtigt wird. Dies nennen wir Mobilität.

Daneben erfährt jedes innere Organ bei seiner Arbeit vegetativ gesteuerte Veränderungen in Form und Volumen, auf die eine geeignete Antwort der Nachbarorgane folgen muss, um ein störungsfreies Funktionieren zu ermöglichen. Dies nennen wir Motilität.

Soweit stimmen wir mit den Positionen der klassischen Osteopathie überein. Es ist klar, dass man jede sog. funktionelle Läsion – also jeden Mobilitätsverlust einer Struktur – als pathologisch ansehen muss. Auf jede „pathologische Fixation“ einer Struktur reagieren kompensativ andere, benachbarte oder entferntere Strukturen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.

Solche Fixierungen können durch eine Entzündung oder einen Infekt bedingt sein, wodurch vermehrt interstitielle Flüssigkeit gebildet wird: Die Folge kann eine Verklebung zweier benachbarter Faszien sein. Andererseits kann es auch nach Traumen aufgrund von Serumverlusten zu Verklebungen kommen („Saugeffekt“). Von Adhärenz im eigentlichen Sinne schließlich spricht man, wenn als Folge von Vernarbungen Gewebs- und Faszienschichten miteinander verschmolzen sind, was ebenfalls zu faszialen funktionellen Blockierungen führt.

Da die einzelnen Körperteile durch das Fasziensystem zu einem einheitlichen Ganzen verbunden sind, überträgt sich nach jeder Läsion eine diesbezügliche Information „mechanisch“ zu anderen Strukturen, was wiederum die Voraussetzung für weitere Läsionen schafft (Läsionskette). Alles bewegt sich, modifiziert sich, gleicht sich an und remodelliert sich: programmierte Dynamik, die sich präziser anatomischer, „mechanischer“ Wege bedient.

Grundlagen einer „inneren Posturologie“

Besonders in Italien und Frankreich ist es inzwischen üblich geworden, von Haltung oder PosturFootnote 1 zu sprechen. Als Wissenschaft untersucht die Posturologie das Verhältnis des Körpers zu seiner Umgebung, genauer: sie setzt sich mit dem Körper in seiner „räumlichen Konfiguration“ auseinander, wozu die Ökonomie der Bewegungen und die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts gegenüber der Schwerkraft gehören.

Dieses Konzept lässt sich erweitern: Auf einem Masterkurs für Posturologie und manuelle Medizin, den ich 2004 an der La-Sapienza-Universität in Rom abgehalten habe, führte ich den Begriff der „inneren Postur“ in die Diskussion ein. Denn warum sollte man allein von den Beziehungen des Körpers zur Außenwelt sprechen und nicht auch von seinem Bezug zur „Innenwelt“, der für das harmonische, zielgerichtete und variable Verhältnis zwischen dem Körper und den ihn bildenden Teilen konstitutiv ist? Die innere Postur charakterisiert, beeinflusst und „pathologisiert“ die äußere: Demnach sollte sich der Körper zuerst in einem möglichst optimalen Gleichgewicht mit sich selbst befinden, bevor er sich dann – und erst dann – auf die Beziehungen zur Außenwelt einlassen kann.

Behälter-Inhalt-Konzept

Für das Verständnis der folgenden Ausführungen hat sich eine Art mechanisches Modell als hilfreich erwiesen. Man stelle sich dazu den äußeren Körper – also Knochen, Muskeln, Gelenke – als einen Behälter vor und z. B. die Organe der Brusthöhle und des Abdomens als seinen Inhalt. Dann wäre, embryologisch gesehen, das periphere und zentrale Nervengewebe gewissermaßen als Ursubstanz anzusprechen und die spinale und kraniale Dura mater als ihr Behälter. Die Dura mater ihrerseits ist der Inhalt von Wirbelsäule und Hirnschädel. Entsprechend werden auch die thorakalen, lumbalen und sakralen Körperabschnitte von Behältern zu Inhalten, nämlich zu den Eingeweiden der Brust- und Abdominalhöhle.

