Sinkende Sektionsquoten trotz medizinischer Relevanz

Der klinischen Sektion wird in medizinischen Fachpublikationen regelmäßig ein hoher Wert zugemessen: Sie diene der Überprüfung der vom Kliniker festgestellten Todesursache eines Menschen [1, 2]. Sie sei darüber hinaus nach Meinung von Medizinern auch für die Aufklärung nicht eindeutiger Todesfälle [3], für die amtliche Todesursachenstatistik [4, 5, 6], für die Qualitätskontrolle im Gesundheitswesen [7, 8], für die Reflexion der Behandlung [9], für die Erforschung von Krankheiten, die Evaluation des Einsatzes neuer Medikamente und medizinischer Techniken sowie für die Ausbildung von Ärzten [10] und eventuell geltend zu machende Versicherungsansprüche von Relevanz [11]. Die klinische Sektion könne dementsprechend wesentlich dazu beitragen, die Qualität der Gesundheitsversorgung für zukünftige Patienten aufrechtzuerhalten oder zu verbessern.

Trotzdem sinken seit Jahren sowohl in Deutschland als auch international die Sektionsquoten kontinuierlich. In den USA fiel die Rate von circa 50–60% in den 1950er-Jahren auf etwa 10% um die Jahrtausendwende [12]. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts fiel die Quote weiter bis auf circa 5% [13]. In Großbritannien sank der Anteil klinischer Sektionen von 9% im Jahr 1966 auf etwa 2% im Jahr 1991 [14, 15]. Ähnliche Entwicklungen sind beispielsweise in Kanada [16] und auch in China [17] zu beobachten. In Deutschland wurden im Jahr 2004 nur noch ungefähr 37.100 klinische Sektionen durchgeführt, was bei insgesamt 818.271 in diesem Jahr Verstorbenen einer Quote von 4,5% entspricht [18]. Bis heute dürfte die Rate weiter gefallen sein.

Vor diesem Hintergrund sinkender Obduktionszahlen stellt sich die Frage nach den Gründen für diese Entwicklung. In Anbetracht der erklärten medizinischen Relevanz der klinischen Sektion liegt es nahe, nach Gründen jenseits des Medizinsystems zu suchen. Eine mögliche Ursache für die rückläufige Quote könnte dann in einer negativen Einstellung der Bevölkerung zur Autopsie bestehen. Da klinische Sektionen in Deutschland momentan nahezu ausschließlich nur dann durchgeführt werden, wenn die Angehörigen der oder des Verstorbenen der Sektion, die von den behandelnden Klinikern angefragt wird, zustimmen, ist man also auf eine möglichst hohe Zustimmungsrate angewiesen. Stehen die Menschen der Sektion jedoch ablehnend gegenüber, werden sie kaum die Erlaubnis dafür erteilen und entsprechend würde sich die ablehnende Haltung negativ auf die Sektionsquote auswirken. Auch in deutschen medizinischen Fachpublikationen wird häufig von einer negativen Einstellung der Bevölkerung zur klinischen Sektion ausgegangen. Deshalb sei die abnehmende Bereitschaft der Bevölkerung, ihre verstorbenen Angehörigen zur Sektion freizugeben, einer der Hauptfaktoren zur Erklärung der sinkenden Quote.

