Präambel

Ziel der Leitlinie

Die Leitlinie soll den Ablauf und den Inhalt der Begutachtung von Patienten, die Schmerzen als Leitsymptom beklagen, vereinheitlichen. Sie soll der Komplexität von Schmerz, Schmerzerleben und Schmerzbeeinträchtigung durch interdisziplinäres Zusammenwirken gerecht werden. Durch die Beschreibung sowohl der fachgebundenen Kompetenz als auch der Zusammenarbeit zwischen Gutachtern verschiedener Fachdisziplinen sollen qualitätssichernde Maßnahmen für die Gutachtenerstellung und die Grundlagen für einheitliche Einschätzungen schmerzkranker Probanden in den verschiedenen Rechtsbereichen ermöglicht werden. Damit soll auch die Verständigung zwischen Ärzten und Juristen verbessert werden.

Inhalt der Leitlinie

Grundlage der Leitlinie sind einerseits das Grundlagenwissen um Schmerzentstehung, Schmerzverarbeitung und Schmerzchronifizierung sowie die fachgebietsspezifischen Einschätzungen zu schmerzkranken Probanden. Andererseits werden Kenntnisse der Begutachtungsgrundlagen für verschiedene Rechtsbereiche zugrunde gelegt. Wesentlich war die Zusammenführung fachgebietsspezifischer Erkenntnisse zu einer interdisziplinären Leitlinie. Bestehende Publikationen und Leitlinien zum Thema wurden berücksichtigt AWMF online; Egle UT et al. 2003; Foerster 2002; Schiltenwolf 2002; Schneider et al. 2001; Widder et al. 2002.

Spezielle Aspekte der Begutachtung von Schmerzen

Grundvoraussetzung jeder sachgerechten Begutachtung ist, dass der Sachverständige die Grundzüge der unterschiedlichen Rechtsgebiete und deren spezifische Forderungen kennt (z. B. Marx et al. 2005). Soweit die Weiterbildungsordnung in dem Fachgebiet oder dem Schwerpunkt des Gutachters keine Kenntnisse der Begutachtung vorsieht, ist eine geeignete Fortbildung erforderlich. Über diese allgemeinen Vorgaben an den Sachverständigen hinaus sind die nachfolgend genannten Besonderheiten bei der Begutachtung von Schmerzen (besonders) zu berücksichtigen.

Wahrung der Unparteilichkeit

Im Gegensatz zur üblichen ärztlichen Tätigkeit hat es der Gutachter strikt zu vermeiden, Partei für den zu Untersuchenden oder den Auftraggeber zu nehmen. Der im konkreten Fall behandelnde Arzt soll daher in der Regel nicht gleichzeitig als Gutachter tätig werden.

Bezeichnung

Entsprechend der ärztlichen Weiterbildungsordnung soll das Gutachten nach dem Fachgebiet des erstellenden Arztes benannt werden. Es soll nicht von „schmerztherapeutischen Gutachten“ gesprochen werden, da therapeutische Anliegen mit den gutachtlichen Aufgaben nicht in Einklang zu bringen sind. Auch der Begriff des „Schmerzgutachtens“ hat sich zwar im klinischen Jargon eingebürgert, ist jedoch unglücklich gewählt und sollte vermieden werden. Soweit die Fachgebietsbezeichnung des Sachverständigen nicht für die Klassifizierung des Gutachtens ausreichend erscheint, soll daher von der „Begutachtung von Schmerzen“ oder „unter besonderer Berücksichtigung chronischer Schmerzen“ gesprochen werden.

Definition und Inhalte

Von der Begutachtung von Schmerzen im engeren Sinne ist zu sprechen, wenn chronifizierte, nicht monokausal erklärbare Schmerzen im Vordergrund der geklagten Beschwerden stehen und die Einschätzung der Diagnose, der hierdurch bedingten Funktionsbeeinträchtigungen sowie der prognostischen Bewertung umfassende und vielschichtige differenzialdiagnostische Erwägungen unter Berücksichtigung einer eingehenden sowohl somatischen als auch psychopathologischen Befunderhebung erfordert. Der vorliegenden Leitlinie entsprechende Begutachtungen von Schmerzen sind daher insbesondere durch folgende Inhalte gekennzeichnet:

  • detaillierte Exploration der Beeinträchtigung alltäglicher Aktivitäten und der sozialen Partizipation,

  • eingehende körperliche und psychopathologische Befunderhebung mit Erfassung aller Schmerzlokalisationen und weiterer Körperbeschwerden,Footnote 1

  • soweit möglich und sinnvoll, Einsatz spezieller Fragebögen und Skalen mit Diskussion der Ergebnisse im Kontext zu den übrigen Befunden,

  • eingehende differenzialdiagnostische Erwägungen unter Berücksichtigung somatischer, psychischer und sozialer Aspekte,

  • umfassende Konsistenzprüfung der geklagten Beschwerden und Beeinträchtigungen im Kontext mit Exploration, erhobenen Befunden und Beobachtung, sowie

  • Diskussion der willentlichen Steuerbarkeit der geklagten Beschwerden und Beeinträchtigungen.

