Der Begriff Prokrastination stammt aus dem Lateinischen: Hier ist „crastinus“ „der morgige Tag“; „procrastinare“ bedeutet entsprechend „eine Sache auf morgen verschieben“. Im Unterschied zum verbreiteten gelegentlichen Aufschieben, das fast jedem aus dem Alltag bekannt ist, verstehen wir unter Prokrastination eine ernsthafte Störung der Selbststeuerung in Form andauernden exzessiven Aufschiebens der Erledigung „eigentlich“ anstehender Aufgaben oder Tätigkeiten auf einen späteren Zeitpunkt.

Definitionen

Der Schriftsteller Max Goldt betont den Aspekt des Schweregrads in Abgrenzung zur „schlichten, unbesorgt hinzunehmenden Faulheit“, wie sie etwa in einem unordentlichen Haushalt vorkommt, in ironischer Übertreibung:

Der Begriff bezeichnet ein nichtzeitmangelbedingtes, aber umso qualvolleres Aufschieben dringlicher Arbeiten in Verbindung mit manischer Selbstablenkung, und zwar unter Inkaufnahme absehbarer und gewichtiger Nachteile. Insofern ist nicht jedes Aufschieben mit dem schönen neuen Wort zu bezeichnen. … Der echte Prokrastinierer … ist weder faul noch undiszipliniert. Unter sozialer Kontrolle ist er schnell, geschmeidig und effizient, … stolz auf seine Multitasking-Fähigkeit, Kern- und Schlüsselkompetenz. Doch wehe, er wird allein gelassen und muss zu Hause arbeiten … (Goldt 2006).

In der psychologischen Fachliteratur werden für Prokrastination recht unterschiedliche Definitionen vorgeschlagen. Von Solomon und Rothblum (1984) wird Prokrastination bezeichnet als:

… the act of needlessly delaying intended tasks to the point of experiencing subjective discomfort.

Demnach handelt es sich also um unnötiges Aufschieben und nicht um Verschieben etwa aufgrund von Überbeanspruchung durch zu viele gleichzeitige Aufgaben. Van Eerde (2003) hebt den Aspekt der Vermeidung unangenehmer Komponenten der aufgeschobenen Tätigkeit und die als Konflikt erlebte Kluft zwischen Absicht und Tun hervor. Steel (2007) spricht von Prokrastination als freiwilliger und bewusst Nachteile in Kauf nehmender Entscheidung:

… voluntarily delaying an intended course of action despite expecting to be worse off for the delay.

Bei allen Unterschieden zwischen den zahlreichen Definitionen von Prokrastination gibt es bestimmte Merkmale, die immer wieder auftauchen. Vor allem die folgenden 7 Aspekte lassen sich bei Durchsicht der Begriffsbestimmungen identifizieren:

  • Aufgabenaversion im Sinn von Widerwillen gegenüber der aufgeschobenen Tätigkeit,

  • Vorziehen weniger wichtiger Aufgaben zuungunsten der ursprünglich beabsichtigten,

  • gedankliche Beschäftigung mit der aufgeschobenen Aufgabe,

  • emotionales Unbehagen bei der Bewusstmachung des Aufschiebens,

  • zunehmender Zeitdruck und Stress mit ablaufenden Fristen bzw. deren Versäumen,

  • Qualitätseinbußen der resultierenden Leistung wegen Zeitverlusts durch Aufschieben,

  • Beeinträchtigung oder Scheitern beim Erreichen persönlich wichtiger Ziele.

Manche Autoren heben einzelne Aspekte besonders hervor; andere kombinieren in ihrer Definition mehrere dieser Merkmale (Steel 2007).

Zusammenfassend kann festgehalten werden: Das wiederholte unnötige Prokrastinieren wichtiger Tätigkeiten geschieht, obwohl Zeit dafür zur Verfügung gestanden hätte, zugunsten unwichtigerer Ersatztätigkeiten, trotz Kenntnis der negativen Folgen und oft verbunden mit schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen. Es verursacht neben Stress und Hektik bei der Aufgabenerledigung „auf den letzten Drücker“ viel Ärger und anhaltende Unzufriedenheit, Beeinträchtigungen im beruflichen Fortkommen, Störungen in persönlichen Beziehungen und nicht zuletzt erhebliche Scham- und Unzulänglichkeitsgefühle in Verbindung mit einem negativen Selbstbild.

