Zusammenfassung
Veränderungen in Medizin, Gesellschaft und Krankenhaus sind während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders augenfällig. Ihre Abhängigkeit voneinander lässt sich an – bislang von Historikern vernachlässigten – klinischen Massenquellen, insbesondere Patienten- oder Obduktionsakten quantitativ nachweisen. In einer Längsschnittuntersuchung wurden Geschlecht, Alter, klinische sowie anatomisch-pathologische Diagnosen aus je 250 Sektionsprotokollen 8 ausgewählter Jahrgänge zwischen 1914 und 1960 erhoben. Dabei zeigten sich deutliche Unterschiede in den Geschlechtsverhältnissen und der Alterszusammensetzung der Stichproben sowie ein eindrücklicher Rückgang der entzündungsbedingten Mortalität zugunsten einer Sterblichkeit infolge chronischer Leiden wie Tumoren oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Als Ursachen werden neben dem medizinischen Fortschritt auch institutionelle und ideologische Hintergründe benannt, deren multidimensionale Wechselwirkung genau analysiert werden muss.
Abstract
The first half of the twentieth century was marked by noticeable changes in society, medicine and institutions. The interrelationship between these factors can be demonstrated by clinical mass sources, in particular by patient and autopsy records, which historians have so far neglected. A longitudinal study was made where data, such as gender and age as well as clinical and anatomical-pathological diagnoses were collected, based on 250 autopsy records from 8 selected years between 1914 and 1960. The random samples taken showed clear differences in gender relationship and in age composition and in addition they revealed a significant reduction in mortality caused by inflammation and an increase of chronic diseases, such as tumors or cardiac-circulation ailments. The origin of this development is seen in medical progress as well as in institutional and ideological circumstances, therefore multidimensional reciprocal effects must be thoroughly analyzed.
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Hintergrund und Fragestellung
Medizin und Gesellschaft erfuhren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen fundamentalen Wandel. Durch vielfältige, neue Erkenntnisse in Physiologie, Pathologie, Diagnostik und Therapie gelang es der Heilkunde, den Menschen und seine Krankheiten besser zu verstehen und zu behandeln, das Spektrum der Krankheiten, an denen er leidet und stirbt, deutlich zu verändern und einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung zu leisten [8]. Der drastische Ausbau des Krankenhaussektors führte trotz sinkender durchschnittlicher Verweildauern zu einer erheblichen Zunahme der Hospitalisierung von Krankheit und Tod [5]. Korrespondierend zu diesen Entwicklungen institutionalisierte sich die Pathologie an Krankenhäusern, da eine zunächst wachsende Zahl von Obduktionen und histologischen Untersuchungen durchzuführen war, die aufgrund der Spezialisierung des Fachs nicht mehr vom klinisch tätigen Krankenhausarzt durchgeführt werden konnten [18].
Über diese medizinischen Veränderungen hinaus war der Zeitraum in Europa durch eine Fülle politischer und gesellschaftlicher Umbrüche gekennzeichnet: Der Wandel von der parlamentarischen Monarchie hin zu Demokratie und Diktatur ging mit nationalen und internationalen Konflikten bisher unbekannten Ausmaßes einher. Demokratisierung und Bildung für breite Bevölkerungsschichten trugen u. a. zu einer allmählichen Veränderung der Geschlechterrollen bei. Wachsende Industrialisierung und ökonomische Krisen hinterließen nicht zuletzt im Berufs- und damit auch im Krankheitsspektrum ihre Spuren.
