Die erstmals 2012 publizierte S2-Leitlinie wurde von 2017 bis 2019 eingehend durch ein Expertengremium von insgesamt 9 medizinischen und psychologischen FachgesellschaftenFootnote 1 grundlegend überarbeitet. Vorliegend finden sich die wichtigsten Aussagen der Leitlinie, zu Details sei auf die Langversion auf der Website der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF-Registernummer 051-029) verwiesen.

Die Leitlinie dient der interdisziplinären Qualitätssicherung bei der Begutachtung von Antragstellern auf Versicherungs- oder sonstige Entschädigungsleistungen, die psychische oder psychosomatische Erkrankungen mit hierdurch bedingten Funktionsstörungen geltend machen. Um die Benutzbarkeit zu erleichtern, gliedert sie sich in 3 getrennte Teile:

  • Teil I nennt die spezifischen Aspekte der gutachtlichen Untersuchung bei psychischen und psychosomatischen Störungen.

  • Teil II beschreibt die Kriterien zur Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit vor dem Hintergrund unterschiedlicher Rechtsgebiete. Zugehörige Fragestellungen finden sich in den unterschiedlichsten Kontexten wie der medizinischen und beruflichen Rehabilitation, bei Rentenanträgen im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung und der privaten Berufsunfähigkeitsversicherungen, der berufsständischen Versorgungswerke sowie bei Beamten.

  • Teil III beschäftigt sich mit der Begutachtung von Menschen, die nach Unfällen oder sonstigen vom Versicherungsschutz des jeweiligen Rechtsgebiets erfassten Schädigungsereignissen psychische Folgen geltend machen. Die damit zusammenhängenden Kausalitätsfragen sind im Bereich der gesetzlichen und privaten Unfallversicherung, im sozialen Entschädigungsrecht, nach Dienstunfällen sowie im Haftpflichtrecht zu klären. Forensische (strafrechtliche) Aspekte wurden ausdrücklich nicht bearbeitet.

Für die Überarbeitung der Leitlinie wurden 24 Ärzte und Psychologen von ihren Fachgesellschaften delegiert, ergänzend wurden 14 externe Experten aus Deutschland und der Schweiz hinzugezogen. Zur Bewertung des Leitlinientextes erfolgten mehrere Konsensabfragen (Delphi-Verfahren). Darüber hinaus wurde eine öffentliche Konsultationsphase durchgeführt, im Rahmen derer an der Leitlinienüberarbeitung nicht beteiligte Personen und Verbände Änderungs- und Ergänzungsvorschläge einbringen konnten. Abschließend wurde die Leitlinie durch die Vorstände der beteiligten Fachgesellschaften bestätigt.

Die wichtigsten Empfehlungen sind im Folgenden aufgeführt. Gemäß AWMF‐Regelwerk wird die Stärke einer Empfehlung sprachlich in 3 Kategorien ausgedrückt:

  • starke Empfehlung (Empfehlungsgrad A) mit der Syntax soll/soll nicht,

  • Empfehlung (Empfehlungsgrad B) mit der Syntax sollte/sollte nicht,

  • Empfehlung offen (Empfehlungsgrad 0) mit der Syntax kann erwogen werden/kann verzichtet werden.

Die Konsensstärke der einzelnen Empfehlungen ist jeweils in den Kategorien ⇑⇑/⇑/⇔ vermerkt, zu Details sei auf den Leitlinienreport (AWMF-Website) verwiesen.

Teil I – Gutachtliche Untersuchung

Neben kurzen Vermerken zu allgemeinen Voraussetzungen werden hier die Besonderheiten der gutachtlichen Untersuchung bei psychischen und psychosomatischen Störungen zusammengefasst behandelt, soweit sie für die Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit und für Kausalitätsfragen von Bedeutung sind.