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien erfordern Begutachtungen chronischer Schmerzen aufgrund der meist komplizierten, widersprüchlichen Befundlage gegenüber anderen Formen der Begutachtung einen deutlich erhöhten Zeitaufwand. Sie entsprechen daher häufig Gutachten mit einem hohen Schwierigkeitsgrad gemäß der Definition des Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetzes (JVEG).Footnote 2

Umgang mit Probanden aus anderen Kultur- und Sprachräumen

Da bei der Begutachtung von Schmerzen der Anamneseerhebung besondere Bedeutung zukommt, soll bei fremdsprachigen Probanden bereits vor der Begutachtung geklärt werden, ob hierzu ein Dolmetscher erforderlich ist. Sofern dies der Fall ist, soll der Dolmetscher vom Auftraggeber benannt werden. Familienangehörige, Freunde oder Bekannte sind in der Regel nicht heranzuziehen. Der Gutachter soll sich allerdings darüber im Klaren sein, dass Schmerzempfindung und -schilderung bei Probanden aus anderen Kulturräumen andersartig sein können und damit nur eingeschränkt in die deutsche Sprache übertragbar sind.

Ärztliche Aufgabe

Die Begutachtung von Schmerzen ist in der Regel eine primär ärztliche Aufgabe, da bei deren diagnostischer Einschätzung sowohl körperliche als auch psychische Ursachen differenziert werden müssen. Psychologen und psychologische Psychotherapeuten können ggf. im Rahmen der psychiatrischen oder psychosomatischen Begutachtung nach Klärung mit dem Auftraggeber aufgrund ihrer speziellen Kompetenz mit der Erstellung eines weiteren bzw. ergänzenden Gutachtens beauftragt werden.

Kenntnis der Krankheitsbilder

Der Gutachter muss über den aktuellen evidenzbasierten Wissensstand der Krankheitsbilder mit Leitsymptom „chronischer Schmerz“ verfügen (z. B. im Rahmen der Weiterbildung für die Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“). Hierzu soll auch auf die entsprechenden Leitlinienseiten der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) verwiesen werden.

Interdisziplinärer Charakter

Die Begutachtung chronischer Schmerzen ist eine interdisziplinäre Aufgabe und erfordert Kompetenz sowohl zur Beurteilung körperlicher als auch psychischer Störungen. An erster Stelle soll der Anteil der durch Schädigungen des Nervensystems und anderer Gewebearten erklärbarer Schmerzen durch einen geeigneten Gutachter beurteilt werden. Dieser Gutachter soll über Grundkenntnisse psychisch verursachter Schmerzen im Sinne der psychosomatischen Grundversorgung verfügen und aufgrund dieser Kenntnis Aussagen darüber machen, ob Anhaltspunkte für eine psychische Komorbidität vorliegen. Ergeben sich Hinweise auf eine solche Komorbidität, soll der Gutachter, soweit er selbst nicht über entsprechende Kompetenz verfügt, dem Auftraggeber die Heranziehung eines psychiatrisch bzw. psychosomatisch geschulten Facharztes zur weiteren Begutachtung vorschlagen. Dieser Gutachter soll zusätzlich über eingehende Kenntnisse der Erfassung und der Bewertung chronischer Schmerzen verfügen.

Problem der Quantifizierung von Schmerzen

Bildgebende oder neurophysiologische Verfahren sind bislang nicht geeignet, das Ausmaß von Schmerzen darzustellen, wenngleich sie für den Nachweis von Gewebeschädigungen unverzichtbar sind. Dem Nachweis körperlicher und/oder psychischer Beeinträchtigungen im Alltags- und beruflichen Leben kommt daher bei der Begutachtung von Schmerzen überragende Bedeutung zu. Apparativ gewonnene Zufallsbefunde ohne Relevanz für die beklagten Schmerzen sollen als nichtschmerzerklärend benannt werden.

Selbsteinschätzungsskalen und Fragebogen

Selbsteinschätzungsskalen und Fragebogen zu bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen finden bei der Begutachtung von Schmerzen häufig Anwendung und werden im Sozialgerichtsverfahren auch ausdrücklich gefordert.Footnote 3 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass diese für die Begutachtungssituation nicht valide sind. Dies gilt insbesondere auch beim Einsatz von in Deutschland entwickelten Selbsteinschätzungsskalen bei fremdsprachigen Probanden und Probanden aus einem anderen Kulturkreis. Sie können daher die Eigenschilderung der Beschwerden ergänzen und dienen der Standardisierung von Befunden, ersetzen jedoch nicht „die eigenständig zu verantwortende Leistungsbeurteilung durch einen mit der Problematik der Schmerzbegutachtung erfahrenen Sachverständigen“ (Text BSG-Urteil) und sollten daher nur im Kontext mit der Beobachtung und mit anderen Befunden eingesetzt werden. Auch können Fragebögen zum Screening bezüglich psychischer Komorbiditäten ohne entsprechende psychopathologische Befunderhebung und Diagnostik keine Diagnose begründen.