Zwar sind Ursachen und Folgen des vielfältigen medizinischen und gesellschaftlichen Wandels im Allgemeinen und auf qualitativer Ebene längst bekannt, doch gibt es abgesehen von unkommentierten Mortalitätsstatistiken, die lokal unterschiedlich erhoben wurden und etwa in den Verwaltungsberichten für die Kölner städtischen Kliniken nur bis 1910 enthalten sind [2], kaum Studien, die den Niederschlag dieses Wandels für den Bereich der pathologischen Sektion quantitativ dokumentieren und analysieren. Ein am Institut für Geschichte der Medizin und am Pathologischen Institut der Universität zu Köln mit Studierenden des Modellstudiengangs Humanmedizin durchgeführtes wissenschaftliches Projekt verfolgte deshalb das Ziel, die Veränderung des Patienten- und Krankheitsspektrums schrittweise über die Jahrzehnte nachzuvollziehen und dabei den Einfluss gesellschaftlicher Faktoren zu analysieren [1].
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
Krankenhausakten als Massenquelle
Historische Untersuchungen zur Medizin des 20. Jahrhunderts und speziell zur Geschichte der Autopsie [4, 10] konzentrierten sich bislang meist auf die qualitative Auswertung von Text-, Bild- und Sachquellen unterschiedlichster Art. Krankenhausakten wurden bislang nur selten als Forschungsressource herangezogen (im Unterschied zu retrospektiven Studien innerhalb der zeitgenössischen medizinischen Forschung), teilweise, weil sie als sperrige Massenquellen nur in wenigen Fällen länger als 30 Jahre vollständig erhalten werden, teilweise auch wegen fehlender Sachkenntnis der Historiker gegenüber Befunden außerhalb der „sprechenden Medizin“. Daher wurde auch der medizinische Alltag im ambulanten wie stationären Bereich bislang kaum quantitativ untersucht [14, 19]. Wichtige Ausnahmen bilden die Psychiatriegeschichte und die Aufarbeitung der NS-Medizinverbrechen [20, 21]. Sektionsakten wurden international lediglich in wenigen Studien unter historischem Blickwinkel quantitativ ausgewertet [6, 7, 11, 16, 17, 22, 24]. Dabei verzichtete man jedoch darauf, gesellschaftliche und institutionelle Einflüsse durch serielle Untersuchung möglichst zahlreicher unterschiedlicher Jahrgänge zu überprüfen.
Sektionsakten des Kölner Pathologischen Instituts
Als historischer Glücksfall kann die nahezu vollständige Überlieferung eines Archivs von Sektionsakten am Pathologischen Institut der Universitätskliniken zu Köln über einen Zeitraum von inzwischen fast 100 Jahren bezeichnet werden. Diese Akten reichen teilweise noch in die Zeit des Kölner Bürgerhospitals um die Jahrhundertwende zurück, wo spätestens seit Mitte der 1890er Jahre ein eigener Assistent der chirurgischen Abteilung für Obduktionen zuständig war [5]. Als im Jahre 1904 die Akademie für praktische Medizin, eine Vorläuferinstitution der 1919 errichteten Kölner Universität, gegründet wurde, richtete man mit ihr auch eine Prosektur für die städtischen Krankenhäuser und eine institutionell selbstständige Pathologie ein [13, 15]. Einen weiteren Meilenstein bildete der Bau des pathologischen Instituts unter dem damaligen Direktor Leonard Jores auf dem neuen Klinikgelände der Lindenburg im Jahre 1908 [8].
Etwa ab diesem Zeitpunkt (1909) sind die Akten nahezu lückenlos für eben diesen Bereich der dort gelegenen Kliniken überliefert, wobei spätestens um 1932 auch die Verstorbenen aus den übrigen Kölner kommunalen Krankenhäusern sowie etliche aus konfessionellen Einrichtungen durch Ärzte aus der Lindenburg seziert wurden. Die Sektionsprotokolle werden derzeit in einem verschließbaren und klimatisierten Raum des Instituts fachgerecht gelagert. Durch die frühere Einwirkung von Wasser und Nagetieren sind einige Bände stark beschädigt, aber doch noch so gut erhalten, dass die Einträge deutlich lesbar sind.
