Nicht nur im Alltag des manualmedizinisch Tätigen, sondern auch in vielen anderen Bereichen der Medizin kommt der Muskulatur eine zentrale Rolle zu. Bei psychischen und psychosomatischen Krankheiten ist dies gängige Lehrmeinung und wird hier sowohl im Bereich der Diagnostik als auch der Therapie angewandt (z. B. EMG-gestütztes Biofeedback, Muskelrelaxation nach Jacobson etc.). Aber auch in Bereichen der Medizin, in denen bislang der Fokus ausschließlich auf nichtmuskuläre Parameter gerichtete war, kommt es zu einer zunehmenden Berücksichtigung der Muskulatur. So weist beispielsweise Felsenberg zurecht daraufhin, dass bei der Osteoporose und der mit ihr einhergehenden Frakturgefährdung die Muskulatur den wichtigsten Einfluss auf den Knochen und damit auch die Knochendichte besitzt, dass aber auch das Frakturrisiko erheblich von gestörten koordinativen Eigenschaften und damit wiederum der Muskulatur abhängt. Dies gipfelt in der Aussage, dass der Untersuchung bzw. Bewertung der Muskulatur eine ebenso große Bedeutung zukommt, wie der Osteodensitometrie.

Man möchte annehmen, dass dies alles zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Muskulatur führt. In krassem Gegensatz hierzu steht jedoch die Realität. Im Bereich der Grundlagenforschung beschäftigen sich die meisten Forscher mit immunhistochemischen und ultrastrukturellen Veränderungen, aber nur wenige wie beispielsweise Siegfried Mense mit klinischen Aspekten der Muskulatur bzw. ihrer funktionellen Störungen. Dies führt unter anderem dazu dass in einem Standardlehrbuch der Physiologie wie dem von Schmidt u. Threws sich gerade einmal 20 von 846 Seiten mit der Muskulatur auseinandersetzen. Begriffe des klinischen Alltags (aber auch der sog. objektiven Begutachtung) wie Tonus, Verspannung, Verkürzung, Myogelose etc. werden nicht einmal erwähnt. Entsprechend gering ist auch der Stellenwert der klinischen Untersuchung der Muskulatur in der studentischen sowie der (fach)ärztlichen Ausbildung. Unterrichtet und gelehrt werden die wenigen klassischen Untersuchungsverfahren, insbesondere aus der Neurologie wie Muskeldehnungsreflexe, spastische Zeichen, Rigor, Tremor, Paresegrad, EMG-Untersuchung etc.. Alltägliche und praxisrelevante Parameter wie Verkürzung, Triggerpunkte, Tonusveränderung durch unterschiedliche Gelenkpositionierung und viele andere sind nicht existent. Viele Ärzte haben erst im Rahmen ihrer manualmedizinischen Ausbildung davon gehört und erfahren. Physiotherapeuten besitzen hier nach ihrer Ausbildung in der Regel wesentlich bessere Grundkenntnisse und Fertigkeiten. Überraschend für mich ist hier aber oftmals das Defizit in elementaren theoretischen Bereichen der Muskelanatomie und -physiologie.

Ein weiteres auffälliges Phänomen bei der Beschäftigung mit dem Thema Muskulatur besteht darin, dass in den meisten manualmedizinischen und physiotherapeutischen Lehrbüchern und Artikeln zwar viel über Muskulatur geschrieben und berichtet wird, dass jedoch nur selten die Orginalliteratur angegeben wird und so gut wie nie eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Arbeiten erfolgt. Andererseits ist die Literatur zu diesem Thema mittlerweile für den einzelnen unübersehbar. So finden sich unter dem Suchbegriff Muskulatur in der Datenbank Pubmed (National Library of Medicine) mehr als 500.000 Einträge, unter dem Eintrag Muskel und Schmerz mehr als 14.000 Publikationen. Im Folgenden sollen deshalb exemplarisch nur einige wenige neuere Aspekte zum Thema Muskulatur, soweit sie für den Manualmediziner interessant sind, dargestellt werden.