Diagnose und Funktionsminderung

Die Schwere der Krankheit des Probanden ergibt sich aus den Diagnosen und den belegten Funktionsminderungen. Diagnosen allein erklären nicht den Schweregrad einer Schmerzsymptomatik. Letztlich konkret nichts aussagende Diagnosen wie „Zustand nach (Z.n.)“ oder topisch orientierte Syndrome (z. B. Zervikalsyndrom) sind zu vermeiden. Verdachtsdiagnosen dürfen gemäß den rechtlichen Vorgaben sowohl bei der Beurteilung von Funktionsstörungen als auch der Kausalität nicht berücksichtigt werden, da Schädigungen jeweils nachzuweisen („Vollbeweis“) sind.

Behandelbarkeit und Funktionsminderung

Patienten mit psychisch (mit-)verursachten bzw. unterhaltenen Schmerzen sind häufig einer Behandlung nur schwer zugänglich. Dies kann auch Folge fehlgeleiteter Vorbehandlungen sein (iatrogene Fixierung und Schädigung). Geringer oder ausbleibender Behandlungserfolg begründet jedoch nicht zwangsläufig auch einen hohen Leidensdruck mit schweren Funktionsbeeinträchtigungen. Hoher Leidensdruck ist dann anzunehmen, wenn sich Beeinträchtigungen im privaten und/oder beruflichen Alltagsleben und in der sozialen Partizipation nachweisen lassen; dies ist im Gutachten detailliert darzustellen.

Symptomverstärkende Darstellungsformen

Simulation ist das bewusste und ausschließliche Vortäuschen einer krankhaften Störung zu bestimmten, klar erkennbaren Zwecken. Simulation gilt als selten.

Aggravation ist die bewusste verschlimmernde bzw. überhöhende Darstellung einer krankhaften Störung zu erkennbaren Zwecken. Sie ist in der Begutachtungssituation relativ häufig zu beobachten. Simulation und Aggravation sollten in Gutachten klar beschrieben werden.

Verdeutlichungstendenzen sind demgegenüber der Begutachtungssituation durchaus angemessen und sollten nicht mit Simulation oder Aggravation gleichgesetzt werden. Es handelt sich hierbei um den mehr oder weniger bewussten Versuch, den Gutachter vom Vorhandensein der Schmerzen zu überzeugen. Zunehmende Verdeutlichung kann auch mit einem desinteressierten, oberflächlichen Untersucher zusammenhängen.

Untersucherreaktion und Gegenübertragungsverhalten

Soweit richtungweisende körperliche Befunde fehlen, gilt in besonderem Maße zu beachten, dass beim Gutachter eigene Wertvorstellungen und Körpererfahrungen, das Erleben des Probanden (z. B. Abwehr bei klagsamen Probanden) und auch die eigene Tagesform die Interaktion mit dem Probanden beeinflussen können.

Einteilung von Schmerzen

In der gutachtlichen Situation sind drei Kategorien von Schmerzen zu unterscheiden (Abb. 1); die beklagten Schmerzen sind durch die Begutachtung nach diesen Kategorien zu klassifizieren und durch Diagnose(n) der International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD; Tab. 1) zu kodieren.

Abb. 1
figure 1

Einteilung von Schmerzen aus gutachtlicher Sicht; CRPS „complex regional pain syndrome“. (Details Tab. 1)

Tab. 1 Diagnostische Klassifikation der häufigsten Schmerzsyndrome im ICD-10-System

Ablauf und Inhalt der Begutachtung

Die Begutachtung von Schmerzen erfordert neben der körperlichen Untersuchung eine detaillierte und umfassende Exploration des Probanden; deswegen ist hierfür regelmäßig ein deutlich erhöhter Zeitbedarf einzurechnen. Im Einzelnen sollen Gutachten vor allem die in Tab. 2 zusammengefassten Punkte enthalten.

Tab. 2 Erforderliche Anamnese bei der Begutachtung von Schmerzen

Anamnese

Angesichts des Fehlens geeigneter technischer Messmethoden zur Quantifizierung von Schmerzen ist es im Rahmen der Anamnese Aufgabe des Gutachters, insbesondere Beeinträchtigungen im täglichen Leben und in der sozialen Partizipation sowie Fragen der Entwicklung, des Erlebens und bisheriger Behandlungsmaßnahmen der geklagten Schmerzen eingehend zu hinterfragen (Tab. 2). Hinweise hierzu können auf den Internetseiten der World Health Organization (WHO; http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/index.htm) gewonnen werden.

Klinische Befunde

Bei der körperlichen Untersuchung sollten neben der klinischen und ggf. der apparativen Untersuchung weitere Informationen zu bestehenden Funktionsstörungen aus der Beobachtung des Probanden gewonnen werden (Tab. 3).

Tab. 3 Erhebung klinischer Befunde bei der Begutachtung von Schmerzen

Bestimmung von Medikamentenspiegeln

Bedeutung bei der „Konsistenzprüfung“ der gemachten Angaben kommt im Einzelfall auch dem Serumspiegel der aktuell als eingenommen beschriebenen Medikamente zu. Nahezu alle in der Schmerztherapie und Psychiatrie relevanten Medikamente sind heute ohne größere Probleme, meist mit der Methode der Hochdruckflüssigkeitschromatographie (HPLC), nachweisbar (Tab. 4); viele größere Labors bieten entsprechende Bestimmungen an. Opiate und Benzodiazepine können ggf. auch im Urin nachgewiesen werden. Bezüglich der Quantifizierung sind allerdings Probleme der individuellen Verstoffwechselung zu berücksichtigen. Der Proband ist über den Zweck der Untersuchung aufzuklären.