Aufarbeitung der Aktenlage

Die Aufarbeitung der vom Auftraggeber zugesandten Akten sollte bereits vor der gutachtlichen Untersuchung erfolgen, um als Vorlage für die Exploration zu dienen, anhand derer der Sachverständige Auffälligkeiten, Ungereimtheiten und Widersprüche in den Vorbefunden und -gutachten kritisch hinterfragen kann. Die schriftliche Niederlegung von Akteninhalten im Gutachten sollte sich auf die für die gutachtliche Fragestellung relevanten Anknüpfungstatsachen beschränken. Fehlende Unterlagen sollten vermerkt und ggf. deren Heranziehung für den sachgerechten Abschluss des Gutachtens empfohlen werden (Empfehlung I. 1, Konsensstärke ⇑⇑).

Exploration

Der Gutachter sollte eine Atmosphäre schaffen, in der es für den Probanden möglich ist, ein Gefühl von Sicherheit, Vertrauen und Kontrolle über die Situation zu entwickeln. Eine eingehende biographische Anamnese ist Bestandteil jeder Begutachtung. Die Exploration sollte freie und strukturierte Vorgehensweisen umfassen, strukturierte Interviews können die Exploration ergänzen. Es stellt einen groben Fehler dar, das gutachtliche Interview an Dritte (z. B. medizinische Fachangestellte) zu übertragen. Zur Einschätzung der Auswirkungen von Erkrankungen in Aktivität und Teilhabe bzw. zur Berücksichtigung der Kontextfaktoren kann die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) als Orientierungshilfe dienen. Bei Probanden mit Migrationshintergrund sollte bereits vor der gutachtlichen Untersuchung die Verständigungsfähigkeit geklärt und ggf. eine geeignete Sprachmittelung veranlasst werden (Empfehlung I. 2, Konsensstärke ⇑⇑).

Befunderhebung

Die psychische Befunderhebung basiert auf der Beobachtung des zu Untersuchenden über den Verlauf der Exploration hinweg einschließlich der körperlichen Untersuchung. Die Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Störungen erfordert immer auch Kenntnis und Bewertung des körperlichen Untersuchungsbefundes. In der Befunddokumentation soll eine klar ersichtliche Trennung zwischen den subjektiven Angaben des Probanden und den objektiv im Rahmen der Untersuchung ersichtlichen Symptomen vorliegen. Die angegebene Einnahme von Medikamenten kann bei begründeten Zweifeln im Blutserum überprüft werden (Empfehlung I. 3, Konsensstärke ⇑⇑).

Der Einsatz von Selbst- und/oder Fremdbeurteilungsskalen kann im Gutachtenkontext sinnvoll sein und die Beurteilungsbasis erweitern. Der Gefahr, dass Fragebogenergebnisse dem medizinisch-psychologischen Laien eine nicht vorhandene Objektivität vorspiegeln, ist durch den Gutachter dadurch zu begegnen, dass er in seiner Darstellung stets eine Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Daten vornimmt. Der Einsatz (neuro-)psychologischer Leistungstests kann in der Begutachtungssituation sinnvoll sein, wenn kognitive Störungen geklagt werden oder ersichtlich sind. Fragebogen- und Testergebnisse sind stets im klinischen Kontext zu bewerten und sind isoliert nicht oder kaum aussagefähig (Empfehlung I. 4, Konsensstärke ⇑).

Beschwerdenvalidierung

Eine eingehende, explizit und nachvollziehbar dargelegte Beschwerdenvalidierung ist zwingender Bestandteil jedes Gutachtens. Ihr Kernstück ist eine sorgfältige Plausibilitäts- und Konsistenzprüfung, die, je nach Einzelfall, durch spezifische Verfahren untermauert werden kann (Empfehlung I. 5, Konsensstärke ⇑).

Als „Bausteine“ hierbei zu nennen sind:

  • der Abgleich der in der Aktenlage genannten Befunde untereinander sowie zu allen anderen verfügbaren Informationen einschließlich der im Rahmen der Begutachtung erhobenen Befunde,

  • die klinische Beschwerdenvalidierung durch Beobachtung des Probandenverhaltens über den Begutachtungsablauf einschließlich Einsatz spezifischer klinischer Tests und Abgleich mit Selbstbeurteilungsskalen,

  • die kognitive Beschwerdenvalidierung durch Einsatz psychologischer Tests sowie

  • ggf. die Bestimmung des Blutspiegels der als eingenommen angegebenen Medikamente.