Schmerz und Muskulatur

Während früher das klassische Modell "Schmerz—Verspannung—Schmerz" das Denken und Handeln der meisten Therapeuten und Ärzte bestimmt hat, gibt es heute noch weitere Modelle. Unterschieden werden neben diesem Teufelskreismodell ("vicious cycle model") das Schmerzadaptationsmodell ("pain adaptation model") und das neuromuskuläre Aktivationsmodell ("neuromuscular activation model") [22].

Die Nozizeptoren in der Muskulatur stellen keine einheitliche Population dar. Histologisch handelt es sich um freie Nervenendigungen, die von langsam leitenden Typ-III- bzw. Typ-IV-Fasern innerviert werden. Sie sind multimodal (Bradykinin, Kalium, Serotonin, Prostaglandin E2 etc.), eine Sensibilisierung durch Serotonin und Bradykinin ist möglich [4].

Die Nozizeptoren sind extrazellulär lokalisiert, was beispielsweise die Zeitverzögerung von Schmerzen bei isolierten Muskelfaserverletzungen (Muskelkater) erklärt. Sowohl dieses Phänomen als auch die Innervation mit sehr langsam leitenden Nervenfasern ermöglicht diesem System somit keinen Schutz vor der Überlastung zellulärer Strukturen! Dies hat natürlich Auswirkungen auf die Therapie- und Trainingsplanung.

Ein gewichtiges Argument gegen das "Teufelskreismodell" besteht darin, dass im Tierexperiment die schmerzhafte Reizung eines Muskels sowohl zur Inhibition als auch zur Stimulation von α-Motoneuronen führen kann. Ein weiteres Argument besteht darin, dass nach intramuskulärer Injektion hypertoner Kochsalzlösung ein lang anhaltender Schmerz aber nur eine kurz anhaltende erhöhte EMG-Aktivität resultieren. Wenn also das Schmerz-Verspannung-Schmerz-Modell funktioniert, dann ist dieser Effekt allenfalls kurz anhaltend. Auch finden sich tierexperimentelle Arbeiten bei denen die γ-Motoneuronen-Aktivität reduziert wird [14]. Auf Grund der unterschiedlichen und teilweise erheblich divergirenden experimentellen Ergebnisse muss eindringlich davor gewarnt werden einzelne Befunde zu generalisieren. Ergebnisse, die an Extremitätenmuskeln gefunden wurden, können nicht automatisch auf die Wirbelsäulenmuskulatur, Befunde am dekapitierten Frosch nicht einfach auf den Menschen übertragen werden (z. B. Sherrington). Diese Überlegungen haben aber auch zur Entwicklung anderer Modelle geführt.

Zum Schmerzadapationsmodell

Die Grundlage dieses Modells ist die Auswirkung von Schmerz—bedingt durch die Schädigung unterschiedlicher Strukturen—auf Muskulatur und Gelenk.

Primär irritierte und schmerzhafte Muskeln besitzen eine geringere Bewegungsamplitude, bewegen sich langsamer und weisen eine verminderte EMG-Aktivität auf [15]. Mit anderen Worten, sie reagieren auf eine direkte Schädigung nicht mit Verspannung oder Tonuserhöhung, sondern mit Abschwächung. Bei Patienten mit Rückenschmerz finden sich eine gestörte Aktivierung [21], eine reduzierte Kraft [10], eine erhöhte Ermüdbarkeit [9] sowie zahlreiche morphologische Veränderungen (z. B. [12]).