Tab. 4 Mögliche Bestimmungen des Blutspiegels von Medikamenten („drug monitoring“)

Diagnosen

Die Diagnosen sollen sich an ICD-10-Kriterien orientieren; hierbei sollen für gutachtliche Belange die Funktionsstörungen an entscheidender Stelle genannt werden. Bei Diagnosen aus dem Kapitel V (F: psychische und Verhaltensstörungen) sollte im Sinne der Qualitätssicherung neben der klinischen Untersuchung zusätzlich eine strukturierte Diagnoseprozedur eingesetzt werden (s. Abschn. „Spezielle Aspekte der Begutachtung von Schmerzen“).

Prognosefaktoren

Regelmäßig hat der Sachverständige in seinem Gutachten Aussagen zur weiteren Prognose des von ihm diagnostizierten Schmerzsyndroms zu machen. Entscheidend hierfür sind drei Faktoren:

  • Chronifizierungsfaktoren,

  • Dauer der Symptomatik und

  • adäquate Therapiemaßnahmen.

Chronifizierungsfaktoren

Je mehr Kontextfaktoren für die Chronifizierung von Schmerzen erkennbar sind, umso schlechter ist im Allgemeinen die Prognose einzuschätzen (Tab. 5).

Tab. 5 Kontextfaktoren für die (weitere) Chronifizierung von Schmerzen Schneider et al. 2005; Schneider et al. 2006; Widder u. Frisch 2005

Dauer der Symptomatik

Eine nicht unwesentliche, häufig jedoch weit überschätzte Bedeutung kommt der Beschwerdedauer und insbesondere auch der Dauer der Krankschreibung zu. Die Verwendung des in der Schmerztherapie eingesetzten Mainzer Stadienmodells der Schmerzchronifizierung nach Gerbershagen Gerbershagen 1986 ist in der gutachtlichen Situation nicht zielführend, da der Chronifizierungsgrad III bereits ausschließlich aufgrund der eigenen Angabe dauerhafter, multilokulärer Schmerzen, verbunden mit einem häufigen Wechsel des betreuenden Arztes erreicht wird, ohne dass ausreichende therapeutische Maßnahmen erfolgten. Auch das LSG BerlinFootnote 4 hat unlängst nochmals ausdrücklich festgehalten, dass „allein aus der Chronifizierung eines Leidens … noch nicht auf die Quantität oder eine bestimmte Qualität der Leistungseinbußen geschlossen werden“ kann.

Adäquate Therapiemaßnahmen

Sind Schmerzsyndrome erst einmal chronifiziert, sind sie regelmäßig einer „monomodalen“, ausschließlich somatisch ausgerichteten Therapie unzugänglich, und erfordern eine umfassende psychotherapeutische Behandlung des maladaptiven, passiven Krankheitsverhaltens. Wurde bei längerer Krankheitsdauer keine geeignete „multimodale“ Behandlung (physio- und psychotherapeutisch unter einem gemeinsamen ursachenorientierten Konzept mit ggf. ambulanter Weiterbehandlung) durchgeführt, ist dies gutachtlich zu berücksichtigen. Aus dem Vorliegen stattgehabter Rehabiltationsmaßnahmen allein kann nicht auf die diagnostische und die therapeutische Güte der Behandlung geschlossen werdenFootnote 5 Huppe u. Raspe 2005. Das Fehlen adäquater Therapiemaßnahmen kann einerseits Hinweise auf eine geringe Therapiemotivation des Probanden, andererseits aber auch auf iatrogen fehlgeleitete (meist einseitig somatisch orientierte) Therapieansätze geben Gärtner u. Schiltenwolf 2004; Kouyanou et al. 1997; Kouyanou et al. 1997; Kouyanou et al. 1998; Rainville et al. 2005.

Zusammenfassung und Beurteilung

Die Zusammenfassung besteht grundsätzlich nicht in einer nur verkürzten Wiederholung von Aktenlage, Vorgeschichte, Anamnese, Befunden usw. Vielmehr ist dabei nur das aufzuführen, was zugleich für die Beurteilung und die Beantwortung der gestellten Fragen von Bedeutung ist. Bei der abschließenden gutachtlichen Beurteilung von Schmerzen sind – wie auch bei anderen Gutachten – im Allgemeinen vier Fragen zu beantworten:

  1. 1.

    Welche Gesundheitsstörungen lassen sich „ohne vernünftigen Zweifel“ nachweisen?

  2. 2.

    Bei kausalen Fragestellungen: Auf welche Ursache(n) sind diese Gesundheitsstörungen „mit Wahrscheinlichkeit“ zurückzuführen? Je nach Rechtsgebiet (z. B. Sozial- oder Zivilrecht) gelten dabei unterschiedliche Kriterien der Kausalitätsbewertung.

