Übliche Lehrbuchdarstellungen der Wirbelsäule oder des Blutgefäßsystems vermitteln den meisten Ärzten Vorstellungen einer normalen oder typischen Anatomie, die der Häufigkeit und Ausprägung von Varianten und Fehlbildungen oft nicht gerecht wird. Die oft als gleichsam unveränderlich empfundenen Strukturen sind jedoch jeweils individuell während Embryonalentwicklung und Wachstumsperiode entstandene und wiederum individuellen Veränderungen während des Alterungsprozesses unterworfene, dynamische Gebilde. Gerade der Halsbereich unterliegt dabei äußerst komplizierten Formbildungsprozessen, die entsprechend störungsanfällig sind. So sind makroskopisch-anatomisch fassbare Variationen des Bewegungsapparates im Bereich des kraniozervikalen Überganges aufgrund von Segmentierungsstörungen oder anderen Umlagerungs- und Verschmelzungsprozessen recht häufig anzutreffen. Ebenso ist z. B. aufgrund der leicht zu störenden Wanderung der Neuralleistenzellen von der dorsalen Gehirnanlage in die Wand der Hals- und Gehirngefäße von einem nicht zu vernachlässigenden Anteil angeborener Wandschwächen im Karotis-Vertebralis-Basilaris-Stromgebiet auszugehen. Zudem ist die Karotisgabel und ihre Umgebung eine hämodynamisch problematische Region und zugleich eine Prädilektionsstelle für arteriosklerotische Veränderungen.

Während sich die kumulative Häufigkeit von anatomisch-makroskopisch, mikroskopisch oder molekular erfassbaren Variationen in Bewegungsapparat oder Gefäßsystem von Hals und Schädelbasis aus der Literatur im Bereich von mindestens 10–20% abschätzen lässt, ist eine ernste klinische Manifestation im Alltag sehr viel seltener. Auch mit bildgebenden Verfahren lassen sich die einschlägigen Variationen oft nicht, teils nur mit hohem Aufwand (Angiographie) erfassen. Um so mehr müssen Zeichen und Symptome beachtet werden, die auf eine mögliche Disposition für vaskuläre oder skeletomuskuläre Komplikationen bei HWS-Manipulationen hinweisen.

Variationen und Fehlbildungen

Grundsätzlich kommen folgende angeborene oder erworbene Faktoren für eine verminderte Belastbarkeit der Halsgefäße in Frage:

  1. 1.

    genetisch bedingte Bindegewebserkrankungen oder andere Entwicklungsstörungen, die sich dann u. a. auch an der HWS samt Schädelbasis und den Halsgefäßen manifestieren können;

  2. 2.

    Variationen oder Fehlbildungen der knöchernen Strukturen, die sich auf die Gefäße, und hier insbesondere auf die Vertebralisschlagadern, auswirken;

  3. 3.

    Variationen oder Fehlbildungen der Gefäße ohne Beteiligung des Bewegungsapparates, die dann insbesondere die Karotiden betreffen dürften.

In die erste Gruppe gehören als bekannteste u. a. das Marfan- und das Ehlers-Danlos-Syndrom, aber auch Osteogenesis imperfecta, fibromuskuläre Dysplasie (Typ IV) oder Pseudoxanthoma elasticum. Grundsätzlich kann aber auch bei einer Vielzahl anderer genetischer Defekte oder angeborener Schädigungen eine generelle oder lokale Wandschwäche der Arterien erwartet werden. Bei den Halsgefäßen ist zudem an Störungen der Neuralleistenzellen bzw. ihrer Wanderung und Differenzierung zu denken, da es ja dort diese Zellpopulation ist, die glatte Muskulatur und Fibrozyten liefert.

Wirbelsäule und Schädelbasis

Variationen und Fehlbildungen der Wirbelsäule versteht man heute recht gut aus der Embryonalentwicklung heraus [1], wobei hier von Bedeutung ist, dass die ersten fünf Ursegmente (Somiten) zum Os basioccipitale verschmelzen, während im Bereich der folgenden Somiten diese Situation dahingehend komplizierter ist, dass Proatlas (C0) und Atlaskörper (C1) mit dem Corpus vertebra C2 zum Dens Axis verschmelzen müssen—und so vom ursprünglichen Atlas nur die beiden Bögen und die Querfortsätze übrig bleiben. Die Verschmelzung von drei Anlagen zum Dens axis wird histologisch, teils sogar makroskopisch sichtbar. Verschmelzungen finden aber nicht nur im Bereich von Hinterhaupt und Kopfgelenken statt, sondern jeder einzelne Wirbel entsteht durch die Verschmelzung von jeweils einer kaudalen und einer kranialen Somitenhälfte im Bereich der knöchernen, nicht aber der muskulären Anteile. Umgekehrt bildet ein Somit zwei Wirbelhälften, sodass die segmentalen Muskeln über die Intervetrebralgelenke und Bandscheiben hinweg wirken und so Beweglichkeit in Verbindung mit Stabilität ermöglichen. Man kann sich nun leicht vorstellen, dass diese Umlagerungs- und Verschmelzungsprozesse im Bereich des kraniozervikalen Übergangs relativ störanfällig sind.

