Die Unterscheidung zwischen nichtakzidentellen Schädel-Hirn-Traumata („nonaccidental head injury“, NAHI) und unfallbedingten Kopfverletzungen („accidental head injury“, AHI) hat weitreichende rechtliche Konsequenzen und sollte daher interdisziplinär in der Zusammenschau aller morphologischen Befunde und unter Berücksichtigung des angegebenen Unfallmechanismus getroffen werden. Die Untersuchung des Augenhintergrunds – zum Nachweis oder Ausschluss retinaler Blutungen – spielt daher eine wichtige Rolle, wenn bei einem Kind im Säuglings- oder im Kleinkindalter der Verdacht auf ein Schütteltrauma („shaken baby syndrome“; SBS) besteht.

Hintergrund

Aufgrund der potenziellen dramatischen (Langzeit‑)Schäden sind die NAHI unter den vielen möglichen Verletzungen durch Kindesmisshandlung v. a. im Säuglings- und Kleinkindalter von großer Bedeutung. In dieser Altersgruppe stellen diese die häufigste nichtnatürliche Todesursache und bei Säuglingen im 2. Lebenshalbjahr sogar die häufigste Todesursache überhaupt dar [15].

Eine Form des NAHI ist das „Schütteltrauma“. Dessen Häufigkeit wird in Deutschland auf 100–200 Fälle/Jahr geschätzt, bei einer Letalität von 30 % [20]. Kardinalsymptome des SBS sind subdurale Hämatome, eine akute Enzephalopathie mit Zeichen einer schweren diffusen Hirnschädigung und retinale Blutungen [28].

Liegen retinale Blutungen in einem charakteristischen Verteilungsmuster vor, kann durch die augenärztliche Untersuchung ein bestehender Verdacht auf eine Kindesmisshandlung erhärtet werden. Andererseits müssen mögliche Differenzialdiagnosen retinaler Blutungen sorgfältig ausgeschlossen werden, um nicht aufgrund einer falschen Schlussfolgerung letztendlich dem Wohl des Kindes und der Familie zu schaden.

Pathogenese

Die Pathogenese der retinalen Blutungen bei SBS war viele Jahre Gegenstand intensiver Diskussionen und Debatten, wobei unterschiedliche Theorien vorgebracht wurden. In diesem Zusammenhang ist das Verständnis über Besonderheiten der kindlichen vitreoretinalen Grenzfläche – den Übergang vom Glaskörper zur Netzhaut – wichtig. Im Säuglings- und Kleinkindalter besteht eine starke Anhaftung des Glaskörpers an der Netzhaut, die gerade im Bereich der Macula, der Gefäße und der peripheren Retina besonders ausgeprägt ist. Durch das „Schütteln“ werden wiederholte Akzelerations- und Dezelerationsbewegungen erzeugt, die an der Grenzfläche zwischen Glaskörper und Netzhaut sowie innerhalb der Orbita Scherkräfte generieren. Durch diese Scherkräfte kommt es zum einen zur direkten Schädigung der Gefäße und zum anderen zu einer Beeinträchtigung der vaskulären Autoregulation und somit zu einer veränderten Permeabilität der Gefäße [20, 30]. Die Rolle der Interaktion von Glaskörpergrenzmembran und Netzhaut im Rahmen der Pathogenese der retinalen Blutungen bei SBS konnte in neueren Arbeiten mithilfe einer speziellen bildgebenden Diagnostik nachgewiesen werden (optische Kohärenztomographie, OCT, [7, 25]). Es gibt verlässliche Daten, die zeigen, dass eine direkte Krafteinwirkung auf den Kopf für die Entstehung der retinalen Blutungen nicht zwingend notwendig ist [1].

Häufigkeit

Retinale Blutungen können klinisch bei 77,5–85 % der Kinder mit SBS nachgewiesen werden [14, 17, 21]. Einer systematischen Übersichtsarbeit zufolge sind die retinalen Blutungen bei nachgewiesenem SBS in 26 % der Fälle einseitig ([2]; Abb. 1a, b). Die bilateralen Blutungen können sich hinsichtlich ihres Schweregrads unterscheiden (Abb. 2a, b). Zudem besteht in der Literatur Einigkeit darüber, dass das Ausmaß der retinalen Blutungen mit der Schwere des Schüttelvorgangs und einer damit verbundenen schlechteren Prognose hinsichtlich des Überlebens und der neurologischen Defizite korreliert [15, 20].