  3. 3.

    Welche quantitativen und qualitativen Auswirkungen haben diese Gesundheitsstörungen? Je nach Rechtsgebiet [z. B. gesetzliche oder private Unfallversicherung, gesetzliche Rentenversicherung, Berufsunfähigkeits(zusatz)versicherung, Schwerbehindertenrecht] kann die Bemessung der Funktionsstörungen unterschiedlich sein.

  4. 4.

    Welche Prognose haben die nachweisbaren Gesundheitsstörungen?

Aufgrund des Fehlens geeigneter technischer Messmethoden zur Quantifizierung von Schmerzen stehen beim Nachweis und bei der Beurteilung der Auswirkungen schmerzbedingter Funktionsstörungen zwei Fragen im Vordergrund:

  1. 1.

    Inwieweit ist der Gutachter bei kritischer Würdigung der Befunde davon überzeugt, dass die geklagten Funktionsbeeinträchtigungen bestehen („Vollbeweis“)?

  2. 2.

    Inwieweit besteht eine willentliche Steuerbarkeit der geklagten Beschwerden („sekundärer Krankheitsgewinn“)?

Funktionsbeeinträchtigungen

Hier hat der Sachverständige Stellung dazu zu nehmen, ob und aufgrund welcher Fakten anhand der Zusammenschau von Exploration, Untersuchung, Verhaltensbeobachtung und Aktenlage die anamnestisch erfassten Funktionsbeeinträchtigungen in dem beschriebenen Umfang zur subjektiven Gewissheit des Gutachters bestehen. Zweifel am Ausmaß der geklagten Beschwerden können aufkommen, wenn eines oder mehrere der in Tab. 6 genannten Kriterien erkennbar sind. Soweit aufgrund derartiger Beobachtungen eine Klärung des tatsächlichen Ausmaßes der Funktionsbeeinträchtigungen nicht möglich ist, soll sich der Gutachter nicht scheuen, dies in seinem Gutachten klar auszudrücken. Die Unmöglichkeit einer sachgerechten Beurteilung führt im Rechtsstreit meist zur Ablehnung des Renten- oder Entschädigungsantrags, da die Beweis- bzw. Feststellungslast in der Regel beim Antragsteller liegt. Diese rechtliche Konsequenz darf jedoch auf das Gutachtenergebnis keinen Einfluss haben. Ebenso ist zu beachten, dass es einen Grundsatz des „in dubio pro aegroto“ bei der Begutachtung nicht gibt.

Tab. 6 Hinweise auf nicht oder nicht in dem geklagten Umfang vorhandene Funktionsbeeinträchtigungen

Willentliche Steuerbarkeit

Lassen sich Funktionsbeeinträchtigungen zur Überzeugung des Gutachters nachweisen, gilt im zweiten Schritt zu klären, ob und inwieweit die geklagten Beschwerden bewusst oder bewusstseinsnah zur Durchsetzung eigener Wünsche (z. B. nach Versorgung, Zuwendung oder Entlastung von unangenehmen Pflichten) gegenüber Dritten eingesetzt werden und damit letztlich willentlich zu überwinden wären Winckler u. Foerster 1996 oder ob die „Schmerzkrankheit“ den Lebensablauf und die Lebensplanung soweit übernommen hat, dass eine Überwindbarkeit – willentlich und/oder durch Therapie – nicht mehr möglich erscheint. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine zunächst bewusst eingesetzte Schmerzsymptomatik sich im Rahmen einer Chronifizierung zunehmend verselbstständigen kann und schließlich nicht mehr willentlich zu beeinflussen ist. Allein die Tatsache lange dauernder Beschwerden schließt eine bewusstseinsnahe Steuerbarkeit jedoch nicht aus. Hinweise auf eine bestehende Steuerbarkeit der geklagten Beschwerden geben insbesondere die in Tab. 7 genannten Kriterien.

Tab. 7 Hinweise auf eine bestehende Steuerbarkeit der geklagten Beschwerden

Ausgehend von der Beantwortung dieser beiden Fragen ergeben sich für den Gutachter im Allgemeinen nur vier Möglichkeiten einer abschließenden Aussage zu den Auswirkungen und zur Prognose der geltend gemachten Funktionsstörungen (Tab. 8). Wie bereits oben erwähnt, dürfen die üblicherweise hieraus zu erwartenden rechtlichen Konsequenzen das Gutachtenergebnis nicht beeinflussen.

Tab. 8 Möglichkeiten der abschließenden gutachtlichen Bewertung der geklagten Funktionsbeeinträchtigungen

Klärung von Kausalitätsfragen

Chronische Schmerzen können Folge einer versicherten Schädigung sein. Die Zusammenhangsbeurteilung bei geklagten Schmerzen unterscheidet sich nicht von der bei anderen Funktionsstörungen nach schädigenden Eingriffen. Die Kausalitätsprüfung ist nach den Kriterien des jeweiligen Rechtsgebiets durchzuführen Marx et al. 2005; Widder u. Gaidzik 2007.