Die Dokumentation eines Jahrgangs besteht in der Regel aus einem mehrere Bände umfassenden „Protokollbuch“, in dem alle im jeweiligen Jahr durchgeführten Sektionen – versehen mit einer laufenden Nummer – nach einem bestimmten Schema ausführlich beschrieben und die Befunde z. T. mit Fotos verdeutlicht wurden, sowie einem „Eingangsbuch“, in dem nur der Name des Herkunftskrankenhauses bzw. der Universitätsklinik, das Alter, das Geschlecht und eine Kurzbeschreibung dieser Sektion vermerkt wurden. Die ältesten Bücher wurden noch in altdeutscher Handschrift verfasst. Im Laufe der Zeit veränderte sich die Gestaltung der Berichte nicht nur inhaltlich (Folge neuer Untersuchungsmethoden), sondern auch äußerlich, indem sie mit Schreibmaschine geschrieben, leichter lesbar und besser erhalten sind.
Methodisches Vorgehen
Da der Fokus des Interesses sich auf einen jahrgangsübergreifenden Vergleich des Krankheitsspektrums unter Berücksichtigung basaler sozialer Parameter richtete, wurden nur verhältnismäßig wenige Parameter erhoben, die in nahezu allen Akten zu finden waren: Geschlecht, Alter, klinische Diagnose und drei in der Sektion ermittelte anatomisch-pathologische Diagnosen. Angaben über Länge, Körper- und Organgewicht, sozialen Status (Familienstand, Beruf) sowie explizite Todesursache fanden sich vor allen in den frühen Jahrgängen nur sehr lückenhaft, sodass sie genauso ausschieden wie histologische Diagnosen, deren Wandel hinsichtlich Bezeichnung und methodischer Grundlage im Untersuchungszeitraum zu gravierend war.
Für die Datenerhebung wurden sowohl das Eingangs- als auch das Protokollbuch ausgewertet. Da die Diagnosen z. T. sehr allgemein, z. T. auch sehr detailliert ausfielen und sich Krankheitsnamen in einem Zeitraum von 60 Jahren teilweise deutlich veränderten, wurden die ermittelten Datensätze durch einen selbst erstellten Schlüssel, in dem lediglich wichtige Haupt- und Untergruppen von Krankheiten angelehnt an das Schema der Sektionsprotokolle aufgeführt sind (Tab. 1), vereinheitlicht und codiert. Die Altersangaben wurden 4 Altersgruppen (0–9, 10–29, 30–59 sowie 60 Jahre und älter) zugeordnet. Als zu untersuchende 8 Jahrgänge wurden jeweils im Abstand von 4–10 Jahren diejenigen bestimmt, die für einen Vergleich gesellschaftlicher Einflussfaktoren besonders geeignet erschienen:
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1914 und 1919 (vor und nach dem Ersten Weltkrieg),
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1928 (stabile Phase der Weimarer Republik),
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1938 (stabile Phase des etablierten Dritten Reiches),
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1942 (letzter Kriegsjahrgang vor Beginn von Zerstörung und Evakuierung der Universitätskliniken),
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1946 (Nachkriegszeit),
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1954 (Aufbauphase),
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1960 (voll entwickeltes „Wirtschaftswunder“).
Weil die Anzahl der Sektionen in den jeweiligen Jahrgängen zwischen 525 (1946) und 1726 (1938) stark variierte, wurde aus jedem Jahrgang eine Stichprobe von 250 Akten randomisiert. Jeder Jahrgang wurde zunächst für sich auf die Häufigkeitsverteilungen von Geschlecht, Altersgruppe, klinischer und pathologischer Diagnose sowie deren Kombinationen (s. unten) hin analysiert. Um statistische Auswertbarkeit zu gewährleisten, wurden nach Auszählung der klinischen und pathologischen Krankheitsdiagnosen nur solche näher untersucht, die eine Häufigkeit von mindestens 5% in der Stichprobe (etwa 13 Fälle) erreichten; alle übrigen wurden unter „Sonstiges“ zusammengefasst. Entsprechend wurden geschlechts- und altersspezifische Analysen bestimmter Diagnosen nur vorgenommen, wenn diese Krankheiten in mindestens 10% der Stichprobe (25 Fälle) vorkamen.