Repräsentative Bevölkerungsbefragung

Ziel der hier vorgestellten Untersuchung war es, zu überprüfen, wie sich die generelle Einstellung der Bevölkerung zur klinischen Sektion tatsächlich gestaltet. Hierzu wurde eine repräsentative Bevölkerungsbefragung durchgeführtFootnote 1: Befragt wurden deutschlandweit 1003 Personen im Alter ab 18 Jahren zu ihrer prinzipiellen Einstellung zur klinischen Sektion, zu ihrer Einstellung zur Sektion eines verstorbenen Angehörigen und zur Sektion ihres eigenen dereinst toten Körpers sowie zu ihrer tatsächlichen Entscheidung in der konkreten Situation, wenn es diese schon einmal gab. Zur Gewährleistung einer Entscheidungsgrundlage wurde die zu Beginn gestellte Frage nach der prinzipiellen Zustimmung wie folgt formuliert: „In der Medizin bedeuten die Begriffe ‚Obduktion‘ oder ‚Sektion‘ beide dasselbe. Da sich die Studie mit dem medizinischen Bereich befasst, sprechen wir im Folgenden nur noch von Obduktion. Eine Obduktion findet manchmal statt, nachdem Menschen im Krankenhaus verstorben sind. Dabei wird der Leichnam geöffnet und die Organe werden untersucht. Damit wird die genaue Todesursache festgestellt, das heißt, es wird geprüft, woran der Mensch genau gestorben ist. Die dabei gewonnen Informationen werden für verschiedene Dinge verwendet, zum Beispiel um die Diagnose des Arztes zu überprüfen, für die amtliche Statistik, für die Qualitätskontrolle im Gesundheitswesen, für die Erforschung von Krankheiten und für die Ausbildung von Ärzten. Sind Sie prinzipiell dafür, dass klinische Obduktionen durchgeführt werden oder nicht?“

Ergebnisse

Hinsichtlich der prinzipiellen Zustimmung zur klinischen Sektion lässt sich feststellen, dass diese überraschend hoch ausfällt: Grundsätzlich sprechen sich 84% der Bundesbürger für die Durchführung klinischer Sektionen aus und nur 10% lehnen dies prinzipiell ab (Tab. 1). Diese hohen Zustimmungsraten fallen auch nur etwas geringer aus, wenn man nach der hypothetischen Zustimmung im konkreten Nahbereich fragt. Denn der Großteil der Befragten würde auch der Sektion eines verstorbenen Angehörigen und der Sektion des eigenen toten Körpers zustimmen: Der Sektion der Eltern und des Lebenspartners würden 67% der Befragten zustimmen, 65% der Sektion von Geschwistern und noch 63% der Sektion der eigenen Kinder. Und sogar 72% würden der Sektion ihres eigenen Körpers zustimmen (Tab. 2). Für beide Fragen liegt die Zustimmung in Mittel- und Westdeutschland etwas höher als in Nord-, Süd- und Ostdeutschland, bei Männern etwas höher als bei Frauen, bei jüngeren Personen etwas höher als bei älteren, bei einem höheren Schulabschluss etwas höher als bei einem niedrigeren Schulabschluss und bei Katholiken und Personen ohne Konfessionszugehörigkeit etwas höher als bei Protestanten (Tab. 1, Tab. 2).

Tab. 1 Prinzipielle Zustimmung zur und Ablehnung der klinischen Sektion in Deutschland
Tab. 2 Zustimmung zur Freigabe des eigenen toten Körpers sowie des Körpers eines Angehörigen zur klinischen Sektion in Deutschland

Fragt man noch etwas konkreter nach der tatsächlichen Entscheidung, die schon einmal in einer solchen Situation gefällt wurde, bekommt man folgendes Resultat: Insgesamt 50% der Befragten gaben an, dass schon einmal ein naher Angehöriger von ihnen im Krankenhaus gestorben sei. Von diesen wurden jedoch 82% (40% aller Befragten) vom Arzt gar nicht erst nach einer Sektion gefragt. Von den übrigen 18%, die nach einer Sektion gefragt worden sind (9% aller Befragten), stimmten 10% zu (5% aller Befragten) und 8% lehnten ab (4% aller Befragten).

Diskussion

Im Allgemeinen sind 84% der Befragten für die klinische Sektion, nur 10% sprechen sich prinzipiell dagegen aus; 72% der Befragten würden ihren eigenen toten Körper zur Sektion freigeben und im Schnitt 65% den Körper eines verstorbenen Angehörigen. Damit ist die grundsätzliche Einstellung der Bevölkerung überraschend positiv. Die Vorstellung der Desintegration des eigenen bzw. des toten Körpers einer nahestehenden Person scheint nicht abschreckend zu wirken. Dieses Ergebnis wird von internationalen Studien bestätigt: So kommen z. B. Start et al. [19] zu dem Schluss, dass „the general public has considerable appreciation of the nature and purposes of necropsy, its value to the advancement of medical science and its importance to the family“. Auch Mc Phee et al. [20] ziehen aus ihrer Untersuchung den Schluss, „that the family’s views about autopsy are not as negative as some health professionals fear. … When no autopsy is performed, our data suggest that the reason may sometimes be that the clinician did not request autopsy, rather than that the family refused the procedure“.