Die Beweisführung bei geklagten Schmerzsymptomen als Unfall- bzw. Schädigungsfolge basiert im Wesentlichen auf drei „Brückensymptomen“:

  • Nachweis des zeitlichen Zusammenhangs,

  • Nachweis des typischen Schmerzverlaufs und

  • Ausschluss konkurrierender Erkrankungen.

Nachweis des zeitlichen Zusammenhangs

Im Allgemeinen zwingende Voraussetzung für die Annahme eines kausalen Zusammenhangs ist ein Beginn der geklagten Schmerzsymptomatik unmittelbar nach dem Unfallereignis. Ausnahmen hiervon stellen z. B. eine anfängliche Analgesie im Rahmen intensivmedizinischer Maßnahmen, sekundäre Eingriffe und Komplikationen sowie komplexe regionale Schmerzsyndrome („complex regional pain syndrome“, CRPS) dar.

Nachweis des typischen Schmerzverlaufs

Schmerzen bleiben in den seltensten Fällen nach einem Unfallereignis konstant, sondern zeigen nach der Initialphase meist eine (gewisse) Besserung (z. B. postkommotionelles Syndrom, Frakturschmerz). Eine Verschlechterung ist demgegenüber nur in bestimmten Fällen (z. B. Neurombildung, Schmerzausweitung beim CRPS, posttraumatische Syringomyelie) zu erwarten, die dann jedoch mit charakteristischen Befunden einhergeht.

Ausschluss konkurrierender Erkrankungen

Wesentliche Bedeutung kommt der Frage schädigungsunabhängiger Erkrankungen zu, die möglicherweise in Konkurrenz zum schädigenden Ereignis stehen. Wichtigster Beleg ist hier der Leistungsauszug der Krankenkasse, der meist wesentliche Einblicke in die Vorgeschichte ermöglicht.

Bewertung schmerzbedingter Funktionsstörungen

Die Bewertungsmaßstäbe und -grundlagen schmerzbedingter Funktionsstörungen sind in den verschiedenen Rechtsgebieten erheblich unterschiedlich definiert (Tab. 9). Dies betrifft insbesondere die „Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)“. Verbindliche Bemessungsgrundlagen sind

In der gesetzlichen Unfallversicherung liegen mit der „maßgeblichen Rentenliteratur“ Erfahrungssätze vor (z. B. Mehrhoff et al. 2005; Schönberger et al. 2003), die für den Sachverständigen zwar nicht bindend sind, von denen gemäß Rechtsprechung jedoch ohne entsprechende individuelle Begründung nicht abgewichen werden soll.

Tab. 9 Begriffe und Maßstäbe bei der Bewertung von unfall- bzw. schädigungsbedingten Funktionsstörungen in verschiedenen Rechtsgebieten

Bewertung von Minderung der Erwerbsfähigkeit/Grad der Behinderung im öffentlichen RechtFootnote 6

Schmerzen bei vorliegender Gewebeschädigung

Bei der Einschätzung von vollständig oder z. T. durch Gewebeschäden erklärbaren Schmerzen sind primär die MdE- und GdB-Werte aus den entsprechenden Bewertungstabellen für die zugrunde liegende Gewebeschädigung (z. B. Nervenschädigung, Weichteilverletzung) zu verwenden. Ansatzpunkt sind die Definitionen der Tab. 9 für die einzelnen Rechtsgebiete.Footnote 7

Darüber hinaus sind bezüglich (zusätzlicher) schmerzbedingter Funktionsstörungen folgende Besonderheiten zu berücksichtigen:

  • übliche Schmerzen und seelische Begleiterscheinungen sowie

  • außergewöhnliche Schmerzen und/oder seelische Begleiterscheinungen.

Übliche Schmerzen und seelische Begleiterscheinungen

Diese sind – einschließlich „besonders schmerzhafter Zustände“ –in den Bewertungstabellen bereits berücksichtigt und rechtfertigen keine höheren MdE/GdB-Werte.

Außergewöhnliche Schmerzen und/oder seelische Begleiterscheinungen

Sie können hingegen zu höheren MdE/GdB-Werten führen, als dies in den Bewertungstabellen für die zugrunde liegende Funktionsstörung vorgesehen ist. Deren Vorhandensein ist vom Sachverständigen auf den konkreten Einzelfall, bezogen im Vollbeweis, zu belegen, wenn die Schmerzen bzw. die seelischen Begleiterscheinungen „über das übliche Maß hinausgehen“ und eine „spezielle ärztliche Behandlung“ (z. B. dauerhafte Einnahme potenter Schmerzmittel oder engmaschige Psychotherapie) erfordern. Der hierdurch bedingte GdB/MdE-Wert kann in seltenen Extremfällen, die dann einer dezidierten Begründung bedürfen, 100 (v.H.) erreichen. Bezogen auf die in den Bewertungstabellen genannten „reinen“ Schmerzsyndrome wird der „Zuschlag“ zu den funktionell bedingten MdE/GdB-Werten jedoch im Regelfall 10–20 bis maximal 50 (v.H.) nicht übersteigen.