Ergebnisse
Geschlechtsverteilung
Schon die allgemeine Verteilung der Geschlechter im Sektionsgut offenbart jahrgangsübergreifend deutliche Veränderungen (Abb. 1). Bis auf einen Jahrgang (1928) zeigt sich ein mehr oder weniger deutlicher Männerüberschuss, der weniger den verschiedenen Lebenserwartungen der Geschlechter als wahrscheinlich deren unterschiedlichen Zugang zur stationären Versorgung geschuldet ist: In den frühen Jahren (1914 und 1919) übernahm die Krankenversicherung nur für einen kleineren Teil der Bevölkerung die Kosten – die Familienversicherung wurde erst 1931 für alle Kassen obligatorisch –, sodass die häufig nicht berufstätigen Frauen sich seltener eine Aufnahme in das Krankenhaus leisten konnten.
Einen bedeutenden institutionellen Einfluss auf die Sektionsrate stellte vermutlich der sukzessive Aufbau der Universitätsfrauenklinik (1924 abgeschlossen) mit gynäkologisch-onkologischem Schwerpunkt dar. Der erneute Rückgang des Frauenanteils in den Jahren des „Dritten Reiches“ spiegelt möglicherweise die zunehmend „leistungsorientierte“, in Wahrheit aber auch geschlechtsdiskriminierende Gesundheitspolitik des NS-Regimes wider: Obwohl deutlich mehr Frauen berufstätig waren, wurden sie insbesondere während des Krieges seltener eingewiesen und kürzere Zeit behandelt [23]. Diese Tendenz kehrte sich glücklicherweise nach dem Krieg wieder um.
Altersverteilung
Auch die allgemeine Verteilung der Altersgruppen unterliegt charakteristischen Schwankungen (Abb. 2): Zunächst (1914) dominierte die Gruppe der 30- bis 59-Jährigen im Sektionsgut, denn sie war es, die aus den dargestellten Gründen in erster Linie im Krankenhaus aufgenommen wurde. Dann nahm bis 1928 die Gruppe der Kleinkinder drastisch zu, ganz entgegen dem demographischen Trend, der bereits nach der Jahrhundertwende eine drastische Senkung der kindlichen Mortalität verzeichnete. Diese paradoxe Entwicklung der Kölner Sektionsraten war möglicherweise Folge von Entwicklungen in der Kölner Geburtshilfe und Pädiatrie: Die mit Abstand größte Entbindungsklinik der Stadt, die Provinzial-Hebammenlehranstalt, wurde 1924 von der Universitätsfrauenklinik übernommen, sodass spätestens ab diesem Zeitpunkt perinatal verstorbene Kinder in den Zugangsbereich der Pathologie gelangten. Außerdem stieg die Zahl der Kinderbetten in und außerhalb der Kinderkliniken bis 1930 fortwährend an. Säuglingsstationen galten nicht mehr unkontrolliert als „Orte des Sterbens“ [5], sondern der Tod der Kleinsten wurde offensichtlich jetzt regelmäßig mit wissenschaftlichen Methoden analysiert. Eine lokale Epidemie als Ursache des Anstiegs scheidet hingegen aus. „Drittes Reich“ und Nachkriegszeit ließen den Anteil der obduzierten Kinder wieder deutlich sinken – spätestens in den Kriegsjahren nahmen Geburtenrate und stationäre Entbindung stetig ab, und die Kleinsten erreichten offensichtlich das Krankenhaus deutlich seltener. 1954 lässt sich vielleicht als Ausdruck einer normalisierten Patientenverteilung nochmals ein Anstieg verzeichnen, bevor der Anteil der Kinder 1960 trotz steigender Geburtenzahlen (Babyboom) endgültig unter das Vorkriegsniveau sank, wahrscheinlich Ausdruck einer endlich verbesserten perinatalen Versorgung.