Prävalenz, Begleitmerkmale und diagnostische Erfassung

Aufschieben kann aufgrund verschiedener Querschnittsstudien als normal verteiltes Merkmal gelten (Höcker et al. 2017a). Entsprechend der – aus mangelnder konzeptueller Übereinstimmung resultierenden – sehr unterschiedlichen Erhebungsinstrumente in Prävalenzstudien schwanken die Angaben zum Vorkommen sehr stark zwischen 10 % und mehr als 75 %. Die Forschung zu dieser Thematik hat seit Mitte der 1990er-Jahre enorm zugenommen, wobei Untersuchungen zur akademischen Prokrastination deutlich überwiegen (Schouwenburg et al. 2004; Steel 2007; Grunschel 2013; Klingsieck 2013). Probleme von Studierenden im Bereich der Selbstorganisation und der Selbststeuerung sind verbreitet, da ein Studium im Vergleich zum Lernen in der Schule ein hohes Maß an Selbstständigkeit in der persönlichen Planung der Aneignung und Anwendung von Fachkenntnissen verlangt, sowie die volitionale Kompetenz, diese Planungen in eigenständiges Lernen und Schreiben von Arbeiten umzusetzen. Mit den längerfristigen, komplexen und anstrengenden Anforderungen im Studium werden Defizite der Selbststeuerung offensichtlicher und äußerst relevant für Erfolg oder Misserfolg.

Die Einrichtung und langjährige Arbeit einer eigenen Spezialambulanz für Prokrastination an der Universität Münster ermöglicht inzwischen verlässliche Angaben darüber, ab welchem Ausmaß Studierende selbst ihr Aufschiebeverhalten als behandlungsbedürftige Störung betrachten und deshalb eigeninitiativ um ein spezifisches Training oder um Therapie nachsuchen. Der Mittelwert dieser Betroffenen im ersten Faktor der Aitken Procrastination Scale (APS), einem Trait-Fragebogen zur Prokrastinationstendenz, konnte in einigen der nachfolgend beschriebenen Studien als „cut-off score“ verwendet werden (Höcker et al. 2017a).

So ergab eine Querschnittsstudie (Deters 2006) an der Universität Münster mit 836 Teilnehmern (aus einer Zufallsstichprobe von 10.000 kontaktierten Studierenden) zu Auswirkungen und Vergleichsmerkmalen von Prokrastination, dass 14,6 % ernsthafte Probleme mit dieser Störung haben. Nur knapp 2 % der Studierenden gaben an, gar nicht aufzuschieben. Weiter zeigte sich: Prokrastinierende haben schlechtere Abiturnoten (d = 0,34), sind älter (d = 0,33) und studieren länger (d = 0,37) als ihre Kommilitonen. Sie beschreiben ihre Studienfächer als weniger strukturiert (d = 0,29), berichten mehr körperliche (d = 0,72) und psychische (d = 1,05) Beschwerden und haben ein drastisch höheres Depressionsrisiko (d = 1,26) als Nichtprokrastinierer. Eine vorangegangene Querschnittsstudie (Opitz 2004; Patzelt 2004) mit 939 Teilnehmern hatte eine ähnlich hohe Prävalenz sowie einen deutlichen Zusammenhang der Prokrastination mit Versagensangst und Angst vor negativer Bewertung durch andere ergeben.

Die Metaanalyse von Steel (2007) wies erwartbar positive Zusammenhänge z. B. mit „self-handicapping“ (d. h. selbstwertdienlicher Vermeidung objektiver Leistungsrückmeldung), Ablenkbarkeit, Impulsivität Aufgabenaversivität, Depressivität und Neurotizismus nach, sowie negative Korrelationen mit Gewissenhaftigkeit, Selbstkontrolle, Selbstvertrauen und Leistungsmotivation.

Auch gängige Erhebungsinstrumente für Prokrastination spiegeln jeweils Teile der berichteten Definitionsaspekte und Begleitmerkmale wider: Neben der zentralen Prokrastination weist die bereits erwähnte APS die Dimensionen „mangelnde Vorausschau“ und „Unpünktlichkeit“ auf, das Academic Procrastination State Inventory (APSI) „Angst/Unsicherheit“ und „Abneigung“ sowie der von uns entwickelte Allgemeine Prokrastinationsfragebogen (APROF) „Aufgabenaversivität“ und „Alternativenpräferenz“ (Patzelt und Opitz 2005; Höcker et al. 2017a).