Anders als in der manualmedizinischen Standardliteratur angegeben, können im Tierexperiment (Beugemuskulatur der Katze) Gelenkafferenzen sowohl inhibitorische als auch exzitatorische Effekte auf die γ-Motoneurone bewirken [6]. Beschrieben wird auch eine reflektorische Inhibition des Muskels mit verminderter willkürlicher Muskelaktivierung bei Gelenkschädigung ("arthrogenous muscle weakness") [20] und zwar—für den Kliniker von herausragender Bedeutung – bereits unterhalb der Schmerzwahrnehmung [8]! So finden sich bei Patienten mit Gonarthrose eine verminderte Haltungskontrolle, eine verminderte Propriozeption, eine verminderte Kraft und eine verminderte maximale willkürliche Anspannung [5]. Interessanterweise ist bei Patienten mit Arthrose ein durch hyperosmolare Kochsalzlösung ausgelöster Muskelschmerz ausgeprägter und hält länger an. Seine Ausdehnung und Projektion sind bei dieser Patientengruppe ebenfalls ausgeprägter [1].

Im Umkehrschluss bewirken therapeutische Interventionen am Gelenk wie intraartikuläre Hyaluronsäureinjektionen eine signifikante Steigerung der Maximalkraft von Agonisten und Antagonisten [16]. Aber auch im Bereich funktioneller Störungen bzw. manualmedizinischer Therapien zeigen sich solche Auswirkungen von Gelenkbehandlungen auf die Muskulatur. So finden sich beispielsweise nach Manipulationen der Wirbelsäule paravertebrale EMG-Veränderungen im Sinne einer Inhibition [11].

Das neuromuskuläre Adaptationsmodell

In der manualmedizinischen und neueren wissenschaftlichen Betrachtungsweise besitzt die Muskulatur nicht nur motorische, sondern auch sensible und damit koordinative oder propriozeptive Funktionen. Somit führen logischerweise primäre, experimentell ausgelöste Muskelschmerzen zu propriozeptiven Defiziten [13], aber auch traumatische [2] und degenerative [3] Gelenkveränderungen. Speziell beim Rückenschmerz werden veränderte Muster der neuromuskulären Aktivierung und Rekrutierung beschrieben. Es seien hier nur einige Beispiele genannt. So werden bei der Flektion der Wirbelsäule eine erhöhte Aktivität des M. erector spinae und eine verminderte Aktivität der Bauchmuskulatur [17]), eine selektive Ermüdung des M. multifidus lumbalis [19] sowie eine verzögerte Aktivierung des M. transversus abdominis [7] beschrieben.

Diese Überlegungen und Ergebnisse ziehen aber in der Praxis weitreichende Konsequenzen nach sich. Ein Paradigma der manuellen Medizin besteht in der Erfassung von Funktionsstörungen durch Untersuchung der Funktion. Eine zentrale Funktion des Muskels ist sicher die Kraft, aber nicht nur die isometrische, sondern auch die konzentrische und exzentrische. Wie wir alle auf Grund unserer klinischen Erfahrung wissen, müssen nicht immer alle diese Funktionen gestört sein. Beispielsweise finden sich nach Kreuzbandoperationen häufig isolierte Störungen in der Exzentrik bei oftmals unauffälliger Isometrie und Konzentrik. Bei ungestörter Isometrie auf einen funktionell unauffälligen Muskel zu schließen ist somit nicht (immer) statthaft.

Zusammengefasst besteht somit zwischen Schmerz, Gelenk und Muskulatur eine intensive Wechselbeziehung. Schmerzen (gleich welcher Genese und welchen Ursprungs) können sich auf Gelenke und Muskeln auswirken. Funktionelle oder strukturelle Läsionen der Gelenke ihrerseits können zu Schmerzen führen, unabhängig hiervon führen sie praktisch immer (also auch ohne Schmerz) zu entsprechenden Veränderungen der Muskulatur. Diese reagiert eben nicht monoman mit Tonuserhöhung oder Verkürzung. Vielmehr kann es auch zu einer Inhibition, einer gestörten Propriozeption, einer gestörten Rekrutierung und/oder Adaptierung kommen (Abb. 1), sodass auch die Untersuchung dieser Funktionen erforderlich ist. Hier entsprechend validierte und standardisierte Untersuchungstechniken zu entwickeln stellt sicher für die manuelle Medizin in der Zukunft eine der wesentlichen Aufgaben dar (Abb. 1).