Abb. 1
figure 1

Einseitige Netzhautblutungen bei nachgewiesenem Schütteltrauma (4 Monate alter Säugling). a Fundusfoto des rechten Auges ohne retinale Blutungen; b Fundusfoto des linken Auges mit massiven prä- und intraretinalen Blutungen

Abb. 2
figure 2

Asymmetrische Netzhautblutungen bei nachgewiesenem Schütteltrauma (3 Monate alter Säugling). a Fundusfoto des rechten Auges mit mäßig vielen intraretinalen Blutungen ; b Fundusfoto des linken Auges mit massiven prä- und intraretinalen Blutungen

Um mögliche Unklarheiten der Zuordnung des klinisch festgestellten Verletzungsmusters bei Unfällen oder Misshandlung zu vermeiden, sammeln Vinchon et al. seit 2001 in einem prospektiven Register alle Fälle von Schädeltraumata bei Kindern, die jünger als 24 Monate sind und in das Krankenhaus der Universität Lille eingeliefert werden [29]. Nach Angabe der Autoren handelt es sich um das einzige tertiäre Versorgungszentrum der Region mit einem Einzugsgebiet von etwa 4 Mio. Einwohnern. Deswegen kommen die in diesem Register erhobenen Daten denen einer populationsbasierten Studie von Kleinkindern, die einer neurochirurgischen Intervention bedürfen, nahe [29]. Die Klassifikation der retinalen Blutungen stützt sich in diesem Register auf ein 4‑gradiges Bewertungssystem (Grad 0: keine Blutungen; Grad 1: mild, streifenförmige [„flame-shaped“] Netzhautblutungen in der Nervenfaserschicht oder intraretinale Punkt- und Fleckblutungen [„dot and blot“], Abb. 3; Grad 2: moderat, präretinale Blutungen mit maximal 2‑maligem Durchmesser des Sehnervenkopfs, und Grad 3: schwer, große diffus verteilte präretinale Blutungen in Kombination mit Blutungen in anderen Netzhautschichten ohne [3A] oder mit Retinoschisis [3B], Abb. 4; [28, 29]).

Abb. 3
figure 3

Netzhautblutungen entsprechend dem Schweregrad 1 (3 Wochen alter Säugling). Fundusfoto eines linken Auges mit wenigen kleineren intraretinalen Blutungen und einer zentralen kleinen präretinalen Blutung

Abb. 4
figure 4

Netzhautblutungen bei nachgewiesenem Schütteltrauma, entsprechend dem Schweregrad 3A (3 Monate alter Säugling). Fundusfoto eines rechten Auges mit diffus verteilten kleineren prä- und intraretinalen Blutungen

In die Auswertung dieses Registers eingeschlossen wurden nur Kinder, bei denen entweder nachgewiesenermaßen ein Unfall stattgefunden hat (nichtverwandte Zeugen + Unfallereignis in der Öffentlichkeit) bzw. ein nichtakzidentielles Trauma (Schütteltrauma bzw. Kopfverletzung durch direktes Trauma) vorliegt, das vom Verursacher zugegeben wurde. Insgesamt wurden die Daten von 45 misshandelten Kindern ausgewertet (30 SBS, 15 „beaten baby syndrome“).

In dieser methodisch sehr guten Arbeit zeigen sich Ergebnisse, die mit denen der oben zitierten Literatur übereinstimmen. So fanden Vinchon et al. ausgeprägte Netzhautblutungen (Grad 3) bei knapp 57 % der Kinder (25 von 44 Kindern) mit nichtakzidentiellem Trauma, wie oben beschrieben, und nur bei einem von 35 Kindern mit nachgewiesenem Unfall (in dem einen Fall mit zusätzlicher direkter Augenverletzung). Der positive prädiktive Wert von ausgeprägten Netzhautblutungen für ein Schütteltrauma betrug 0,961 (negativer prädiktiver Wert 0,665); dies bestätigt die diagnostische Relevanz retinaler Blutungen [28, 29].

Lokalisation

Retinale Blutungen liegen beim SBS typischerweise in allen Netzhautschichten und reichen bis in die Peripherie [14]. Es werden prä-, intra- und subretinale Blutungen unterschieden. Die intraretinalen Blutungen sind beim SBS am häufigsten und können sowohl streifenförmig entlang der Nervenfasern („flame-shaped“) als auch punkt- oder fleckförmig („dot and blot“) auftreten [20].