Im Rahmen eines Konzepts, das die Beweglichkeit des Körpers, seine Dynamik und Variabilität in den Mittelpunkt stellt, muss auch darauf hingewiesen werden, dass sich ein Behälter nicht sofort samt seinem Inhalt bewegen kann: Im Sinne einer viszeralen Mechanik bewegt er sich zuerst in Relation zum Inhalt und erst dann mit ihm. Die Bewegungsrichtung des Inhalts ist der des Behälters grundsätzlich entgegengesetzt, und zwar immer und auf allen Ebenen.

Kann man sich beispielsweise vorstellen, dass unser Herz oder die rechte Lunge dieselbe Position, die sie in Ruhe in aufrechter Haltung einnehmen, auch in der Flexion oder der Rotation des Rumpfes beibehalten? In der Flexion bewegen sich Herz und Mediastianum eher kongruent zum Körper, so dass sie in ihrer Funktion nicht beeinträchtigt werden. Die dorsalen Wirbel und die Rippen verschieben sich in gewisser Weise, wodurch sich die Spannung bei den Faszien und den verschiedenen Bändern verändert – infolgedessen verändern sich auch Relation und Position der intrathorakalen Organe zueinander.

Will man über die physiologische Bewegung im Raum sprechen, so sollte man sich die drei Achsen und drei Ebenen vergegenwärtigen, mit denen sich sechs Bewegungsmuster beschreiben lassen (Tab. 1).

Tab. 1 Grundlagen der räumlichen Bewegung

Für den myoosteoartikulären Apparat ist dieses Konzept weitgehend anerkannt. Warum sollte man es also nicht auf weitere Körperteile wie Eingeweide, Nervensystem, Hirn- und Gesichtsschädel ausdehnen? Die klassische Osteopathie hat die sog. Motilität dahingehend definiert, dass jeder einzelnen Struktur eine bestimmte vitale, rhythmische und konstante Bewegung zugeordnet ist, die sich auf eine Art „embryonales Gedächtnis“ zurückführen lässt. Der Magen zum Beispiel rotiert in medialer Richtung auf der Längsachse, wobei er gleichzeitig eine Flexion auf der Transversalachse und eine Inklination nach links auf der Sagittalachse ausführt: Es handelt sich um eine Kombinationsbewegung, die man „Viszeralflexion“ nennen könnte. Sie wird durch eine gegenläufige Bewegung in den drei entgegengesetzten Richtungen ergänzt, die wie die erstere in rhythmischen Phasen abläuft, und zwar sieben- bis achtmal pro Minute. Diese Bewegungsabfolge nennt man viszerale Flexions-Extensions-Bewegung.

Das bisher Gesagte gilt für den Körper in Ruhe. Wenn er sich bewegt, sich z. B. in eine Richtung dreht, dann überwiegt in den Eingeweiden eine analoge Rotationsbewegung – zum Nachteil aller anderen Bewegungskomponenten. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Summe der möglichen Bewegungen einer funktionellen Einheit immer relativ konstant bleibt; die Verstärkung der Bewegung in eine Richtung führt dazu, dass allen anderen Richtungen diese „Bewegungsmenge“ entzogen wird. Im Sinne des weiter oben dargestellten Behälter-Inhalt-Prinzips muss also die Viszeralbewegung entgegengesetzt zur Richtung der Körperbewegung erfolgen.

Pathologische Fixationen

Was geschieht bei einer funktionellen Läsion? Die betroffene Struktur wird bei ihrer Verletzung in ihrer jeweiligen Position festgehalten, d. h., im Augenblick ihrer Fixierung erstarrt sie an einem präzisen Punkt ihrer Bewegung: entweder in der Rotation oder in der Flexion/Extension oder in der Inklination. Andere Möglichkeiten gibt es nicht.