Teil II – Berufliche Leistungsfähigkeit

Dieser Teil der Leitlinie enthält zunächst eine kurze Darstellung der Besonderheiten in den für Begutachtungen der beruflichen Leistungsfähigkeit relevanten Rechtsgebieten der gesetzlichen Rentenversicherung, privaten Berufsunfähigkeitsversicherung, Dienstfähigkeit von Beamten, berufsständischen Versorgungswerke und privaten Erwerbsunfähigkeitsversicherungen. Verwiesen wird darauf, dass die gutachtliche Beurteilung in allen Rechtsgebieten in 4 Schritten erfolgt, die jeweils ohne vernünftigen Zweifel – im sog. „Vollbeweis“ – nachweisbar sein müssen:

  1. 1.

    Welche Gesundheitsstörungen (ICD-Diagnosen) sind feststellbar?

  2. 2.

    Welche Leistungseinschränkungen („negatives Leistungsbild“) und welches noch vorhandene Restleistungsvermögen („positives Leistungsbild“) ist in ihrer qualitativen Ausprägung darzustellen?

  3. 3.

    Sind entsprechend dem erkennbaren positiven und negativen qualitativen Leistungsbild mögliche quantitative Leistungseinschränkungen vorliegend?

  4. 4.

    Wie ist die Prognose der nachweisbaren Funktionsstörungen? Ergänzend finden sich häufig Fragen zu therapeutischen Möglichkeiten und zur Beeinflussbarkeit der Funktionsstörungen.

Der in der Leitlinie verwendete Begriff der beruflichen Leistungsfähigkeit orientiert sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; Empfehlung II. 1, Konsensstärke ⇑⇑). Diese soll im Zusammenhang mit Art und Ausmaß psychischer und psychosomatischer Funktionen und Funktionsstörungen, der Art der Krankheitsverarbeitung und den dem Individuum zur Verfügung stehenden Aktivitäten und Fähigkeiten beurteilt werden. Die Bewertung der konkret vorliegenden (beruflichen) Leistungsfähigkeit ergibt sich aus dem Abgleich der dem Individuum möglichen Aktivitäten und Fähigkeiten mit dem beruflichen Anforderungsprofil (Empfehlung II. 2, Konsensstärke ⇑⇑).

Anhand der Vorbefunde soll zunächst beurteilt werden, ob die notwendige organmedizinische und psychiatrisch-psychosomatisch-psychotherapeutische Diagnostik vorgenommen worden ist und die bisherige Befundinterpretation adäquat war. Weiterhin ist zu beurteilen, inwieweit die durchgeführten therapeutischen und/oder rehabilitativen Maßnahmen adäquat durchgeführt worden sind und welche Effekte diese Interventionen gezeigt haben. Nur auf der Basis dieser Bewertungen und der Befunde der eigenen Untersuchung lassen sich die Prognose der Erkrankung und die damit verbundene berufliche Leistungsfähigkeit einschätzen und ggf. indizierte therapeutische oder rehabilitative Maßnahmen empfehlen (Empfehlung II. 3, Konsensstärke ⇑⇑).

Die nachfolgende Erhebung der biographischen Entwicklung sowie der akuten oder chronischen körperlichen oder psychosozialen Belastungen ermöglicht Aussagen darüber, inwieweit psychische Charakteristika des Individuums (z. B. spezielles konflikthaftes Erleben, Störungen der Persönlichkeitsstruktur) die Entstehung der Erkrankung, den Krankheitsverlauf und die berufliche Leistungsfähigkeit beeinflussen (Empfehlung II. 4, Konsensstärke ⇑⇑). Dabei sollen sowohl Hemmnisse als auch Ressourcen sowie weitere Kontextfaktoren des Individuums berücksichtigt werden (Abb. 1; Empfehlung II. 5, Konsensstärke ⇑⇑).