Prokrastination: Symptom oder Störung?

Ist chronisches, exzessives Aufschieben nur ein Symptom, das im Zusammenhang mit unterschiedlichen psychischen Störungen auftritt, oder kann es als eigenständige psychische Störung betrachtet werden, auch wenn es im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) oder in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) als solche nicht aufgeführt wird? In Untersuchungen zum Zusammenhang mit psychischen Störungen wie Depression oder Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) konnten lediglich Überschneidungen, aber kein Aufgehen der Prokrastinationssymptomatik in diesen festgestellt werden (Rist et al. 2011). Allerdings erscheint selbst beim Anlegen strenger diagnostischer Maßstäbe eine Prävalenz von Prokrastination mit immer noch ca. 15 % zwar besorgniserregend, aber für das Feststellen einer behandlungsbedürftigen klinischen Störung doch auch als sehr hoch.

Da bisher unterschiedlich kombinierte Prokrastinationsdefinitionen und Erhebungsinstrumente zu abweichenden Prävalenzschätzungen und Forschungsergebnissen führten, schien die Entwicklung einer kategorialen Falldefinition mit eindeutigen, strengen Diagnosekriterien, analog zu denen in DSM bzw. ICD seit Langem fällig. Sie ist Voraussetzung für die klinisch-psychologische Untersuchung von Prokrastination und von wirksamen Behandlungsverfahren als Basis für praktische Indikationsentscheidungen. Hierzu wurde in einer weiteren Querschnittsstudie an der Universität Münster mit 990 von 10.000 zufällig ausgewählten kontaktierten Teilnehmern aus einer Reihe von 14 vorläufigen Kriterien die günstigste Kombination von 8 Kriterien ermittelt, die den besten Vorhersagewert für das Ausmaß von Prokrastination im APS (Faktor 1) erreichte (Wolf 2011; Höcker et al. 2017a). Die Beantwortung dieser Kriterien erlaubt somit eine recht zuverlässige und valide Unterscheidung von Prokrastinierern und Nichtprokrastinierern. Selbst auf der Basis dieser strengen Zuordnung ergab sich noch eine relativ hohe Prävalenz von ca. 10 %. Die resultierenden Diagnosekriterien sind in Infobox 1 aufgeführt.

Infobox 1 Diagnosekriterien für Prokrastination

  1. A.

    In den letzten 6 Monaten wurden sehr wichtige Tätigkeiten an mindestens der Hälfte der Tage über den passenden Zeitpunkt hinaus aufgeschoben, obwohl Zeit für deren Erledigung zur Verfügung stand

  2. B.

    Aufgrund des Aufschiebens wurde das Erreichen persönlicher Ziele stark oder sehr stark beeinträchtigt

  3. C.

    Zusätzlich werden mindestens 3 der folgenden 6 Kriterien erfüllt

    1. 1.

      Es wurde mehr als die Hälfte der für die Erledigung der Aufgabe zur Verfügung stehenden Zeit mit Aufschieben verbracht

    2. 2.

      An mindestens der Hälfte der Tage wurden andere, weniger wichtige Tätigkeiten vorgezogen, obwohl man eigentlich mit der wichtigen Aufgabe beginnen wollte

    3. 3.

      Die zu erledigenden Aufgaben haben an mehr als der Hälfte der Tage Abneigung und Widerwillen ausgelöst

    4. 4.

      Mindestens die Hälfte der Vorhaben, die im letzten halben Jahr abgeschlossen werden sollten, wurde aufgrund des Aufschiebens nur unter großem Zeitdruck oder gar nicht fertiggestellt

    5. 5.

      Aufgrund des Aufschiebens besteht eine Beeinträchtigung des Leistungspotenzials von mindestens 50 %

    6. 6.