Bemerkenswert ist schließlich noch die Zunahme der älteren Patienten nach dem Zweiten Weltkrieg, Folge des demographischen Wandels und einer Zunahme chronischer Erkrankungen als Todesursache (s. unten). Kurz nach dem Ersten und während des Zweiten Weltkrieges starben dagegen deutlich weniger ältere Menschen in den Kliniken, wohl weil sie infolge der Rationierung überhaupt nicht in den Genuss einer stationären Versorgung kamen.
Geschlechts- und altersspezifische Mortalitäten
Bei bestimmten häufigen Diagnosen lassen sich in einzelnen Jahrgängen charakteristische Verteilungen von Geschlecht und Altersgruppen feststellen. Während sich dies beim Geschlecht nur für die Diagnose „Tumoren des respiratorischen Systems“ (1960: Verhältnis Männer zu Frauen 3:1) statistisch signifikant nachweisen lässt, zeigen sich bei den Altersgruppen erwartungsgemäß häufiger deutliche Unterschiede, beispielsweise für die Diagnosen „Arteriosklerose“ (in allen Jahrgängen am häufigsten bei den Ältesten diagnostiziert), „KHK/Herzinfarkt“ (1914, 1919 am häufigsten bei den 30- bis 59-Jährigen), „Entzündung des respiratorischem Systems“ (vorwiegend bei den Jüngsten und Ältesten), „Tuberkulose des respiratorischen Systems“ (1914–1928 vor allem in den Gruppen der 10- bis 59-Jährigen, 1942 dagegen vielleicht als Folge von Reihenuntersuchungen in allen Altersgruppen) und „Ernährungsstörung“ (Unterernährung; 1946 bei den Jüngsten und Ältesten); letzteres ist ebenfalls dem gesellschaftlichen Einfluss, nämlich der Nachkriegssituation geschuldet.
Veränderung des diagnostizierten Krankheitsspektrums
Im Zentrum des Interesses standen Veränderungen bei den pathologischen Diagnosen. Der nach den 8 Hauptgruppen (vgl. Tab. 1) differenzierte Vergleich der Jahrgänge (Abb. 3) offenbart bereits eindrucksvolle Verschiebungen im Krankheitsspektrum, wobei allerdings die unterschiedlichen Altersschwerpunkte der Jahrgänge berücksichtigt werden müssen. Die Zahl der infektionsbedingten Todesfälle sank demnach zwischen 1914 und 1960 um mehr als die Hälfte. Der drastische Anstieg im Jahrgang 1919 ist höchstwahrscheinlich der Nachkriegssituation (hungerbedingte Abwehrschwäche, die Infektionen begünstigte) sowie der Influenza (3. Welle der „Spanischen Grippe“ vom Frühjahr 1919) zuzuschreiben. Dass 1928 immer noch das Niveau von 1914 erreicht wurde, ist mit der hohen Anzahl von Kindersektionen, bei denen Infektionen besonders häufig festgestellt wurden, leicht zu erklären. Der deutliche Anstieg im Jahr 1942 (trotz unterproportionierter Risikogruppen <10 und >59 Jahre) zeigt die schlechte gesundheitliche Situation der Bevölkerung im 4. Kriegsjahr und besonders nach dem 1000-Bomber-Angriff am 31. Mai, als sowohl im privaten Wohn- als auch im Krankenhausbereich teilweise katastrophale Verhältnisse herrschten, die Infektionen begünstigten.
Eine genauere Differenzierung der infektionsbedingten Mortalität in den einzelnen Jahrgängen macht deutlich, dass in den frühen Jahrgängen neben den unspezifischen respiratorischen Infekten vor allem die Lungentuberkulose eine Rolle spielte (1914: 10,4% der Fälle; 1919: 17,2% + 5,0% Hauttb. + 5,0% Urogenitaltb.; 1928: 9,2%; 1938: 1,1% + 4,4% Darmtb.; 1942: 6,8%; 1946: 5,7%; 1954: <4%; 1960: 5,6%). Unter den anderen namentlich genannten Infektionskrankheiten waren nur Diphtherie (1914: 3,6%; 1919: 4,2%) und Enzephalitis (1914: 8,8%; 1919: 6,7%; 1928: 6,8%; 1942: 4%) statistisch relevant.