Abb. 1
figure 1

Modell der beruflichen Leistungsfähigkeit. ICF Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit

Beachtet werden soll, dass sich aus dem psychopathologischen Befund allein die Bewertung der beruflichen Leistungsfähigkeit nicht ergibt. Für die Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit sind insbesondere die dem Individuum zur Verfügung stehenden Aktivitäten sowie die Beurteilung etwaiger Hindernisse bei der Partizipation (hier speziell im beruflichen Kontext) von Bedeutung. Die Ausbildungs- und Arbeitsanamnese soll stärker als in der herkömmlichen Anamnese berücksichtigt werden (Empfehlung II. 6, Konsensstärke ⇑⇑).

Psychische und psychosomatische Funktionen

Unter psychischen und psychosomatischen Funktionen und Funktionseinschränkungen versteht man sowohl die zur Verfügung stehenden körperlichen, emotionalen, kognitiven und verhaltensbezogenen Ressourcen eines Individuums als auch etwaige Hemmnisse. Im Rahmen der Begutachtung soll das aktuell verfügbare psychische Funktionsniveau erhoben werden. Im Einzelnen zu beurteilen sind (Empfehlungen II. 7–10, Konsensstärke ⇑⇑/⇑):

  • Ausmaß an Somatisierung,

  • Emotionalität,

  • Ausmaß an Antriebs- bzw. psychomotorischen Störungen,

  • Ausmaß an kognitiven Störungen,

  • Ausmaß an psychotischem oder psychosenahem Erleben und Verhalten,

  • Ausmaß an qualitativen und quantitativen Bewusstseins- und Orientierungsstörungen,

  • Ausmaß an Verhaltensauffälligkeiten,

  • Ausmaß an zwischenmenschlichen Problemen,

  • Ausmaß an körperlichen Funktionsbeeinträchtigungen.

Krankheitsverarbeitung

In Anlehnung an die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD-2) sind die hierbei zu beurteilenden Faktoren (Empfehlungen II. 11–18, Konsensstärke ⇑⇑):

  • Leidensdruck,

  • Krankheitskonzept,

  • subjektives Leistungskonzept,

  • vorhandene Ressourcen,

  • Leistungsmotivation,

  • Veränderungsmotivation,

  • vorhandene Veränderungsressourcen. Hierzu zählen persönliche Ressourcen ebenso wie die psychosoziale Unterstützung (Kontextfaktoren).

Aktivitäten und Fähigkeiten

Unter Aktivitäten wird alles gefasst, was ein Individuum tut oder tun könnte, sowohl auf der Ebene der körperlichen Aktivität als auch auf der psychosozialen Ebene (z. B. in der Interaktion mit anderen). Die Einschränkungen auf den Ebenen der Aktivität sind neben dem Ausmaß an psychischen Funktionsstörungen zentral für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit. Aktivitäten umfassen körperliche und psychosoziale Variablen sowie Umweltfaktoren. Die Einschränkungen der Aktivitäten resultieren aus den Einschränkungen der psychischen und somatischen Funktionen und werden maßgeblich durch Faktoren der Krankheitsverarbeitung (s. oben) beeinflusst. Die zugehörige Beurteilung kann sich an den 14 Bereichen orientieren, wie sie in der Mini-ICF-APP [2] dargestellt wurden (Empfehlungen II. 19–20, Konsensstärke ⇑⇑).

Beurteilung intentionaler Verzerrungen

Die Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit sowie krankheitsbedingter Leistungsbeeinträchtigungen ohne explizite Maßnahmen zur Validierung von Klagen über Beschwerden sowie körperlicher und psychosozialer Einschränkungen ist unvollständig. Ohne dokumentierte Validierung (Darstellung der zur Validierung verwendeten Informationen, Begründung der gutachterlichen Urteilsbildung) kann eine vollbeweisliche Sicherung der Klagen oder gezeigter Funktionsbeeinträchtigungen nicht angenommen werden.