Wenn sich beispielsweise der Magen bei einer Rechtsdrehung fixiert (das Warum soll hier keine Rolle spielen), verliert er seine Fähigkeit zur Flexion und Inklination. Er liegt jetzt gewissermaßen „schief“ in einem „geraden“ Körper und kann erst durch eine Körperlinksdrehung wieder „in Phase“ gebracht werden – und genau das geschieht. Diese Kompensation wird zunächst von den benachbarten Körperteilen bewirkt, die in der Umgebung der Läsion eine Linksrotation einleiten. Die für eine Bewegung verantwortlichen Strukturen sind immer die Muskeln: In unserem Beispiel wird ein Teil der Zwerchfellmuskulatur kompensatorisch tätig. Jeder Muskel wirkt auf knöcherne Strukturen ein und ist daher in der Lage, Primärinformationen an bestimmte Gelenksegmente (hauptsächlich Wirbelgelenke) weiterzuleiten. Um zu dem Behälter-Inhalt-Konzept zurückzukehren: Eine Modifikation auf der Ebene mehrerer Wirbelsegmente ist mit einer Bewegung der spinalen Dura in entgegengesetzter Richtung korreliert, dem letzten Glied in der Kette der mechanischen Transmission. Wenn ein solcher Reiz vom Dura-mater-System nicht adäquat kompensiert werden kann – z. B. durch Prävalenz der Primärantwort vonseiten der kranialen Dura mater –, sind die Bedingungen für die Dysfunktion eines Wirbelsäulensegments geschaffen. Über nervale Reflexe stimuliert diese Dysfunktion ihrerseits motorische oder vegetative Reflexe etc. im Sinne einer „Läsionskette“, einer logischen Abfolge von Läsionen.

Voraussetzung für diese Informationsmechanismen ist ein System ubiquitärer nichtdehnbarer Faszien, sodass sich Informationen im Körper wie in einem in sich geschlossenen mechanischen Kreislauf verbreiten können. Die Informationsübertragung verläuft dabei auf logisch durchgeschalteten, oft sogar vorhersagbaren Verbindungswegen. Dem peripheren und zentralen Nervensystem, das in der Art eines Stromkreises organisiert ist, kommt bei diesen Vorgängen die Rolle einer Kontrollinstanz zu, mit den Aufgaben der Koordination, der Transmission und der Supervision.

Ursachen der Dekompensation

Unser Körper hat die „Intelligenz“, in toto auf die Information einer umschriebenen Läsion zu reagieren. Er begegnet einer örtlichen Dysfunktion mit einer lokalen oder generalisierten Antwort. Das ist das Gesetz der Kompensation. Aufgrund der Formbarkeit und Plastizität der Gewebe und weil der Körper Energie sparen will, hört die funktionelle Kompensation mit der Zeit auf, bloße Reaktion zu sein, sondern wird zu einem stabilen Element der Gewebsveränderung, die als „strukturelle Adaption“ nicht mehr spontan reversibel ist.

Wenn es dem Körper wie gezeigt gelingt, jede Läsion zu kompensieren, wie kann es dann im Rahmen unseres Konzepts überhaupt zu Krankheiten kommen? Zunächst ist hierauf zu erwidern, dass die Läsionen nicht einzeln und isoliert auftreten. Das Leben ist lang, Stress, Abnutzung und Verschleiß sind allgegenwärtig. Zwar ist wahr, dass jede Läsion durch eine mechanisch-anatomische Kettenreaktion kompensiert werden kann, die stets läsionsgerichtet abläuft. Oft aber müssen mehrere Läsionen kompensiert werden, die aus verschiedenen Gründen zu verschiedenen Zeiten aufgetreten sind: Mit einer entsprechend gerichteten Reaktion wird jede einzelne versuchen, die gegebene Herausforderung angemessen zu beantworten.

Man kann sich leicht vorstellen, was geschieht, wenn mehrere solcher Kompensationssketten in ein und demselben Punkt des Körpers aufeinandertreffen: Eine bestimmte Struktur sieht sich dann mehreren Kräften ausgesetzt, die auch untereinander inkohärent sein können, und gerät in eine Stresssituation, die ihre Dekompensation bewirkt. Jedes Gewebe wird unter Stressbedingungen in einer Weise reagieren, die seinen strukturellen Besonderheiten entspricht (Tab. 2).