Betrachtet man die übrigen Hauptgruppen von Krankheiten im jahrgangsübergreifenden Vergleich, so fällt auf, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Tumoren bis 1960 deutlich zunahmen. Eine Ausnahme bilden die Vorkriegsjahrgänge 1914 und 1938, in denen insgesamt verhältnismäßig viele ältere Menschen (59 bzw. 57% waren älter als 29 Jahre; vgl. Abb. 2) in die Kliniken aufgenommen wurden und dort starben, weshalb in diesen Jahren bereits ein hoher Anteil an diesen Krankheiten zu verzeichnen ist. Der Kriegsjahrgang 1942 erfuhr hingegen eine Ausgrenzung der chronischen Fälle aus den Krankenhäusern, wie auch an Patientinnenakten der Kölner Universitätsfrauenklinik deutlich gemacht werden konnte: Trotz eines hohen Anteils an 30- bis 59-Jährigen (die bevorzugten „Leistungsträger“) starben deutlich weniger an chronischen als vielmehr an akuten Erkrankungen; entsprechend verkürzt waren auch die Liegezeiten in der Frauenklinik [23].
Charakteristisch ist schließlich auch die Zunahme von diagnostizierten Ernährungsstörungen unmittelbar nach den Kriegen (1919: 10%; 1946: 12,7%) und bemerkenswert eine singulär hohe Anzahl an klinisch festgestellten Behandlungsdefiziten mit Todesfolge im Jahr 1946 (16%), vielleicht aufgrund paramedizinischer Therapien in Zeiten der Unterversorgung.
Unterschied zwischen klinischen und pathologischen Diagnosen
Die in die Untersuchung aufgenommene klinische Hauptdiagnose unterschied sich von den anatomisch-pathologischen Diagnosen nicht nur numerisch (in den Akten war in der Regel nur eine Angabe verzeichnet), sondern oft auch im Diagnosenspektrum. Entzündungen und Tumoren innerer Organe blieben oft verborgen oder wurden nicht genau lokalisiert. Auch Thrombosen und Embolien traten nur selten als klinische (Haupt-)Diagnose in Erscheinung. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dagegen in allen Jahrgängen leicht zu diagnostizierende akut-entzündliche Erkrankungen von der Klinik besonders häufig angegeben, während die Sektion im Anschluss ein differenzierteres Bild ergab.
Diskussion
Die Interpretation der Jahrgangserhebungen steht methodisch unter dem Vorbehalt, dass längst nicht alle Einflussfaktoren auf die Sektionsraten bekannt oder abschätzbar sind. Insbesondere institutionelle und personelle Einflüsse innerhalb und außerhalb des pathologischen Instituts (variierende Forschungsinteressen, Lehraufgaben, personelle Ausstattung, wachsende Zuweisung von Leichen anderer Kliniken), aber auch alters-, geschlechts-, konfessions- und diagnosespezifische Unterschiede, die Obduktion einzufordern oder auf sie zu verzichten, können eine bedeutende Rolle für die statistische Verteilung gespielt haben. Andererseits ist der von Anfang an umfassende Versorgungsauftrag der Kölner Pathologie und das ambitionierte Forschungsinteresse der Universitätskliniken zu berücksichtigen, die in einer Zeit, als paternalistische Vorgaben über autonome Verweigerungen von Patienten und Angehörigen auch im katholischen Köln noch klar dominierten, die Sektion als Regelfall nach einem Todesfall in einer Klinik bestimmten. Immerhin wurden von den 598 Patienten (5,2% der Belegung!), die 1909/10 nach den Verwaltungsberichten insgesamt in dem späteren Universitätsklinikum Lindenburg starben, etwa 550 seziert, und auch beim städtischen Bürgerhospital ergeben sich zu dieser Zeit ähnliche Anteile (184 von 231; [2]). Allerdings erreichten die Sektionszahlen nach dem Krieg (1954: 1015 Fälle; 1960: 1057 Fälle) bereits nicht mehr die Spitzenwerte der Vorkriegszeit (1938: 1726 Fälle).