Die Bewertung der Gültigkeit von Aussagen, Beobachtungen oder Testleistungen soll im Rahmen einer Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung erfolgen. Weitergehend kann dies auf der Grundlage geeigneter psychologischer Validierungskonzepte und Validierungsmethoden erfolgen. Dazu können standardisierte und normierte Validierungsmethoden ebenso wie testpsychologisch gestützte Merkmalsvergleiche in den Bewertungsprozess integriert werden (Empfehlung II. 21, Konsensstärke ⇑⇑).

Leistungsbeurteilung und Prognose

Bei der abschließenden Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit sind die konkreten Vorgaben des jeweiligen Rechtsgebiets zu berücksichtigen, inwieweit Maßstab der allgemeine Arbeitsmarkt, die zuletzt ausgeübte berufliche Situation und/oder eine zumutbare Verweistätigkeit ist. Dabei sind in der Prognoseeinschätzung meist auch zeitliche Aspekte und potenzielle Veränderungen durch die Teilnahme an therapeutischen oder rehabilitativen Maßnahmen zu bewerten (Empfehlung II. 22, Konsensstärke ⇑⇑).

Teil III – Kausalitätsfragen

Der Leitlinienteil zur Begutachtung bei Kausalitätsfragen im Sozial‑, Zivil- und Verwaltungsrecht enthält zunächst 2 Grundlagenteile.

  • Im Kapitel „Rechtliche Grundlagen“ werden die für den ärztlichen Sachverständigen wichtigsten rechtlichen Begrifflichkeiten und Regeln zusammengefasst, die für die Begutachtung von Kausalitätsfragen von Bedeutung sind. Neben einer Darstellung der betroffenen Rechtsgebiete werden die dort geltenden Kausalitäts- und Beweisregeln aufgeführt und es finden sich Hinweise zur Bewertung unfallfremder „konkurrierender“ Faktoren sowie zur Bemessung von Schädigungsfolgen, die in einem abschließenden Kapitel am Ende der Leitlinie nochmals für die einzelnen Rechtsgebiete vertieft werden.

  • Das Kapitel „Grundlagen der Psychotraumatologie“ dient mit Blick vor allem auf nichtmedizinische Leser der Leitlinie dem Einstieg in das Thema. Neben der Definition der Begriffe Trauma und Resilienz werden die verschiedenen Traumaarten in Modifikation der im DSM‑5 genannten Beispiele (Tab. 1) sowie mögliche prä-, peri- und posttraumatisch Kontextfaktoren (Tab. 2) beschrieben, und es werden mögliche traumareaktive Entwicklungen sowohl aus rechtlicher (Abb. 2) als auch aus medizinischer Sicht (Abb. 3) dargestellt.

Tab. 1 Unterschiedliche Formen potenziell traumatisierender Ereignisse als Ursache posttraumatischer Belastungsstörungen. (Nach [4] und [3], mod. gemäß DSM-5)
Tab. 2 Beispiele von Kontextfaktoren für die Entwicklung psychoreaktiver Störungen. (Mod. nach [1])
Abb. 2
figure 2

Entwicklungswege psychischer Störungen nach traumatisierenden Ereignissen aus rechtlicher Sicht

Abb. 3
figure 3

Verlaufsformen traumareaktiver Entwicklungen

Der Hauptteil der Leitlinie enthält zunächst eine umfassende Darstellung der diagnostischen Kriterien psychoreaktiver Störungen, gefolgt von einer systematischen Diskussion der zugehörigen gutachtlichen Kriterien.

Diagnostische Kriterien psychoreaktiver Störungen

Die Leitlinie weist ausdrücklich darauf hin, dass die Symptomatik psychoreaktiver Störungen vielgestaltig ist und sich nicht auf posttraumatische Belastungsstörungen beschränkt. In den diagnostischen Aussagen orientiert sie sich an der ICD-10-Klassifikation sowie am DSM‑5. Soweit es den Leitlinienautoren sinnvoll erschien, berücksichtigt sie jedoch auch die diagnostischen Kriterien der 2019 in zunächst englischsprachiger Version publizierten ICD-11 (Release-Fassung). Dies betrifft insbesondere die dort neu aufgenommene komplexe posttraumatische Belastungsstörung. Neben den diagnostischen Kriterien finden sich auch literaturbasierte Angaben zur Prävalenz und Inzidenz, zum Verlauf sowie zu differenzialdiagnostischen Erwägungen bei den beschriebenen Störungen, soweit dies gutachtlich von Bedeutung ist. Diskutiert werden dabei auch Fragen des zeitlichen Verlaufs z. B. beim verzögerten Beginn einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie zur Bedeutung mehrfacher traumatisierender Ereignisse.