Tab. 2 Reaktionsweisen verschiedener Gewebe unter Stress

Eine Dekompensation kann nicht nur aufgrund des Aufeinandertreffens zweier mechanischer Reaktionsketten entstehen, sondern es ist auch möglich, dass sowohl eine mechanische als auch eine nerval-reflektorische Reaktion miteinander kollidieren, die beide durch verschiedene Läsionen hervorgerufen worden sind; und schließlich ist noch ein Kurzschluss zweier nerval-reflektorischer Reaktionen möglich. Eines bleibt festzuhalten: „Symptom“ steht hier synonym für Dekompensation.

Rolle der sphenobasilären Synchondrose

In diesem Zusammenhang sind einige Überlegungen zu den kranialen Strukturen wichtig. Wesentliche Erkenntnisse zur artikulären Mobilität und zur Verformbarkeit des Schädels verdanken sich der Kraniosakraltheorie Sutherlands. Allerdings ist die Physiologie des Schädels im Hinblick auf die „primäre kraniale Respiration“ bzw. den „primären respiratorischen Mechanismus“ für die funktionelle Medizin von untergeordneter Bedeutung: Damit wird nur beschrieben, in welcher Weise sich der Schädel in Relation zum hydraulischen Druck und zur Zirkulation der Zerebrospinalflüssigkeit mehr oder weniger symmetrisch verändert.

Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht dagegen ein eher mechanistisches Bild des Schädels, das sich in die vorangegangenen Beobachtungen nahtlos einfügt. So lässt sich aus den Bewegungsmöglichkeiten der sphenobasilären Synchondrose (Sychondrosis sphenobasilaris, SSB) und den diesbezüglichen Positionen zwischen Sphenoid und Okziput folgende Klassifikation ableiten:

  • Rechts- und Linkstorsion,

  • Lateroflexion nach rechts und links,

  • vertikaler Strain superior/inferior,

  • lateraler Strain, rechts und links.

Aus dem Blickwinkel der Mechanik gesehen, entspricht die Lateroflexion der Position des Körpers, die er bei Inklination auf die Frontalebene einnimmt; der Vertikalstrain entspricht der Bewegung des Körpers zur Sagittalebene hin (Flexion und Extension); und der Lateralstrain geht mit der Bewegung zur Horizontalebene kongruent (Rotation). In anderen Worten: Bewegen sich der Körper (oder Teile von ihm) in eine bestimmte Richtung, so bewegen sich Schädel und SSB in eine korrespondierende Richtung. Es genügt zu wissen, dass die Dura mater hieran maßgeblichen Anteil hat.

Alles in allem haben wir hier im Übrigem wieder nur sechs Positionen und sechs Richtungen aufgeführt – abgesehen von den Torsionsstellungen, die einen kleinen Exkurs verdienen. Nach meinen Beobachtungen ist die Rechtstorsion – im Sinne eines maximalen Gleichgewichts – mit der Neutral- oder Ruheposition korreliert; die Reaktionsfähigkeit des Körpers ist in dieser Stellung optimal eingestellt. In Abwesenheit endogener Kräfte – ob mechanischer, chemischer oder auch emotionaler Natur – begibt sich der Körper spontan in eine Rechtstorsion; er reagiert so auf die Schwerkraft der Erde, ihre Rotationsbewegung (die in unserer Hemisphere gegen den Uhrzeigersinn gerichtet ist) und ihr elektromagnetisches Feld. Eine Linkstorsion gibt es folglich nördlich des Äquators nicht!

In diesem Zusammenhang ist vielleicht noch erwähnenswert, dass kürzlich einige meiner Mitarbeiter nach Brasilien gereist sind und sich dabei ganz bewusst auf die Überquerung des Äquators eingestellt haben. Auf seiner südlichen Seite registrierten sie physisch Veränderungen, die dem Übergang in eine Linkstorsion der SSB entsprachen.

Ergonomik und Regulation

Eine weitere Eigenschaft unterstreicht die Bedeutung des Schädels für die Regulationsmechanismen des Körpers: Er ist die einzige Struktur, die mit allen Schichten der Faszien in Beziehung steht; insofern stellt er ihren gemeinsamen Insertionspunkt dar. Ob es sich um die superfiziellen, für die Gliedmaßen zuständigen Faszien handelt oder um die thorakalen und abdominellen Faszien der Eingeweide oder auch um die Dura mater des Nervensystems: Es setzen alle – von außen nach innen verlaufend – am Schädel an. Was bedeutet dies?