Funduskopisch lassen sich die präretinalen Blutungen gut abgrenzen, da präretinale Blutungen die Netzhautgefäße in ihrem Verlauf verdecken. Bei intra- und subretinalen Blutungen ziehen die Blutgefäße der Netzhaut jeweils über die Blutung hinweg und lassen sich auch im Bereich der Blutung nachverfolgen (Abb. 5). Eine genaue Differenzierung zwischen intra- und subretinalen Blutungen ist meist nur mithilfe einer hohen Vergrößerung an der Spaltlampe möglich. Bei der indirekten Ophthalmoskopie mit einer 20-dpt- oder 28-dpt-Lupe, wie sie zur Untersuchung von Kindern üblich ist, ist die Unterscheidung jedoch sehr schwierig.

Abb. 5
figure 5

Intra- und präretinale Netzhautblutungen (3,5 Monate alter Säugling)

Die Unterscheidung zwischen prä- und intraretinaler Blutungen ist wichtig für die zeitliche Einordnung der Netzhautblutungen. Binenbaum et al. zeigten in einer retrospektiven Auswertung von Krankenakten bei Kindern, die jünger als 2 Jahre waren und entweder ein NAHI (n = 45) oder einen Unfall mit Kopfbeteiligung (n = 7) erlitten hatten, dass intraretinale Blutungen schneller resorbiert werden als präretinale Blutungen [4]. Dadurch ist es möglich, aufgrund der Art der Netzhautblutungen einen groben Zeitraum des möglichen Schädigungsereignisses anzugeben.

Die Autoren gaben Folgendes zur zeitlichen Einordnung an:

  • Bei präretinalen Blutungen ohne oder mit nur wenigen intraretinalen Blutungen ist es wahrscheinlich, dass das auslösende Ereignis wenigsten mehrere Tage bis eine Woche oder bereits länger zurückliegt.

  • Bei sehr vielen intraretinalen Blutungen liegt das auslösende Ereignis innerhalb weniger Tage vor der Untersuchung.

  • Bei 10–20 intraretinalen Blutungen kann das auslösende Ereignis in einem Zeitraum von einem bis 14 Tagen vor dem Untersuchungszeitpunkt erfolgt sein.

Die Autoren betonten, dass bei keinem der untersuchten Kinder die Zahl der retinalen Blutungen im zeitlichen Verlauf zunahm. Ein Neuauftreten von Netzhautblutungen am Partnerauge im zeitlichen Verlauf bei initial einseitigem Befund wurde in einem Fallbericht von Gilles et al. bei einem Kind beschrieben. Allerdings handelt es sich hierbei nur um 3 papillennahe Blutungen, die bei einer Verlaufsuntersuchung dokumentiert wurden [9]. Anhand der Literatur scheint es allerdings unwahrscheinlich, dass Netzhaublutungen erst Stunden oder Tage nach dem Trauma auftreten. Wohl möglich ist jedoch der Übergang einer präretinalen Blutung in eine Glaskörperblutung, wenn das bereits ausgetretene Blut die Glaskörpergrenze durchbricht.

Differenzialdiagnosen

Obwohl retinale Blutungen bei 77,5–85 % der Kinder mit SBS nachgewiesen werden können [7, 10, 13], sind sie zunächst für sich allein genommen kein pathognomonisches Zeichen für das SBS. Es gibt im Kindesalter eine Reihe von Erkrankungen, die ebenfalls mit retinalen Blutungen einhergehen können und daher bei den differenzialdiagnostischen Überlegungen berücksichtigt werden müssen. Die in Tab. 1 aufgelisteten möglichen Differenzialdiagnosen können in den meisten Fällen durch weitere Diagnostik (z. B. Laborbestimmungen, Liquor-, bildgebende Untersuchung) ausgeschlossen bzw. bestätigt werden. Eine umfassende interdisziplinäre Untersuchung der Kinder, bei denen der Verdacht auf Misshandlung besteht, ist daher unverzichtbar.