Gutachtliche Kriterien bei psychoreaktiven Störungen

Sofern bei einer geltend gemachten Schädigung ein direkter Beweis („prima facie“) nicht zu führen ist, erfordert die gutachtliche Kausalitätsbeurteilung sowohl körperlicher als auch psychischer Schäden in allen Rechtsgebieten – mit allerdings unterschiedlichem Beweismaß – den positiven Nachweis möglichst vieler für einen Zusammenhang sprechender Befunde oder Indizien, im rechtlichen Kontext auch als Anknüpfungstatsachen bezeichnet. Je mehr solcher Anknüpfungstatsachen nachweisbar und je bedeutsamer diese für das erkennbare Störungsbild sind, umso mehr untermauern diese die gutachtliche Annahme eines Schädigungszusammenhangs (Tab. 3).

Tab. 3 Mögliche Anknüpfungstatsachen als Indizien für den Nachweis ereignisreaktiver psychischer Störungen

Auf Basis dieser Vorgaben enthält die Leitlinie, thematisch getrennt in ereignisreaktive psychische Störungen und mittelbare psychische Folgen infolge einer Körperschädigung, eine strukturierte Darstellung der zum Nachweis einer derartigen Störung beitragenden Anknüpfungstatsachen. Eine zusammenfassende Darstellung der erarbeiteten Empfehlungen für die in der Leitlinie aufgeführten psychoreaktiven Störungen findet sich in Tab. 4 (Empfehlungen III. 1–8, Konsensstärke ⇑⇑).

Tab. 4 Kriterien für die gutachtliche Anerkennung ereignisreaktiver psychischer Störungen sowie mittelbarer psychischer Folgen einer Körperschädigung

Besonderheiten der gutachtlichen Untersuchung

Ergänzend zu Teil I der Leitlinie finden sich hier Hinweise zu spezifischen Besonderheiten der gutachtlichen Untersuchung bei Kausalitätsfragen. Verwiesen wird u. a. auf die Bedeutung einer sorgfältigen Aufarbeitung der Aktenlage bereits vor der gutachtlichen Untersuchung mit besonderem Fokus auf die zeitnahe Dokumentation nach dem/den schädigenden Ereignis/sen, der bei schweren Traumafolgestörungen häufig schwierigen gutachtlichen Beziehungsgestaltung sowie der freien gutachtlichen Exploration mit der Möglichkeit der Verhaltensbeobachtung des zu Begutachtenden. Diskutiert wird auch der Einsatz testpsychologischer Verfahren, die zur Erweiterung der Beurteilungsbasis sowie zur Beschwerdenvalidierung herangezogen werden können, jedoch allein keine Diagnose begründen (Empfehlungen III. 9–12, Konsensstärke ⇑⇑).

Fazit für die Praxis

  • Die AWMF-Leitlinie dient der Qualitätssicherung bei psychiatrischen und psychosomatischen Begutachtungen.

  • Begutachtungen erfordern die Beachtung der jeweiligen rechtlichen Vorgaben.

  • Die Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit setzt eine mehrdimensionale Beurteilung und Beschwerdenvalidierung voraus.

  • Traumafolgestörungen können vielfältig auftreten, posttraumatische Belastungsstörungen stellen nicht die einzige Traumafolge dar.

  • Je mehr Einzelbefunde („Anknüpfungstatsachen“) für das Vorliegen einer Traumafolgestörung sprechen, umso mehr ist die entsprechende Diagnose gutachtlich zu sichern.