Die Ergebnisse zeigen, dass Sektionsprotokolle für Medizinhistoriker sowie für an der eigenen Geschichte interessierte Fachvertreter eine wertvolle Quelle zur quantitativen Abschätzung der stationären Versorgung in verschiedenen Zeiträumen darstellen. Im konkreten Fall konnte eindrucksvoll der Wandel der Krankheiten belegt werden, an denen in Kölner Kliniken gestorben wurde. Dieser Wandel offenbart nicht nur grundlegende Fortschritte der Medizin (z. B. Einführung der Antibiose und Verbesserung der Hygiene zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten), sondern auch die gravierende Bedeutung gesellschaftlicher Ereignisse für die Zusammensetzung eines Patientenkollektivs hinsichtlich Alter, Geschlecht und Erkrankungsart. Krieg, Hunger, Seuchen, aber auch Institutionalisierung und Ideologie können auf diese Weise damals und heute ihre Spuren im Sektionsalltag hinterlassen. Diagnostizierte Krankheit erscheint aus diesem Blickwinkel nicht mehr allein als biologisches Faktum, sondern auch als soziales Konstrukt, das in einer Institution durch bestimmte nichtmedizinische Vorgaben wahrgenommen oder eben nicht wahrgenommen wird und auf diese Weise in ständigem Wandel begriffen ist.
Die Interpretation der Massenquelle Sektionsakten erfordert allerdings genaue historische Kenntnis der multidimensionalen Einflussfaktoren, die durch umfangreichere Stichproben und verbesserte statistische Methoden, insbesondere alters- und geschlechtsbereinigte oder -spezifische Jahrgangsvergleiche, noch deutlich erleichtert und verbessert werden kann. Darüber hinaus bieten Sektionsakten noch eine Fülle weiterer Möglichkeiten, bestimmte Krankheiten oder Krankheitsgruppen, das Entstehen und Vergehen von Krankheitskonzepten sowie sich wandelnde Methoden der Pathologie aus historischem Blickwinkel zu erforschen.
Fazit für die Praxis
Ältere und neuere Sektionsprotokolle stellen ebenso wie gewöhnliche Krankenakten eine wertvolle Quelle dar, um den Wandel von Krankheitswahrnehmung in Institutionen sowie externe Einflüsse auf die Medizin quantitativ aus historischer Sicht zu analysieren, aber auch, um Fachgeschichte zu erforschen. Es empfiehlt sich daher ausdrücklich, diese Akten sachgerecht aufzubewahren und wissenschaftlichen Bearbeitern zu öffnen oder den zuständigen Archiven zu überlassen, statt sie nach Ablauf der gesetzlichen Verwahrfristen zu vernichten [3].
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Danksagung
Erst- und Zweitautor danken den Kölner Medizinstudierenden Philipp Antz, Nina Balfer, Volker Berger, Anna Laura Fett, Thomas Kortenbruck, Kristina Langhammer, Nataliya Katsarova, Nelli Schmidt, Bettina Schrödl und Sabine Winand für ihre hohe Einsatzbereitschaft, ihre Motivation und ihren Enthusiasmus bei vorbereitenden Recherchen sowie der Auswertung der Sektionsakten. Diese Publikation, für die sie die Rohdaten geliefert haben, erfolgt mit ihrem ausdrücklichen Einverständnis.
Interessenkonflikt
Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Schäfer, D., Dienes, H., Fett, A. et al. Kölner Sektionsprotokolle 1914–1960. Pathologe 29, 287–293 (2008). https://doi.org/10.1007/s00292-008-1008-0
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