Schmerzen bei primär psychischen Erkrankungen

Bei nicht oder nur in untergeordnetem Umfang durch Gewebeschäden erklärbaren Schmerzen ist gemäß Tab. 1 primär eine psychische Störung zu diagnostizieren. Deren Einschätzung orientiert sich im Schwerbehinderten- und sozialen Entschädigungsrecht (MdE/GdB) an der „Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“ im täglichen Leben und der sozialen Partizipation (Tab. 10). In der gesetzlichen Unfallversicherung und der Unfallfürsorge der Beamten sind dagegen nur die abstrakten Auswirkungen der Unfallfolgen bezogen auf die verbliebene Einsatzfähigkeit des Verletzten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens relevant.

Tab. 10 Gutachtliche Bewertung psychischer Störungen (mit Ausnahme schizophrener und zyklothymer affektiver Psychosen; nach Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2005; Schönberger et al. 2003)

Bewertung der Invalidität in der privaten Unfallversicherung

Maßgeblich für die Invaliditätsbemessung in der privaten Unfallversicherung sind organpathologisch begründete Funktionsstörungen. Der damit verknüpfte Schmerz gilt mit der auf die Funktionsbeeinträchtigung abgestellten Invaliditätsbemessung als miterfasst. Zu unterscheiden sind:

  • Einschätzung nach der Gliedertaxe und

  • Einschätzung außerhalb der Gliedertaxe.

Einschätzung nach der Gliedertaxe

Schmerzhafte Funktionsstörungen an Armen und Beinen sowie nur an den Extremitäten relevante Nervenfunktionsstörungen, die von einem Wirbelsäulen- oder Hirnschaden ausgehen, sind in Anlehnung an bewährte tabellarische Bewertungsvorgaben mit dem der teilweisen Gebrauchseinschränkung entsprechenden Bruchteil der gesunden Gliedmaßenfunktion zu bemessen.

Einschätzung außerhalb der Gliedertaxe

Sofern sich der Invaliditätsgrad für eine schmerzhafte Funktionsstörung nicht nach der Gliedertaxe bestimmen lässt, bemisst er sich danach, inwieweit die normale körperliche oder die geistige Leistungsfähigkeit insgesamt beeinträchtigt ist. Dabei sind ausschließlich medizinische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Hierzu zählen z. B. dem Unfall kausal anzulastende Kopfschmerzen und Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule, sofern sie eine auf Dauer bleibende Unfallfolge darstellen. Diesbezüglich empfiehlt sich die Anlehnung an die von den Fachgesellschaften anerkannten tabellarischen Bewertungsvorgaben.

„Psychoklausel“

Gemäß den Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB) fallen krankhafte Störungen infolge psychischer Reaktionen nicht unter den Versicherungsschutz, „auch wenn diese durch einen Unfall verursacht wurden“ (AUB 99). Damit wären körperlich nichtbegründbare Schmerzen grundsätzlich nicht entschädigungspflichtig. In jüngster Zeit zeichnet sich hier jedoch ein Paradigmenwechsel durch verschiedene Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) ab. Danach werden psychische Reaktionen als versichert angesehen, wenn diese auf einem körperlichen Schaden beruhen Widder u. Gaidzik 2006. Inwieweit diese Rechtsprechung Bestand hat, ist derzeit noch nicht abschließend einzuschätzen.

Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in der Haftpflichtversicherung

Für das Haftpflichtrecht liegen keine Bewertungstabellen vor, da hier eine individuelle und keine abstrakte Wertung von Unfallfolgen vorzunehmen ist. Wird nach der „MdE“ gefragt, ist entweder die prozentuale Beeinträchtigung in der konkreten Berufstätigkeit gemeint, wobei nicht die Fähigkeitseinbußen als solche, sondern die daraus resultierenden Schäden (Verdienstentgang) den Gegenstand des Schadensersatzanspruchs bilden, oder man benutzt den gutachtlich festgestellten MdE-Wert zur Plausibilitätskontrolle der vom Geschädigten behaupteten Beeinträchtigungen in seinem Beruf, in der Haushaltsführung oder auch im alltäglichen Leben. Lediglich für den Bereich der Haushaltsführung ergibt sich mit der „Hausfrauentabelle“ eine Möglichkeit zu einer schematisierten Bewertung des Haushaltsführungsschadens bei verschiedenen Gesundheitsschäden Widder u. Gaidzik 2007. Angaben zu Schmerzsyndromen finden sich hierbei jedoch nicht.

Einschätzung des beruflichen Leistungsvermögens

Die Begutachtung von Rentenantragstellern erfolgt sowohl in der gesetzlichen Rentenversicherung als auch in der privaten Berufsunfähigkeits(zusatz)versicherung nach demselben Ablaufschema. Demnach hat der Sachverständige aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Informationen aus Aktenlage, Anamnese und Befunderhebung neben der Diagnosestellung zu folgenden Punkten Aussagen im Sinne des „Vollbeweises“ zu machen:

  • positives und negatives Leistungsbild,

  • quantitative Leistungseinschränkungen und

  • Prognose/Therapie.

