In der rechtsmedizinischen Fallroutine wird zur Todeszeitdiagnostik im frühen postmortalen Intervall die sog. Komplexmethode angewandt, die sich aus temperaturbasierten Faktoren (Veränderung der Körperkerntemperatur unter Berücksichtigung abkühlungsrelevanter Einflüsse) und nichttemperaturbasierten Faktoren zusammensetzt [1,2,3]. Hinsichtlich der Vorteile, der kritischen Aspekte sowie der Grenzen der temperaturbasierten Methoden finden sich aktuelle wissenschaftliche Arbeiten [4,5,6,7,8]. Für die nichttemperaturbasierten Faktoren werden jedoch, abhängig von einem positiven oder negativen jeweiligen Untersuchungsergebnis, Zeitgrenzen angewandt, die aus überwiegend älterer Literatur zur Thematik zusammengetragen wurden (detaillierte Übersicht bei [1] sowie im Folgenden).

Hintergrund

Bereits vor mehr als 30 Jahren wurde darauf hingewiesen, dass die oben genannten Zeitgrenzen meist empirisch basiert und ohne nachvollziehbare wissenschaftliche Grundlage entstanden sind [4]. Dennoch hat sich lange Zeit an der Anwendung der Komplexmethode, abgesehen von einer kritischeren Würdigung, keine Änderung ergeben. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass eine wissenschaftliche Überprüfung der Zeitgrenzen bislang fehlte [1]. In der jüngeren Zeit haben sich die Autoren des vorliegenden Beitrags in mehreren Studien mit dieser Thematik auseinandergesetzt und teils den früheren empirischen Daten entgegenstehende Ergebnisse erlangt [16, 17, 32, 41,42,43,44]. Da diese noch keinen Eingang in die aktuellen Lehr- und Handbücher finden konnten, wird im Folgenden ein Überblick über die wesentlichen Ergebnisse zu den folgenden untersuchten Faktoren gegeben:

  • Neubildung der Leichenstarre nach mechanischem Lösen,

  • idiomuskuläre Reaktion der Skelettmuskulatur nach mechanischer Reizung,

  • Postmortale pharmakologische Beeinflussbarkeit der Pupillengröße und

  • Wegdrückbarkeit von Leichenflecken.

Neubildung der Leichenstarre nach mechanischem Lösen

Zur Feststellung der Leichenstarrenneubildung löst der Untersucher eine vorhandene Leichenstarre durch mehrfaches Hin- und Herbewegen eines Gelenks, bis diese nicht mehr spürbar ist. Nach einer in der bisherigen Literatur nicht näher definierten zeitlichen Latenz prüft er, ob sich die Leichenstarre in dem Gelenk erneut ausgebildet hat oder ob die Neubildung ausgeblieben ist. Üblicherweise werden diese Untersuchungen in der Praxis an den Ellenbogengelenken des Leichnams durchgeführt. In der gegenwärtigen Literatur und in aktuellen Handbüchern wird für die Neubildung der Leichenstarre meist eine Obergrenze von 8 h post mortem (hpm) angegeben, seltener von 8–12 hpm [1,2,3, 8,9,10,11,12,13]. Aussagen hinsichtlich der Todeszeit können nur aus einem positiven Untersuchungsergebnis abgeleitet werden. Ein negatives Ergebnis ist für die Todeszeitdiagnostik nicht verwertbar, da die Neubildung auch im frühen Post-Mortem-Intervall nicht bei allen Verstorbenen auftritt. Während die 8‑hpm-Obergrenze auf den persönlich-empirischen Darstellungen von Mallach [14] und Meixner [15] basiert, findet sich für die Annahme einer Obergrenze von 12 hpm in der bekannten Literatur keine Bezugsquelle. Möglicherweise waren für die Angabe einer über 8 hpm hinausgehenden Zeitspanne ebenfalls empirische Daten der jeweiligen Autoren vorhanden, wie sie exemplarisch von Henssge et al. geschildert wurden [9].