Tab. 1 Auswahl möglicher Differenzialdiagnosen retinaler Blutungen im Kindesalter

Schwieriger wird die Abgrenzung eines SBS bei den folgenden, ebenfalls mit retinalen Blutungen einhergehenden Differenzialdiagnosen:

  • Purtscher-Retinopathie,

  • Terson-Syndrom,

  • geburtsbedingte retinale Blutungen,

  • akzidentelles Schädel-Hirn-Trauma.

Purtscher-Retinopathie

Die Purtscher-Retinopathie ist eine okklusive Mikroangiopathie, die infolge eines Traumas im Kopf- oder im Thoraxbereich auftritt. Die sog. Purtscher-ähnliche Retinopathie zeigt das gleiche klinische Bild, ist jedoch Folge einer akuten Pankreatitis. Bei beiden Formen ist die Pathogenese weiterhin unklar. Es wird der Mechanismus einer Mikroembolisation diskutiert, die entweder durch eine Fettembolie, wie bei Frakturen der langen Röhrenknochen [18], oder durch zirkulierende Pankreasproteasen, wie sie bei der akuten Pankreatitis vorkommen, ausgelöst wird. Die Erkrankung tritt in bis zu 60 % der Fälle bilateral auf. Funduskopische Zeichen sind Cotton-wool-Herde, intraretinale Blutungen und die sog. Purtscher-Flecken. Diese Flecken werden als pathognomonisch angesehen, wobei sie klinisch nur bei etwa jedem 2. betroffenen Patienten gefunden werden. Charakterisiert sind sie als weiße, intraretinale Aufhellungen mit einer klaren Zone entlang der retinalen Gefäße. Im Gegensatz dazu sind Cotton-wool-Herde unscharf begrenzt und bedecken die Gefäße. Die Diagnose Purtscher-Retinopathie wird klinisch gestellt und kann mithilfe der Angiographie bestätigt werden [16].

In einer systematischen Übersichtarbeit fanden Miguel et al. Cotton-wool-Herde in 93 %, retinale Blutungen in 65 % und Purtscher-Flecken in 63 % der Fälle. Sonstige Zeichen waren ein Makulaödem (22 %), eine Papillenschwellung (16 %) und ein „pseudokirschroter Fleck“ (26 %). Die Patienten waren im Durchschnitt 34 Jahre alt, mit einer Altersspanne von 11 Wochen bis 76 Jahre [16]. Berichte über eine Purtscher-Retinopathie bei Kindern sind bisher kaum veröffentlicht [13, 26].

Ein erfahrender Augenarzt kann daher eine Purtscher-Retinopathie von einem SBS abgrenzen, wenn die für die Purtscher-Retinopathie charakteristischen Befunde vorliegen (Cotton-wool-Herde ± Purtscher-Flecken).

Terson-Syndrom

Das Terson-Syndrom war ursprünglich definiert als eine Glaskörperblutung im Rahmen einer Subarachnoidalblutung. Mittlerweile wurde der Begriff auf intra-, präretinale bzw. subhyaloidale und/oder vitreale Blutungen, die im Zusammenhang mit einer subarachnoidalen Blutung auftreten, erweitert [12].

Das Terson-Syndrom wird in der Literatur am häufigsten im Zusammenhang mit einem rupturierten zerebralen Aneurysma beschrieben. Das Vorliegen eines Terson-Syndroms bei einer Subarachnoidalblutung ist mit einer höheren Morbidität und Mortalität verbunden [8, 12, 19, 24].

Die Pathogenese des Terson-Syndroms ist wie die der Purtscher-Retinopathie nicht vollständig geklärt. Als Auslöser des Terson-Syndroms wird ein plötzlicher Anstieg des intrakraniellen Drucks angenommen, der entlang der Sehnervenscheide weitergeleitet wird. Dieser führt im Bereich des Sehnervenkopfs zu Gefäßverschlüssen, bringt durch den daraus resultierenden erhöhten intravasalen Druck retinale Gefäße zum Platzen und löst so intraokulare Blutungen aus [19].

Ein typisches Verteilungsmuster der intraokularen Blutungen gibt es beim Terson-Syndrom nicht. In einer Studie von Ness et al. variierten die Blutungen von sporadischen intraretinalen, über zentrale subhyaloidale bis hin zu ausgeprägten vitrealen Blutungen. In 45 % der Fälle waren die Blutungen bilateral. Die klassische Glaskörperblutung lag nur in 5 % der Fälle vor [19].