Jedwede Information aus einem der drei genannten Fasziensysteme kann direkt zum Schädel übertragen werden, genauer: zu einem der Schädelknochen, an dem die Faszien ansetzen. Also „registriert“ der Schädel jede Spannungsänderung im faszialen System, und auf dieser Ebene können wir die Botschaften unseres Körpers „lesen“ und verstehen.

In der Tat handelt es sich beim Schädel um eine „geschlossene“ Struktur, in der die verschiedenen Komponenten durch das dural-membranöse System verbunden sind: Jede Veränderung an einem Knochen überträgt sich auf alle anderen Knochen. Hierbei spielt die sphenobasiläre Synchondrose die Rolle eines Dreh- und Angelpunktes (s. oben), denn die Kontrolle des membranösen Gleichgewichts basiert auf der Wechselbeziehung zwischen Okziput und Sphenoid.

Des Weiteren bildet das interkraniale membranöse System mit dem intervertebralen eine Einheit: Der vom Neurokranium ausgelöste Impuls wird an das durale kraniale System weitergeleitet und vom duralen intervertebralen System interpretiert. Auf diese Weise wird eine Veränderung im peripheren Nervensystem induziert, wodurch es zu einer Anregung oder Hemmung in der Muskulatur kommen kann. (Erinnern wir uns daran, dass die Dura mater im epineuralen Bindegewebe der Spinalnerven ausläuft.)

Und noch eine weitere Kraftlinie lässt sich hieraus ableiten, die von der ursprünglichen Postur zur Information der Ursprungsläsion verläuft. Sie stimuliert eine Antwort des ganzen Körpers, die zu einem umfassenden, vollständigen Ausgleich führt. Auch hierbei ist die Dominanz des Schädels (der hier wieder als durales System zu verstehen ist) über das System der Körperfaszien offensichtlich.

Man kann also von Postur oder von einem kranialen „Programm“ sprechen, um das durch den Schädel konditionierte „Engramm“ zu bezeichnen, während unter „cranial pattern“ die Gesamtheit der in einer bestimmten Körperregion ablaufenden Reaktionen zu verstehen ist. Wollte man diese holistische Vision vertiefen, so müsste man betonen, dass das Nervensystem (das periphere und das zentrale) eine funktionelle Einheit bildet: Mit seiner umfassenden Motilität ist es in der Lage, auf mechanische, energetische und psychische Herausforderungen zu reagieren.

Das durale System wiederum steht, mechanisch gesehen, in direkter Beziehung zum Nervensystem. Durch ein Ungleichgewicht zwischen beiden wird eine ganze Reihe von peripheren und zentralen Symptomen ausgelöst.

Damit nicht genug. Wie weiter oben gezeigt, gibt es sechs Posturen oder posturale Programme, die Ausdruck der sechs Bewegungsrichtungen sind, plus ein Ruheprogramm in Rechts- bzw. Linkstorsion. Ich habe beobachtet, dass sich die Aktivität eines jeden Muskels in ein spezifisches posturales Programm einfügt. Aber nicht nur die Programme wirken im Sinne einer Hemmung oder Anregung auf das Muskelsystem (Zentrifugaleffekt), andererseits wird durch die Kontraktion der Muskeln jeweils ein spezifisches Programm mitdefiniert (Zentripetaleffekt).

Beispielsweise ist die Kontraktion des rechten M. iliopsoas Teil des rechtslateralen Strains bzw. unterstützt die Ausführung des entsprechenden Programms; und die Kontraktion des rechten M. quadratus lumborum integriert sich in das Programm Lateroflexion nach rechts. Andererseits aktivieren dieselben Muskeln im Zustand der passiven Dehnung oder Relaxation ein posturales Programm, das dem durch die Kontraktion ausgelösten diametral entgegengesetzt ist.