An 314 Knie- und Ellenbogengelenken von 79 Verstorbenen wurden zu Post-Mortem-Zeitpunkten zwischen 7,5 und 21 h systematische, an das praktische Vorgehen im Rahmen der Todeszeitdiagnostik angepasste Untersuchungen [16] durchgeführt. Hierbei war die Neubildung der Leichenstarre 2 h nach mechanischem Lösen lediglich in 40,5 % der Fälle bzw. 38,5 % der untersuchten Gelenke zu beobachten. Im Gegensatz zu der bislang angenommenen oberen Zeitgrenze von 8–12 hpm konnte eine Neubildung jedoch bis zu einem Post-Mortem-Zeitraum von 19 hpm festgestellt werden [16]. Häufigkeit und Ausprägung der Leichenstarrenneubildung nahmen mit zunehmendem Post-Mortem-Intervall ab. Dennoch ließ sich in Einzelfällen eine kräftige Neubildung bis zu 15 hpm beobachten. Eine Abhängigkeit dieses Phänomens von den potenziellen Einflussfaktoren Geschlecht, Alter, Body-Mass-Index (BMI) des Verstorbenen, organsystembezogener Todesursache oder untersuchter Körperseite fand sich nicht.

Der in dieser Untersuchung festgestellte obere Post-Mortem-Zeitpunkt für das Auftreten einer Leichenstarrenneubildung überstieg bislang mitgeteilte Angaben um das nahezu 2,5-Fache. Daher waren diese Ergebnisse zunächst sicherlich vorsichtig zu bewerten. Auch waren die Untersuchungen an den Leichnamen von Personen vorgenommen worden, die nach unterschiedlich langen Krankenhausverweildauern verstorben waren. Der Einfluss einer evtl. Immobilisierung auf die Muskulatur erschien denkbar.

Daher erfolgte eine methodisch vergleichbare Anschlussstudie an 67 prähospitalen plötzlichen Todesfällen mit bekanntem Todeszeitpunkt [17], unter der Annahme einer ggf. besseren Übertragbarkeit der Ergebnisse auf das Fallmaterial, das forensisch hinsichtlich der Todeszeitdiagnostik relevant ist. An diesem Kollektiv konnte die Leichenstarrenneubildung in den zwischen 8 und 20 hpm durchgeführten Untersuchungen in 52,2 % der Fälle und an 31,6 % der Einzelgelenke festgestellt werden. Hinsichtlich der forensisch relevanten oberen Zeitgrenze positiver Reaktionen sowie im Einklang mit den überraschenden Ergebnissen der Untersuchungen an im Krankenhaus verstorbenen Personen konnte in dieser Untersuchung eine Neubildung bis zu 20 hpm beobachtet werden.

Bezüglich der Kräftigkeit, mit der die Leichenstarre sich nach mechanischem Lösen erneut ausbilden kann, ist in der Vergangenheit verschiedentlich postuliert worden, dass diese lediglich in einem geringeren als dem zuvor vorhandenen Grad auftreten kann [12, 18, 19]. Im Gegensatz hierzu beobachteten Chrostack et al. in 25 % der positiven Fälle eine vergleichbar starke und in einzelnen Fällen sogar kräftigere Neubildung [17]. Einschränkend ist jedoch darauf hinzuweisen, dass lediglich eine subjektiv-manuelle Graduierung der Ausprägung der Leichenstarre vorgenommen wurde. Diese Methodik wurde jedoch auch in den früheren Untersuchungen angewandt. Auch in dieser Studie [17] stellten sich die Ergebnisse unabhängig von den Einflussgrößen Körpergewicht, BMI, Alter und Geschlecht des Verstorbenen dar.

Da die Untersuchungen in dem Kollektiv der Prähospitaltodesfälle [17] bei unterschiedlichen Umgebungstemperaturen erfolgten, konnte erstmals die Frage einer potenziellen Temperaturabhängigkeit des Phänomens betrachtet werden: Hierbei ließ sich kein Einfluss der Umgebungs‑, Rektal- oder Oberflächentemperatur auf die Wahrscheinlichkeit des Auslösens der Leichenstarrenneubildung feststellen.