      Es liegen mindestens 5 körperliche und/oder psychische Beschwerden vor, die durch das Aufschieben hervorgerufen wurden

      Körperliche Beschwerden: Muskelverspannungen, Schlafstörungen, Herz- bzw. Kreislaufprobleme, Magen- bzw. Verdauungsprobleme

      Psychische Beschwerden: innere Unruhe, Druckgefühl, Hilflosigkeit, innere Anspannung, Angst

  4. D.

    Die Probleme werden nicht besser erklärt durch eine andere Achse-I- oder Achse-II-Störung

Die Kriterien können mit dem analog konstruierten, quantitativ differenzierteren und leicht auszuwertenden DKP-Fragebogen Footnote 1 erhoben werden.

Wenn chronisches und exzessives Aufschieben in klinisch relevantem Ausmaß festgestellt wird, ist bei der Diagnosestellung in der Praxis differenzialdiagnostisch v. a. zu prüfen, ob affektive Störungen, Prüfungsangst, Anpassungsstörungen, Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen, soziale Ängste, Substanzabhängigkeit oder evtl. auch eine Prodromalsymptomatik vorliegen, und innerhalb welcher Diagnose die Prokrastinationssymptomatik am besten „aufgeht“. Auch assoziierte Persönlichkeitsstörungen – wie etwa die narzisstische, zwanghafte oder ängstlich-vermeidende – prägen nicht selten das Erscheinungsbild und sind in der therapeutischen Beziehungsgestaltung zu beachten.

Erklärungsmodelle und individuelle Bedingungsanalyse

Entstehung und Aufrechterhaltung von Prokrastination können durch ein schlichtes lerntheoretisches Bedingungsmodell der Vermeidung von bzw. Flucht vor „Aufgabenaversivität“ (Steel 2007; Höcker et al. 2017a) plausibel erklärt werden: Durch Aufschieben wird der schwierigen oder anstrengenden Aufgabe mitsamt den verbundenen unangenehmen Gefühlen ausgewichen, und es werden stattdessen weniger unangenehme oder sogar positiv erlebte attraktivere Ersatztätigkeiten ausgeführt. So wird – oft noch unterstützt durch erlaubniserteilende Kognitionen – kurzfristig eine Stimmungsverschlechterung vermieden (negative Verstärkung) bzw. ein besseres Gefühl erzeugt (positive Verstärkung). Zwar entstehen langfristig Leistungsrückstand, Zeitdruck, Selbstvorwürfe und Misserfolge (negative Konsequenzen; Bestrafung), die die Aversion gegen die Aufgabe noch erhöhen, aber diese sind eben nicht akut verhaltenssteuernd.

Das beschriebene Modell der Verhaltenssteuerung durch kurzfristig verstärkende, wirksame Konsequenzen entgegen der „vernünftigeren“ Vermeidung langfristiger Nachteile bzw. der Durchsetzung langfristig gewünschter Folgen ist charakteristisch für Probleme der Selbstkontrolle. Bei der praktischen Erarbeitung des individuellen Erklärungsmodells mit Betroffenen sollten deshalb biografische Hinweise auf Defizite im Lernen von Frustrationstoleranz, Konzentrationsfähigkeit und Durchhaltevermögen bei Anstrengung und Mühe, aber auch prägende Erfahrungen mit Leistungsdruck, Misserfolgen, negativer Bewertung, Unsicherheit und Versagensangst beachtet werden.

Interessant für die Aufrechterhaltung von Prokrastination sind darüber hinaus die Bewältigungsstrategien beim Näherrücken von Fristen für relativ wichtige Arbeiten: Entweder beginnt die betroffene Person „auf den letzten Drücker“ mit der Arbeit, unter hochgradiger Mobilisierung aller Ressourcen und Senkung der eigenen Ansprüche, und entwickelt so ggf. trotz Unzufriedenheit mit dem Ergebnis die auf Dauer problematische Erwartung, in sehr kurzer Zeit doch recht viel schaffen zu können. Oder sie schafft es im letzten Moment nicht mehr, sich hinreichend zu aktivieren, gibt die Absicht auf, ist damit von der bevorstehenden großen Anstrengung und dem möglichen Scheitern an der Aufgabe zunächst entlastet – allerdings mit hohen persönlichen Kosten wie zunehmendem Leistungsrückstand, allgemeinem Versagenserleben bis hin zur Depression, negativer Fremdbewertung und nicht selten sozialer Isolation.