Positives und negatives Leistungsbild

In Abhängigkeit der gesetzlichen bzw. versicherungsrechtlichen Vorgaben (Bezug auf das „abstrakte“ oder „konkrete“ Leistungsvermögen) sind die bestehenden „Leistungseinschränkungen“ (negatives Leistungsbild) und das noch vorhandene „Restleistungsvermögen“ (positives Leistungsbild) in ihrer qualitativen Ausprägung darzustellen. Gemäß Rechtsprechung hat dies nachvollziehbar – in einer „der verständigen Überlegung des Laien zugänglichen Weise“ – zu erfolgen.

Quantitative Leistungseinschränkungen

Im nächsten Schritt gilt es, entsprechend dem erkennbaren positiven und negativen qualitativen Leistungsbild die Frage möglicher quantitativer Leistungseinschränkungen zu klären. Sowohl in der gesetzlichen Rentenversicherung als auch in der Berufsunfähigkeits(zusatz)versicherung kommt diesem Punkt entscheidende Bedeutung zu. Gemäß der in Abb. 1 vorgeschlagenen Einteilung ergeben sich dabei drei unterschiedliche Formen der Beurteilung:

  • Schmerz als Begleitsymptom einer Gewebeschädigung oder -erkrankung,

  • Schmerz bei Gewebeschädigung/-erkrankung mit psychischer Komorbidität und

  • Schmerz als Leitsymptom einer psychischen Erkrankung.

Schmerz als Begleitsymptom einer Gewebeschädigung oder -erkrankung

Stehen körperlicher Befund (Organpathologie) und Befinden (Schmerz) in kongruentem Verhältnis, bestimmt die mit dem fachbezogenen Befund verknüpfte Funktionsbeeinträchtigung die Leistungsbeurteilung.

Schmerz bei Gewebeschädigung/-erkrankung mit psychischer Komorbidität

Besteht keine Kongruenz zwischen Befund und Befinden, ist eine komplexe fachübergreifende Einschätzung unter Einbeziehung des psychiatrisch/psychosomatischen Fachgebietes erforderlich. Eine relevante quantitative Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens [Leistungsvermögen unter 6 h in der gesetzlichen Rentenversicherung, Grad der Berufsunfähigkeit über 50% in der privaten Berufsunfähigkeits(zusatz)versicherung] ist dabei im Allgemeinen nur dann zu diskutieren, wenn gleichzeitig ausgeprägte Einschränkungen im Alltagsleben und der sozialen Partizipation gemäß Tab. 2 trotz ausreichender und angemessener Therapie nachweisbar sind.

Schmerz als Leitsymptom einer psychischen Erkrankung

Handelt es sich um eine Schmerzsymptomatik ohne erkennbare Gewebeschädigung oder -erkrankung, orientiert sich die Einschätzung am Schweregrad der zugrunde liegenden psychischen Erkrankung. Hierzu soll auf die AWMF-Leitlinien „Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik“ verwiesen werden AWMF online.

Auch bei der Einschätzung der beruflichen Leistungsfähigkeit gilt das Prinzip des Vollbeweises, d. h. der Sachverständige hat darzulegen, dass er keinen vernünftiger Zweifel am Vorhandensein der Funktionsstörungen hat und dass diese auch nicht bei „zumutbarer Willensanstrengung“ überwunden werden könnten (Tab. 7).Footnote 8 Nicht zu berücksichtigen sind die in Tab. 11 genannten Punkte. Die Beweislast liegt dabei sowohl im Sozial- als auch im Zivilrecht beim Versicherten. Kann sich der Sachverständige nicht davon überzeugen, dass ein eingeschränktes Leistungsbild entsprechend den gesetzlichen bzw. den Versicherungsbedingungen vorliegt, hat er dies zu beschreiben.

Tab. 11 Nichtgeeignete Argumentationen für die Beschreibung eines eingeschränkten quantitativen Leistungsvermögens Widder u. Gaidzik 2007

Prognose/Therapie

Letztlich werden vom Sachverständigen regelmäßig Aussagen zur Prognose der nachweisbaren Funktionsstörungen und zu therapeutischen Möglichkeiten erwartet. Dabei sind zwei Punkte zu berücksichtigen:

  • zu erwartende Verschlechterungen und

  • kurz dauernde Gesundheitsstörungen.

Zu erwartende Verschlechterungen

Maßstab für die Einschätzung quantitativer Leistungseinschränkungen ist grundsätzlich der Ist-Zustand. Zukünftig eintretende Leistungseinschränkungen können jedoch im Rahmen der „Zumutbarkeit“ von Bedeutung sein, wenn z. B. bei einer Spinalstenose bei Fortführung des bisherigen Arbeitsumfangs mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten wäre, dass hierdurch eine progrediente Nervenschädigung auftritt.

Kurz dauernde Gesundheitsstörungen

Entsprechend der Vorgabe in beiden Rechtsgebieten, dass Gesundheitsstörungen nur dann zu einer Rentengewährung führen, wenn sie in ihrer quantitativ leistungseinschränkenden Form über wenigstens 6 Monate bestehen, führt die Angabe einer erst seit jüngster Zeit bestehenden Leistungseinschränkung, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit unter geeigneter Therapie innerhalb weniger Wochen oder Monate gebessert werden könnte, im Allgemeinen zur Ablehnung einer Rentengewährung.