Bei alledem hat die tonische Muskulatur eine dominierende Funktion; zwischen ihr und den phasischen Muskeln bestehen enge anatomische und fasziale Beziehungen. Auf der Grundlage eines „Mappings“, das nichts mit ihrer artikulären Funktion oder der spinalen Innervation zu tun hat, tragen alle dazu bei, die Modifikationen der Körperhaltung zu realisieren.

Als Essenz dieser Ausführungen lassen sich folgende Punkte hervorheben:

  • Es existieren Prinzipien, nach denen die Antwort des Körpers auf pathologische Signale global gesteuert wird.

  • Die Antwort erfolgt auf der Grundlage entsprechender Programme und ist somit vorhersehbar und interpretierbar.

Diagnostische Tests

Werfen wir abschließend einen Blick auf die von mir bevorzugten diagnostischen Mudras-Tests, die sich von den energetischen Auffassungen östlicher Philosophen herleiten. (Sie ähneln denen, die im klinischen Bereich von der angewandten Kinesiologie eingesetzt werden.) Im Allgemeinen geht es hierbei um bestimmte Fingerstellungen: Diese aktivieren energetische Kanäle, die sich mit den ersten Embryonalzellen in Verbindung bringen lassen. Infolgedessen werden in einigen Gehirnbereichen Bewusstseinsstadien evoziert, welche subliminale Fähigkeiten stimulieren und die Synchronisation der beiden Großhirnhälften begünstigen.

Wenn man diese Fingerstellungen in geeigneter Weise untersucht, erhält man diagnostische Antworten – Reaktionen des Körpers, die sich an der kranialen „Schaltzentrale“ SSB ablesen lassen. Hier bekommt man Hinweise über die Herkunft einer Information und die Art und Weise ihrer Entstehung. Bei der klinisch-diagnostischen Aktivierung sollte man folgende Körpersysteme unterscheiden:

  • peripheres System,

  • abdominales System,

  • thorakales System,

  • kraniosakrales System.

Jedes System reagiert mit seinem rechten, linken oder zentralen Teil auf eine Läsion. Bei der Orientierung auf das läsionale „Engramm“ nimmt es eine der sechs Richtungen ein, die wie oben ausgeführt für die kranialen Programme charakterisch sind. Bei der Prüfung der Antworten, die man durch die Aktivierung der Fingerstellungen im Sinne der Mudra-Regeln erhält, gewinnt man Informationen über

  • den Sitz der Läsion (z. B. abdominal),

  • ihre Lage (z. B. rechtsseitig),

  • ihre Ausrichtung (z. B. lateraler Strain nach rechts).

Also muss man auf der Ebene des rechten Abdomens nach einer Struktur suchen, die sich im Sinne des Programms für den Lateralstrain nach rechts bewegt: Dies wäre z. B. das Colon ascendens mit seiner Rechtsrotation. Des Weiteren erhält man auf diese Weise Informationen über die Hierarchie der Läsionen, über ihre Komplexität, über mögliche Kombinationen, Konfliktreaktionen und Komplikationen.

Fazit

Die funktionelle Medizin eröffnet neue Möglichkeiten, mit dem Körper zu kommunizieren und die Körpergewebe gewissermaßen zu „psychoanalysieren“. In der therapeutischen Phase lässt sich verfolgen, ob Reaktionen entstehen und wie sie sich entwickeln. Die funktionelle Therapie ignoriert keineswegs die klassischen Manöver der manuellen Medizin oder die Methoden der Osteopathie. Die „ätiologische“ Behandlung konzentriert sich auf die Beseitigung der funktionellen Läsionen, wobei in struktureller Hinsicht auch an Adaptionssyndrome zu denken ist. Die symptomatische Behandlung findet am Sitz der Dekompensation statt.

So sind die Bedingungen für die Wiederherstellung des optimalen posturalen Gleichgewichts geschaffen. Der ganze Körper kehrt mit allen Systemen in diejenigen Positionen zurück, die das posturale Torsionsprogramm dafür vorsieht. Das Haltungssystem wird richtiggestellt.

Mein Team und ich wollen durch weitere Forschungen zeigen, inwieweit sich die beschriebene Methode auch in anderen Bereichen einsetzen lässt, z. B. in der biochemischen, mentalen oder auch emotionalen Sphäre.