Über die lerntheoretische Analyse hinausgehend kann das Verständnis sowohl misslingender als auch erfolgreich gelingender Selbstregulation durch die Einbeziehung motivations- und volitionspsychologischer Aspekte erweitert werden. Hier ist die Anwendung des Rubikonmodells der Handlungsphasen (Infobox 2) äußerst hilfreich, das für den Prozess der Bildung und Realisierung von Absichten vier notwendige Schritte idealtypisch unterscheidet (Heckhausen und Gollwitzer 1987; Achtziger und Gollwitzer 2006).

Infobox 2 Rubikonmodell der Handlungsphasen

  1. 1.

    Absichtsentstehung: Wahrnehmen und Abwägen von Bedürfnissen, Wünschen und möglichen Handlungstendenzen

    → Mit Entscheidung für eine Tendenz (Rubikon) wird diese zur verpflichtenden Absicht

  2. 2.

    Handlungsplanung: Aufrechterhaltung der Absicht und Handlungsvorbereitung, Bildung von konkreten Gelegenheitsvorsätzen

    → Mit Handlungsinitiierung Übergang zur nächsten Phase des Tuns

  3. 3.

    Handlungsausführung: praktische Umsetzung der Absicht, durchhalten und ggf. anpassen

    → Mit Erreichen des jeweiligen Handlungsziels Beenden der Handlung

  4. 4.

    Ergebnisbewertung: Handlung und Ergebnis im Hinblick auf das Ziel bewerten

    → Abschluss der Handlung bzw. des Teilschritts, innere Ablösung von der Absicht

Prokrastination lässt sich in diesem Modell genau an der kritischen Stelle des Übergangs von Phase 2 in Phase 3, also der Handlungsinitiierung, verorten. Gleichzeitig werden Voraussetzungen für das Beginnen zielgerichteten und erfolgreichen Handelns deutlich: Der Entschluss für ein Ziel – also eine Absicht – muss zuvor ernsthaft gefasst worden sein; weiter sollten ein konkreter Plan und ein Gelegenheitsvorsatz zur Realisierung existieren. Das zügige und effiziente Absolvieren der Phasen gelingt umso besser, je mehr die betreffende Person es schafft, sich auf den anstehenden Schritt zu konzentrieren sowie sich gegenüber akuten Ablenkungen und Störungen, wie evtl. auftretendem Unbehagen oder konkurrierenden Wünschen nach Alternativtätigkeiten, abzuschirmen. Auch ihre Fähigkeit zu Motivations- und Emotionskontrolle, sich also zum Zeitpunkt des Beginns in die passende innere Bereitschaft und Stimmung zu versetzen, ist entscheidend für die Handlungsinitiierung (Martens und Kuhl 2013). Das Rubikonmodell ist Betroffenen plausibel zu vermitteln; es erleichtert in der Ableitung eines individuellen Störungskonzepts die Identifizierung von Defiziten und erlaubt die Formulierung individueller Veränderungsziele.

Münsteraner Interventionskonzept

Komponenten

Die an der Prokrastinationsambulanz der Universität Münster entwickelten und überprüften kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungsmodule (Höcker et al. 2017a, 2017b) basieren auf den oben beschriebenen Konzepten und richten sich auf prokrastinationsspezifische Teilkompetenzen der Selbstregulation. Sie können sowohl unter therapeutischer Anleitung im Gruppen- und im Einzelsetting als auch von den Betroffenen eigenständig in Form eines ratgebergestützten Trainings durchgeführt werden. Sie umfassen folgende Komponenten:

  1. 1.

    Selbstbeobachtung (Arbeitstagebuch),

  2. 2.

    pünktliches Beginnen,

  3. 3.

    realistisches Planen,

  4. 4.

    Arbeitszeitrestriktion,

  5. 5.

    Bedingungsmanagement (Arbeitsplatzgestaltung, Umgang mit Störungen, Selbstverstärkung).

Selbstbeobachtung.