Idiomuskuläre Reaktion der Skelettmuskulatur nach mechanischer Reizung

Die ersten Untersuchungen zur Ausbildung lokaler Muskelreaktionen nach mechanischer Reizung, oft als idiomuskulärer Wulst bezeichnet, gehen zurück bis in das Jahr 1846 [20]. Während englischsprachige Lehr- und Handbücher das Phänomen nicht [10, 12, 21] oder nur am Rande betrachten [1, 13], werden in deutschsprachigen Werken obere Zeitgrenzen für dieses Phänomen zwischen 8 und 12 hpm angegeben [11,12,13,14,15,16,17,18,19,20,21,22]. Im Wesentlichen gehen diese Angaben auf 3 deutschsprachige Publikationen zurück, die sich zwar jeweils auf größere, voneinander unabhängige Fallserien beziehen, deren methodische Nachvollziehbarkeit jedoch nicht umfänglich gegeben ist [24,25,26]. Daneben existieren einige Darstellungen kleinerer Kollektive und Fallberichte mit uneinheitlicher Methodik und teils stark divergierenden Ergebnissen [20, 27,28,29,30]. Die Schilderung des längsten Post-Mortem-Intervalls von 13 hpm, bei dem eine positive Muskelreaktion beobachtet wurde, entstammt einem Fallbericht von Chiari aus dem Jahr 1913 [31].

Auch für die idiomuskuläre Reaktion nach mechanischer Reizung gilt, analog zur Neubildung der Leichenstarre nach mechanischem Lösen, dass eine Verwertbarkeit für die Todeszeitdiagnostik nur bei Auftreten einer positiven Reaktion gegeben ist.

Aufgrund der uneinheitlichen Ergebnisse und der divergierenden Methoden früherer Arbeiten wurden Untersuchungen zum Auslösen der idiomuskulären Reaktion an 270 Fällen mit bekanntem Todeszeitpunkt im Zeitraum zwischen 7 und 15 hpm durchgeführt [32]. Hierbei waren positive Reaktionen in lediglich 16,7 % der Fälle zu beobachten, oft nur an einzelnen der jeweils 4 untersuchten Extremitäten. Das maximale Post-Mortem-Intervall, innerhalb dessen eine positive Reaktion festgestellt werden konnte, betrug 13 hpm.

Während die Auftretenswahrscheinlichkeit positiver Reaktionen mit zunehmendem Post-Mortem-Intervall und bei einem höheren BMI des Verstorbenen abnahm, war diese bei den männlichen Individuen um das 2,85-Fache und an den oberen im Vergleich zu den unteren Extremitäten um das 2,5-Fache erhöht. Hingegen zeigte sich kein signifikanter Einfluss des Alters, der untersuchten Körperhälfte, der Rektal- oder der Extremitätenoberflächentemperatur der Verstorbenen.

Postmortale pharmakologische Beeinflussbarkeit der Pupillengröße

Postmortale Änderungen der Pupillengröße sind seit dem Ende des 19. Jh. wiederholt mithilfe unterschiedlicher, nichtstandardisierter Methoden untersucht worden [33,34,35,36,37]. Im Ergebnis finden sich uneinheitliche Beschreibungen und unterschiedliche zeitliche Abläufe des spontanen Auftretens bzw. Aufeinanderfolgens einer Miosis oder Mydriasis. Eine größere Untersuchung zur postmortalen pharmakologischen Beeinflussbarkeit der Irismotorik und damit der Pupillenweite erfolgte 1978 im Rahmen der Dissertationsschrift von Klein und Klein [38] mithilfe der Applikation unterschiedlicher Pharmaka. Die in dieser Untersuchung festgestellten Zeitgrenzen des verlässlichen Auftretens sowie des Ausbleibens positiver Reaktionen lassen sich bis heute in der einschlägigen Literatur nachlesen, ohne dass auf eine standardisierte Untersuchungsmethodik verwiesen wird [1]. In der Arbeit von Klein und Klein wird darauf hingewiesen, dass die Untersuchungsergebnisse nur bei Auftreten positiver, d. h. der erwarteten Wirkung der applizierten Pharmaka entsprechender Reaktionen (Miosis bzw. Mydriasis) verwertbar sind. Es könne auch zum Ausbleiben einer Reaktion sowie zu „paradoxen“, d. h. der erwarteten Wirkung entgegenstehenden, Reaktionen kommen. Nachfolgende Untersuchungen des Phänomens existieren kaum: Während Orrico et al. [39] die Anwendbarkeit der Methodik aufgrund ihrer Ergebnisse grundsätzlich in Zweifel zogen, postulierten Larpkrajang et al. [40] eine diagnostische Relevanz von Pilokarpinaugentropfen, stellten jedoch ebenfalls das Auftreten „paradoxer“ Reaktionen fest.

