Zusammenfassung
Die kataleptische Totenstarre bezeichnet eine Totenstarre, die den menschlichen Körper schlagartig in der dem Tod unmittelbar vorangegangenen Stellung hält. In der deutschsprachigen rechtsmedizinischen Literatur seit 1922 finden sich 15 Fallmitteilungen, in denen eine kataleptische Totenstarre beschrieben worden ist. Unter Anwendung neuer diagnostischer Kriterien konnte in keinem der Fälle eine kataleptische Totenstarre bejaht werden.
Abstract
Cataleptic postmortem rigidity or cadaveric spasm is defined as a form of rigor mortis which occurs instantaneously at the moment of death and maintains the corpse in the position held immediately before death. In the German-speaking forensic literature since 1922 15 case reports of cadaveric spasm were found. None of these 15 cases fulfilled the new diagnostic criteria of cadaveric spasm as defined for this study.
Avoid common mistakes on your manuscript.
Die kataleptische Totenstarre ist ein ebenso mysteriöses wie umstrittenes thanatologisches Phänomen. Ihre Existenz widerspricht den Alltagsbeobachtungen des Rechtsmediziners gänzlich. Mithilfe einer Literaturrecherche wurde die deutschsprachige rechtsmedizinische Literatur auf Fallmitteilungen, in denen eine kataleptische Totenstarre beschrieben worden ist, untersucht.
Definition
Die kataleptische Totenstarre bezeichnet eine Totenstarre, die sofort mit dem Tod auftritt und den menschlichen Körper durch schlagartiges Starrwerden in der dem Tod unmittelbar vorangegangenen Stellung hält – auch gegen die Schwerkraft (Abb. 1, Abb. 2).
Sie wurde im Zusammenhang mit verschiedensten Todesursachen, so z. B. Tetanus, Intoxikationen und Schädelhirntraumata, insbesondere Schussverletzungen, beschrieben [2, 3]. Geprägt wurde der Begriff der kataleptischen Totenstarre im Jahr 1859 durch den deutschen Physiologen Emil Du Bois-Reymond (1818–1896; [4]).
Historische Beispiele
Hinweise auf eine kataleptische Totenstarre lassen sich schon im Altertum finden, so z. B. in der alttestamentarischen Erzählung um die Zerstörung von Sodom und Gomorrha. („Als Lots Frau zurückblickte, wurde sie zu einer Salzsäule“ [1].) Seit der Renaissance wurden wiederholt Fälle beschrieben, in denen eine kataleptische Totenstarre als Erklärung der beobachteten postmortalen Körperstellung diskutiert wurde. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts häufen sich die Beschreibungen, insbesondere aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) und aus dem Deutsch-Französischen Krieg (1870–1871; Übersicht bei [2]).
Bisherige Bewertung
Im Jahr 1922 untersuchte Baumann [2] im Rahmen einer Dissertation alle ihm greifbaren Fallbeschreibungen der kataleptischen Totenstarre. Er kam zu folgendem Schluss: „Immerhin scheint die kataleptische Totenstarre sehr selten zu sein.“ Seit den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts werden Mitteilungen über die kataleptische Totenstarre seltener und versiegen schließlich ganz.
Die Bewertung des Phänomens fällt in den rechtsmedizinischen Lehrbüchern des 20. Jahrhunderts sehr unterschiedlich aus: So bejahen 1927 Haberda [5] und noch 1975 Mueller [6] die Existenz der kataleptischen Totenstarre; hier schreibt Letzterer einschränkend, „dass sie so selten ist, dass man niemals a priori mit ihrem Vorliegen rechnen soll.“ Mueller erwähnt in seinem Lehrbuch, dass er im Zweiten Weltkrieg durch Befragen von Truppenärzten und in der eigenen Arbeit keine Fälle einer kataleptischen Totenstarre habe feststellen können. In neuerer Zeit wird die Existenz der kataleptischen Totenstarre von Forster u. Ropohl [7] sowie Henssge u. Madea [8, 9] verneint. In einem Beitrag zur Fort- und Weiterbildung mit Thema Leichenveränderungen in dieser Zeitschrift wird die kataleptische Totenstarre nicht mehr erwähnt [10].