Voraussetzung für die Anwendung von Modulen des Münsteraner Interventionsprogramms ist die Auswahl eines bestimmten persönlichen Projekts, an dem der Teilnehmer oder Patient zunächst für etwa 5 Wochen gezielt arbeiten will. In der Regel handelt es sich um bereits mehrfach seit Längerem aufgeschobene Vorhaben, wie das rechtzeitige Lernen für Prüfungen, das Verfassen von schriftlichen Arbeiten oder die Erledigung komplexer unangenehmer beruflicher Aufgaben. Ab der Woche vor Beginn der Intervention soll der Patient täglich ein (Online‑)Arbeitstagebuch ausfüllen, indem er geplante sowie durchgeführte Beginnzeit und Dauer der jeweils ersten Arbeitseinheit an diesem Projekt festhält. Dieses Arbeitstagebuch wird nach der Baseline-Woche auch während des gesamten Trainings weitergeführt.

Pünktliches Beginnen und realistisches Planen.

Charakteristisch für die Intervention ist die Konzentration auf die täglich als erste vorgenommene Arbeitseinheit, die orientiert an der Baseline, aber mit mindestens 20 min Dauer geplant wird. Daran werden im Modul „Pünktlich beginnen“ exemplarisch das Bilden einer Gelegenheitsintention durch Setzen eines klaren Beginnzeitpunkts, die Einplanung von Pufferzeit, die Etablierung eines Einstimmungsrituals mit konkreter Signalsetzung und einer motivierenden Selbstinstruktion sowie die Verpflichtung durch einen „Selbstvertrag“ eingeübt. Im Modul „Realistisch planen“ wird täglich für eine bestimmte Zeitspanne ein realistisches Arbeitsziel mit Kriterien für die Zielerreichung und mit erforderlichen Teilschritten festgelegt. Die Module sind gut kombinierbar; sie werden jeweils in einer Sitzung vorgestellt und individuell implementiert; in der zweiten Sitzung werden Erfahrungen und Probleme besprochen und ggf. Modifikationen abgeleitet. In einer zusätzlichen 5. Sitzung wird das gesamte Training ausgewertet.

Arbeitszeitrestriktion und Bedingungsmanagement.

Eine andere Interventionsvariante wendet das Prinzip der Arbeitszeitrestriktion an, wodurch die Attraktivität der Arbeit durch die Zeitverknappung erhöht und die Unterscheidung zwischen Arbeitszeit und Freizeit wiederhergestellt werden soll. Die Patienten müssen sich hier auf die zeitliche Beschränkung der Arbeitsgelegenheit – realistisch orientiert an ihrer Baseline – einlassen. Außerhalb zweier genau definierter Arbeitszeitfenster herrscht Arbeitsverbot. Erst wenn diese effizient genutzt worden sind, dürfen die Patienten sich nach festen Regeln zusätzliche Arbeitszeit „verdienen“. Dieses Modul erstreckt sich über 5 Wochen und wird ab Sitzung 3 durch das Modul „Bedingungsmanagement“ ergänzt, in dem Arbeitsplatzgestaltung, Umgang mit Störungen und Möglichkeiten der Selbstverstärkung thematisiert werden.

Evaluation

Die Evaluation der Interventionen ergab im Prä-post-Vergleich beeindruckende Effektstärken, für Modulkombination 1 und 2 (z. B. APS d = 0,95; APSI d = 1,45; n = 101) sowie für die Module 4 und 5 (z. B. APS d = 1,3; APSI d = 2,24, n = 85) bei guter Stabilität in einem Dreimonate-Follow-up (Höcker 2010). Die empirische Überprüfung eines neu entwickelten Moduls zur kognitiven Arbeit an prokrastinationsspezifischen Einstellungen und Selbstverbalisierungen ist geplant (Höcker et al. 2017a, 2017b).

Fazit für die Praxis

  • Aufgrund der hohen Prävalenz von Prokrastination sollte bei Selbstregulationsstörungen eine spezifische Diagnostik erfolgen.

  • Über die lerntheoretische Analyse hinausgehend kann das Verständnis von Selbstregulation durch die Einbeziehung des Rubikonmodells der Handlungsphasen erweitert werden.

  • Mit den kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungsmodulen des Münsteraner Interventionskonzepts können prokrastinationsspezifische Teilkompetenzen der Selbstregulation erfolgreich trainiert werden. Sie können sowohl unter therapeutischer Anleitung im Gruppen- und im Einzelsetting als auch von den Betroffenen eigenständig in Form eines ratgebergestützten Trainings durchgeführt werden.