Die Einstellung der Angehörigen ist als Begründung für die niedrige Sektionsquote folglich kaum tragfähig. Ihre Rolle als Entscheidungsträger kommt in der Praxis nicht wirklich zum Tragen, da von den Klinikern so selten tatsächlich gefragt wird, ob eine Sektion stattfinden kann. Wenn sich die niedrige Sektionsquote aber nicht auf die Einstellung der Angehörigen zurückführen lässt, bedeutet dies, dass andere Variablen als Erklärungsfaktoren entsprechend wichtiger sein müssen. Die abnehmende Sektionsquote wäre dann kein Einstellungsproblem der Laien, sondern ein strukturelles bzw. institutionelles Problem. Zu nennende Defizite sind hier vor allem die unspezifische Budgetierung, die fehlende Festschreibung der klinischen Sektion als Qualitätssicherungsmechanismus sowie die unzureichende Verankerung der Sektion in den Abläufen, die nach dem Eintreten eines Todesfalls in einem Krankenhaus stattfinden, und das Fehlen standardisierter Strukturen (hierzu ausführlicher [21]).

Den Klinikern kommt dabei eine besondere Bedeutung als Entscheidungsträgern zu: Die Entscheidung, ob die Angehörigen nach ihrer Zustimmung zu einer Sektion gefragt werden, liegt gegenwärtig zumeist beim je einzelnen behandelnden Arzt. Hat dieser kein Interesse an einer Sektion, wird es zu einer solchen auch nicht kommen. Ärztliches Interesse an der Sektion (welches die Voraussetzung für die Initiation einer Sektionsanfrage darstellt) besteht offenbar vor allem dann, wenn sich der behandelnde Arzt nicht erklären kann, warum ein bestimmter Patient verstorben ist – und er daran interessiert ist, dies aufzuklärenFootnote 2. Die Aufklärung des unverstandenen, individuellen Sterbefalls ist jedoch etwas ganz anderes als gesundheitspolitische, medizinfortschrittliche oder qualitätskontrollierende Erwägungen. Es kann entsprechend keine Rede davon sein, dass Kliniker Sektionen als generellen Qualitätssicherungsmechanismus betrachten. Dass die Kliniker selbst der Sektion zu wenig prinzipielle Bedeutung beimessen oder sie aus anderen Gründen davon absehen, die Angehörigen nach ihrer Zustimmung zu einer Sektion zu fragen, dürfte für die Sektionsquote wesentlich sein – sehr viel wichtiger jedenfalls, als die Einstellung der Bevölkerung zur klinischen Sektion.

Fazit für die Praxis

Von allen im Rahmen der durchgeführten Studie Befragten waren 9% schon einmal in der Situation, dass ein naher Angehöriger im Krankenhaus gestorben ist und sie von einem Arzt nach ihrer Zustimmung zur klinischen Sektion gefragt worden sind. Der Sektion haben 5% der Befragten zugestimmt, 4% lehnten diese ab. Natürlich muss berücksichtigt werden, dass die absoluten Fallzahlen hier sehr gering sind. Sollte das Verhältnis von Zustimmung und Ablehnung in der Praxis dennoch ähnlich sein, bedeutete dies, dass eine ungefähr 50%ige Sektionsquote durchaus zu erreichen wäre, wenn dieses Ziel konsequent verfolgt würde. Zur Umsetzung wäre es ausreichend, auf medizinische Akteure und Strukturen Einfluss zu nehmen, z. B. dadurch, die Sektionsanfrage zur Standardprozedur im Zuge eines Todesfalls in einem Krankenhaus (wie das Ausstellen eines Totenscheins) zu machen. Dass Sektionsquoten auf diese Weise erhöht werden können, zeigen ebenfalls internationale Studien [22, 23]. Ob eine solche Erhöhung der Sektionsquote jedoch tatsächlich ein gesundheitspolitisches Ziel darstellt, ist eine Frage, die hier nicht beantwortet werden kann.