Das Terson-Syndrom ist im Säuglings- und Kleinkindalter im Gegensatz zum Erwachsenenalter sehr selten, und es finden sich nur wenige Fallberichte hierzu [3, 15, 23].

Ophthalmoskopisch ist eine Abgrenzung zu Blutungen infolge SBS nicht möglich, was einmal mehr die Notwendigkeit einer interdisziplinären Betreuung der Patienten aufzeigt. Da die wenigen publizierten Fälle eines Terson-Syndroms bei Kindern durch intrakranielle Aneurysmen verursacht sind, sollte bei der Beurteilung der bildgebenden zerebralen Untersuchung hierauf besonders geachtet werden.

Geburtsbedingte retinale Blutungen

Retinale Blutungen kommen bei 34 % der Neugeborenen vor [6]. Abhängig von der Geburtsmethode treten retinale Blutungen am häufigsten nach Vakuumextraktion auf (77,8 %), weniger häufig nach Zangengeburt (30,3 %) und nach normaler Vaginalgeburt (30,4 %), selten auch nach einer Sectio (8,3 %; [11]).

Die geburtsbedingten retinalen Blutungen sind vornehmlich beidseitig, intraretinal und am hinteren Pol gelegen [31]. Allgemein besteht in der Literatur Übereinstimmung darin, dass sich geburtsbedingte retinale Blutungen schnell auflösen [6, 11, 31]. Einer aktuellen Übersichtsarbeit zufolge werden die allermeisten geburtsbedingten Blutungen innerhalb von 10 Tagen und über 97 % der Blutungen innerhalb von 42 Tagen resorbiert [31]. Dementsprechend postulierten Emerson et al., dass retinale Blutungen bei Kindern, die älter als einen Monat sind, den Verdacht nahelegen sollten, dass die Blutung mit anderen Faktoren als der Geburt assoziiert ist [6].

Akzidentelles Schädel-Hirn-Trauma

Die Differenzialdiagnose eines akzidentellen Schädel-Hirn-Traumas liegt nahe, da bei einem SBS häufig ein Unfallereignis als Ursache genannt wird. Die Anamnese bezüglich der Ursache der Verletzungen ist typischerweise inadäquat [15]. Ähnlich wie bei den geburtsbedingten retinalen Blutungen lässt sich anhand von Lokalisation und Ausdehnung der retinalen Blutungen einschätzen, ob es sich eher um ein akzidentelles Trauma oder die Folgen von Misshandlung handelt. Maguire et al. schlussfolgerten in ihrer systematischen Übersichtsarbeit, dass gewisse Charakteristika der retinalen Blutungen viel häufiger nach SBS vorkommen. Dies seien eine große Zahl der Blutungen in beiden Augen (große Blutungszahl: 83 % bei SBS vs. 0 % bei AHI, bilateral: 83 % bei SBS vs. 8 % bei AHI), eine Ausdehnung der Blutungen bis in die Peripherie (63 % bei SBS vs. 9 % bei AHI) und das Vorliegen von Blutungen in allen Netzhautschichten (bei SBS in 73–81 % der Fälle, [14]). Aufgrund ihrer Daten hinsichtlich des Auftretens retinaler Blutungen (78 % bei SBS vs. 5 % bei AHI) gaben Maguire et al. an, dass bei einem Kind mit einer Kopfverletzung und retinalen Blutungen die „odds ratio“ für Misshandlung 14,7 und die Wahrscheinlichkeit hierfür 91 % beträgt [14].

Auch Matschke et al. [15] erwähnen in ihrer Übersichtsarbeit, dass die Kombination aus Subduralblutungen und retinalen Blutungen auf ein SBS hinweist. Unfälle, wie sie typischerweise bei Säuglingen und Kleinkindern vorkommen, verursachen zumeist keine ernsthaften Verletzungen und können das Vorliegen von retinalen Blutungen in aller Regel nicht ausreichend erklären [1]. Schwere akzidentelle Schädel-Hirn-Traumata, wie z. B. nach einem Sturz aus großer Höhe oder einem Autounfall mit hoher Geschwindigkeit, sind in dieser Altersgruppe äußerst selten und weisen in unter 3 % der Fälle retinale Blutungen auf [15]. Bei schweren Unfällen ist auch die Anamnese klar nachvollziehbar.