Zur Untersuchung der postmortalen pharmakologischen Beeinflussbarkeit der Pupillenweite im Hinblick auf eine Anwendbarkeit für die Todeszeitdiagnostik wurde eine auf digitaler Fotografie basierende Methode entwickelt. Deren erste Anwendung belegte eine sehr hohe Reliabilität der Messungen sowohl durch denselben als auch durch unterschiedliche Untersucher. Zudem zeigte sich bei den untersuchten Verstorbenen eine große interindividuelle Variabilität spontaner postmortaler Pupillenreaktionen [41].

Mithilfe dieser Methode wurden Untersuchungen zur Änderung des Pupillen-Iris-Verhältnisses nach subkonjunktivaler Injektion von Acetylcholin (79 Fälle) und Tropicamid (58 Fälle) durchgeführt, um die Frage der Anwendbarkeit für die forensische Todeszeitdiagnostik zu klären [42]. Die Interventionen wurden zu Post-Mortem-Zeitpunkten vorgenommen, für die eine Relevanz als jeweilige untere bzw. obere Zeitgrenze für die Todeszeitdiagnostik angegeben wurde [1]. Das kontralaterale Auge ohne Intervention fungierte als Kontrolle. Zu allen Untersuchungszeitpunkten ließen sich positive, negative und paradoxe Reaktionen sowohl nach Applikation der Pharmaka als auch bei den Kontrollaugen beobachten. Diese mithilfe einer reliablen Methodik erlangten Ergebnisse legen nahe, dass es sich bei den Beobachtungen um die Auswirkungen spontaner postmortaler Pupillenveränderungen handelt, auf die die Applikation der Pharmaka keinen für die Todesdiagnostik verwertbaren Effekt hatte.

Wegdrückbarkeit von Leichenflecken

Analog zur Neubildung der Leichenstarre handelt es sich bei den Zeitgrenzen, die für die Wegdrückbarkeit der Livores zur Anwendung für die Todeszeitdiagnostik aufgeführt werden, um empirisch ermittelte Werte. Auf das Fehlen systematischer und longitudinaler Untersuchungen wurde hingewiesen [1].

Da eine ausführliche schriftliche Ausarbeitung der in Kongressbeiträgen [43, 44] bereits dargestellten Untersuchungen aussteht, werden im Folgenden lediglich die wesentlichen Ergebnisse wiedergegeben:

Untersucht wurden der zeitlichen Verlauf und regionale Unterschiede der Wegdrückbarkeit von Leichenflecken durch kräftigen Daumendruck. Die Ergebnisse bestätigten die für eine vollständige Wegdrückbarkeit berichtete Zeitgrenze von 20 hpm, jedoch nur bei Anwendung der Methode im zentralen Leichenfleckbereich der Schulter- und Thoraxregion. Die angegebene Zeitgrenze von 32 hpm für eine unvollständige Wegdrückbarkeit bestätigte sich nicht, da sich diese in einem großen Teil der Fälle auch deutlich über diesen Zeitpunkt hinaus feststellen ließ. Untersuchungen in peripheren Leichenfleckbereichen erbrachten keine verlässlichen Ergebnisse.

Fazit für die Praxis

Die Anwendung der Komplexmethode erscheint zur Begrenzung eines minimalen und eines maximalen Post-Mortem-Intervalls nach wie vor sinnvoll. Jedoch ist aufgrund der vorliegenden Ergebnisse zu den nichttemperaturbasierten Faktoren der Komplexmethode zur Todeszeitdiagnostik folgendes Fazit für die praktische Anwendung im Rahmen der rechtsmedizinischen Fallarbeit zu ziehen:

  • Im Fall der auslösbaren Neubildung der Leichenstarre nach mechanischem Lösen ist von einem maximalen Post-Mortem-Intervall von 20 h auszugehen (bislang berichtetes maximales Intervall: 8–12 h post mortem [hpm]).

  • Das maximale Post-Mortem-Intervall für eine positive idiomuskuläre Reaktion nach mechanischer Reizung der Skelettmuskulatur beträgt 13 hpm.

  • Bei der postmortalen pharmakologischen Beeinflussung der Pupillenweite handelt es sich um eine für die forensische Todeszeitdiagnostik ungeeignete Methode.

  • Die obere Zeitgrenze von 20 hpm für die vollständige Wegdrückbarkeit von Leichenflecken auf Daumendruck kann bei Anwendung im zentralen Leichenfleckbereich in der Schulter- und Thoraxregion Anwendung finden.