Als Beispiele für Variationen nur des Atlas, auf dessen hinterem Bogen ja bekanntlich jederseits die A. vertebralis verläuft, seien hier das völlige oder teilweise Fehlen der hinteren Atlasbogens, oder zusätzliche Höckerchen auf dem Atlas genannt. Weiterhin sind mediane Spaltbildung oder auch die Kombination von fehlendem hinterem Atlasbogen, verbunden mit Spalten im Querfortsatz oder im vorderen Atlasbogen bekannt. Während diese Varianten nicht so sehr für die Gefäßfunktion der Aa. vertebrales relevant sein dürften, verhält sich dies anders bei den recht häufigen Ponticuli posteriores oder laterales, die einen teilweise zentimeterlangen knöchernen Kanal für ein oder beide Gefäße bilden können. Kompressionen oder mechanische Überbeanspruchung können aus diesen Resten des embryonalen Proatlas resultieren, die in 10–20% der Bevölkerung zu erwarten sind. Auch die sog. basiläre Impression [2] kann zu vaskulären oder neurologischen Symptomen führen. Für detailliertere Angaben sei besonders auf die Publikationen von Prescher und Mitarbeitern [5] verwiesen.

Halsgefäße

Sowohl der definitive Aortenbogen als auch die Karotiden gehen aus den Kiemenbogenarterien hervor, die man besser als Branchialbogengefäße bezeichnen sollte, und die jederseits die ventrale mit der dorsalen Aorta verbinden. Die Bildungs- und Rückbildungsprozesse der Gefäße sind kompliziert, wobei hier besonders auf die Umwandlung der 3. Branchialbogenarterie in die Carotis interna und die rechtsseitige Regression der 4. Arterie hinzuweisen ist. Dadurch wird verständlich, dass besonders im Bereich der Karotidenbifurkation und im Bereich des Aortenbogens Variationen gehäuft auftreten.

Zudem sind die Interaktionen von Endothelzellen, die ja alleine die primordialen Gefäße bilden, mit den muralen Zellen sowohl für die Stabilität als auch für die Remodellierung der Gefäße von entscheidender Bedeutung [3]. Wie schon zuvor erwähnt, gehen die muralen Zellen, also Perizyten und Mediamyozyten, im Bereich der Kopf- und Halsgefäße aus der Neuralleiste hervor, also aus Zellen, die über weite Strecken wandern müssen, ein Prozess der recht störanfällig ist. Zu beachten ist weiterhin die inhärente Tendenz zur Schlaufenbildung der Carotis interna. Sehr ausgeprägtes „Kinking“ in verschiedene Richtungen ist möglich, zudem eine regelrechte Schlaufe oder Spirale, also „Coiling“. Es dürfte klar sein, dass solche Veränderungen nicht nur für chirurgische Eingriffe am Atlas oder im parapharyngealen Raum, speziell auch im Bereich der Tonsillen, relevant sind, sondern dass auch die Hämodynamik derart gestört sein kann, dass Intimaveränderungen und Dissektionen leichter auftreten. Die Häufigkeiten dieser Variationen sind doch ganz beachtlich: Nach Paulsen et al. [4] sind nur etwa zwei Drittel der Karotiden gerade, ein Viertel mehr oder weniger stark gebogen, und immerhin 6% weisen ausgeprägtes „Kinking“ oder „Coiling“ auf.

Fazit für die Praxis

Der kraniozervikale Übergangsbereich ist eine Körperregion, in der Fehlbildungen oder Variationen der Wirbelsäule und der großen Gefäße relativ häufig auftreten. Auch wenn diese sehr oft klinisch stumm bleiben, sollte bei jedem diagnostischen oder therapeutischen Vorgehen an derartige, bislang unerkannte Besonderheiten gedacht werden. In aller Regel dürften daher vorbestehende Dispositionen, beispielsweise für arterielle Dissektion, kausal für Durchblutungsstörungen im zeitlichen Zusammenhang mit manualmedizinischen Eingriffen sein.