Abb. 1.
figure 1

Schematischer Zusammenhang zwischen Schmerz, Gelenk und Muskulatur sowie deren Reaktionsmöglichkeiten auf entsprechende funktionelle und/oder strukturelle Pathologien

Ein weitgehend unbekannter Aspekt ist der Zusammenhang zwischen Muskelschmerz und Oberflächensensibilität. So reduziert ein durch hypertone Kochsalzinjektion experimentell ausgelöster Muskelschmerz, die Oberflächensensibilität über dem betroffenen Muskel, aber auch kontralateral. Dieser Effekt überdauert die Schmerzwahrnehmung [23]. Dieses Phänomen erweitert die segmentale Betrachtungsweise enorm und lässt zumindest spekulativ der Muskulatur eine Schlüsselrolle bei den vielen Patienten mit segmental nicht zuordenbaren Sensibilitätsstörungen zukommen.

Dies gilt auch für die erst in den letzten Jahren zunehmend in den Mittelpunkt gerückten Triggerpunkte. Es handelt sich um 3–10 mm Durchmesser aufweisende, sensitive, verhärtete besonders druckschmerzhafte Bezirke in einem bandartig gespannten Muskelfaserbündel. Bei Palpation kommt es zu einer kurzen fühlbaren Kontraktion ("local twitch response"), einer unwillkürlichen Ausgleichsbewegung ("jump sign") sowie zu einem "referred pain" [24]. Sie gelten als das Resultat einer nozizeptiven Reizverarbeitung, die sich in der Muskulatur präsentiert, deren Pathogenese aber von differenten Startern (Gelenke, Muskulatur, Organreflektorik etc.) ihren Ausgang nehmen kann. Ein Modell zu ihrer Entstehung ist Abb. 2 zu entnehmen.

Abb. 2.
figure 2

Modell der Entstehung von Triggerpunkten. (Nach Mense [25])

Der aktive Triggerpunkt führt zur Muskelfaserkontraktion und führt somit auf biochemischem Weg zur Stimulation der mesenchymalen Nozizeptoren [18]. Klinische Folgen sind eine verminderte aktive und passive Dehnung sowie eine verminderte aktive Verkürzung. Zur Behandlung von Triggerpunkten haben sich verschiedene Verfahren ("spray and stretch", manuelle Verfahren, "dry needling" etc. ) etabliert, die Integration von Diagnostik und Therapie dieser lokalen Muskelveränderungen in das Konzept der manuellen Medizin hat zu einem großen Fortschritt geführt.

Fazit für die Praxis

Die Muskulatur stellt nicht nur mengenmäßig das größte, sondern auch eines der wichtigsten Organsysteme des Menschen dar. Im Wechselspiel mit Knochen und Gelenk (aber auch mit Stoffwechsel, Psyche und anderen Systemen) kommt ihr eine zentrale Rolle zu.

Die Literatur zu diesem Bereich kommt in den Standardwerken zu kurz, im wissenschaftlichen Bereich ist sie für den einzelnen unüberschaubar geworden. Die Ergebnisse der Grundlagenforschung sind teils widersprüchlich und divergierend, eine Generalisierung einzelner Ergebnisse ist nicht statthaft.

Die Interaktionen mit anderen Bereich gehen weit über die segmentale Betrachtungsweise hinaus und sind wesentlich komplexer als früher angenommen.

Muskeln können auf Irritationen und Schmerz mit sehr unterschiedlichen Mustern reagieren, sodass sich die Untersuchung des Muskels mit seinen vielfältigen Funktionen zukünftig mehr in den Vordergrund schieben wird (ohne das Gelenk zu vernachlässigen). Hier standarisierte und validierte Untersuchungs- und Behandlungstechniken zu entwickeln, wird eine der wichtigsten Aufgaben der manuellen Medizin in der Zukunft sein.