Kardiopulmonale Reanimation und Krampfanfälle

Ein Zusammenhang zwischen einer kardiopulmonalen Reanimation (CPR) und retinalen Blutungen scheint ebenfalls sehr unwahrscheinlich [30]. Gilliland et al. haben in einer Autopsiestudie bei insgesamt 169 untersuchten Kindern (teils auch nach prolongierter CPR, >30 min) keine retinalen Blutungen festgestellt, die der Reanimation zugeschrieben werden konnten [10].

Mehrere prospektive Arbeiten fanden keinen Zusammenhang zwischen Krampfanfällen und dem Vorliegen von retinalen Blutungen [5, 22, 27]. Curcoy et al. berichteten 2009 über die Ergebnisse einer prospektiven Studie an insgesamt 182 Kindern im Alter von 15 Tagen bis 2 Jahren (Median 10,4 Monate), die nach ihrem ersten Krampfanfall stationär aufgenommen wurden. Vierundfünfzig Kinder (29,5 %) hatten innerhalb der ersten 24 h nach der stationären Aufnahme zudem ≥3 erneute Anfälle, und bei 52 Kindern (28,6 %) dauerte der zur Aufnahme führende Anfall >5 min. Alle Kinder wurden innerhalb von 72 h nach Aufnahme von einem Augenarzt mithilfe der indirekten Ophthalmoskopie bei medikamentös weitgestellter Pupille untersucht. Bei 2 Kindern wurden retinale Blutungen festgestellt. Hier stellte sich im weiteren Verlauf heraus, dass die Kinder zuvor misshandelt worden waren. Somit konnte bei keinem der 180 Kinder nach einem Krampfanfall eine hierdurch bedingte Netzhautblutung festgestellt werden. Die Autoren schlussfolgerten daher, dass die Prävalenz retinaler Blutungen nach dem ersten Krampfanfall unter 1,7 % beträgt und daher bei Netzhautblutungen nach einem vorangegangenen Krampfanfall nach anderen Ursachen für die Blutungen gesucht werden muss. Auch Tyagi et al. [27] und Sandramouli et al. [22] fanden bei 32 Kindern im Alter unter 2 Jahren bzw. 33 Kindern im Alter von 4 Monaten bis 14 Jahren keine retinalen Blutungen nach einem Krampfanfall.

Zusammenfassung

Insgesamt ist die Abgrenzung eines SBS zu anderen Differenzialdiagnosen mit retinalen Blutungen nicht immer einfach und kann Rechtsmediziner, Augen- und Kinderärzte vor große Herausforderungen stellen – insbesondere aufgrund der Verantwortung, dass die Diagnosestellung einer Kindesmisshandlung weitreichende Konsequenzen für Kind und Familie hat. In Tab. 2 sind Merkmale zusammengefasst, die bei der Unterscheidung zwischen SBS und den möglichen Differenzialdiagnosen hilfreich sein können.

Tab. 2 Unterscheidungsmerkmale möglicher Differenzialdiagnosen des Schütteltraumas

Zudem ist es immer wichtig, den Kontext in Betracht zu ziehen, d. h. unter anderem das Alter des Kindes, die Unfallanamnese und die nichtokulären Verletzungen. Erst in der Zusammenschau aller Befunde, nach sorgfältiger interdisziplinärer Abwägung und Ausschluss möglicher Differenzialdiagnosen kann die Diagnose eines Schütteltraumas gestellt werden.

Fazit für die Praxis

  • Retinale Blutungen kommen bei 77,5–85 % der Kinder mit SBS vor.

  • Bei einer Kombination aus Subduralblutung und retinalen Blutungen ohne Zeichen einer direkten Kopfverletzung ist eine Misshandlung im Sinne eines SBS die wahrscheinlichste Ursache.

  • Typische Charakteristika retinaler Blutungen beim SBS sind eine große Zahl der Blutungen in beiden Augen, eine Ausdehnung der Blutungen bis in die Peripherie und das Vorliegen von Blutungen in allen Netzhautschichten, wobei auch unilaterale oder asymmetrische Befunde möglich sind.

  • Bei der Abgrenzung zu anderen Differenzialdiagnosen spielen das Verteilungsmuster der retinalen Blutungen, zusätzliche funduskopische Zeichen, das Alter des Kindes, die mögliche Unfallanamnese und die nichtokulären Verletzungen eine Rolle.