Literaturrecherche
Material
Eingang in die Untersuchung fanden ab dem Jahr 1922 (Zeitpunkt der erwähnten Dissertation von Baumann [2]) publizierte, deutschsprachige Fallbeschreibungen, in denen von einer kataleptischen Totenstarre ausgegangen oder eine solche zumindest vermutet worden war. Ausgenommen sind Fotografien in Atlanten o. Ä., die keinen oder kaum erläuternden Text aufweisen. Auf den „Fall Wahncau“ [11] wird in der Diskussion aufgrund seines Bekanntheitsgrades eingegangen.
Methode
Eine beschriebene postmortal festgestellte Körperstellung muss alle von den Autoren definierten Kriterien (Infobox 1) erfüllen, um mit einer kataleptischen Totenstarre erklärt werden zu können.
Die genaue Beschreibung der frühen Leichenveränderungen (Totenstarre, Totenflecke) muss gefordert werden, um eine Umlagerung des Leichnams in eine nichtunterstützte Lage ausschließen zu können. Aus gleichem Grund werden intakte Schließverhältnisse und die Abwesenheit Dritter als weitere Kriterien aufgestellt. Bei einer Auffindung im Freien wäre eine Lageveränderung der Leiche durch Drittpersonen, Witterung oder – in Zusammenhang mit Kriegshandlungen – physikalische Einflüsse wie Druckwellen von detonierenden Artilleriegeschossen nie sicher auszuschließen.
Für die Diagnose einer kataleptischen Totenstarre als nichtnotwendig angesehen wurde die fotografische Dokumentation der Fundsituation. Insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es nämlich weniger üblich als heute, Fundsituationen standardmäßig fotografisch zu dokumentieren, und Publikationen dieser Zeit sind weniger bebildert als heutige. Beim Bestehen auf fotografischen Abbildungen der kataleptischen Lage hätte somit die Möglichkeit bestanden, Fälle fälschlicherweise auszuschließen.
Das Ziel dieser Arbeit ist eine rein phänomenologische Beurteilung der kataleptischen Totenstarre; deshalb wird eine autoptische Klärung der Todesursache und der Todesart nicht als zwingendes Kriterium angesehen.
Resultate
Die Resultate der Literaturrecherche werden in Tab. 1 dargestellt. Hier werden interessenhalber auch für diese Arbeit nichtrelevante Punkte aufgeführt (z. B. Alter und Geschlecht des Verstorbenen, Todesursache, Todesart).
Es fanden sich 15 Fallbeschreibungen einer kataleptischen Totenstarre, davon 14 in rechtsmedizinischen Fachzeitschriften [3, 12, 13, 14, 15, 16] und eine in einer Monographie [17]. Eine weitere Beschreibung betraf ein gejagtes Reh und fand keinen Eingang in die hier beschriebene Untersuchung [13]. Zwölf Fälle wurden bis 1925 publiziert. Je ein Fall wurde 1929, 1956 und 1970 mitgeteilt.
In 5 Fällen wurde die Totenstarre – zumeist kursorisch (z. B. „halbsteife Muskulatur“) – beschrieben. Eine Beschreibung der Totenflecke erfolgte in keinem Fall.
Zehn Leichen wurden im Freien beobachtet, davon 6 im Zusammenhang mit kriegerischen Handlungen im Ersten Weltkrieg. Vier Leichen mit nichtunterstützter Lage wurden in Innenräumen festgestellt; eine kataleptische Totenstarre wurde in einer offenen Gartenlaube vorgefunden. In allen Fällen, die in Innenräumen festgestellt wurden, waren Drittpersonen anwesend.
Bei 10 der 15 Fallbeschreibungen war der Beschreiber der kataleptischen Totenstarre selbst am Fundort. Zwei Beobachtungen einer nichtunterstützten Lage beruhen auf Fremdbeobachtungen. Aus den restlichen Beschreibungen geht nicht hervor, ob die beschriebene Leichenlage auf Fremd- oder Eigenbeobachtung beruht.
Fotos der Auffindeposition liegen in 3 Fällen vor.
Lediglich in 3 von 15 Fällen erfolgte gesichert eine Obduktion. Diese ergab zweimal eine tödliche Schussverletzung des Kopfes sowie wahrscheinlich eine letal verlaufende Mischintoxikation mit Alkohol und Morphin.
Keine der 15 Fallbeschreibungen erfüllte die aufgestellten diagnostischen Kriterien der kataleptischen Totenstarre.
Diskussion
In der vorliegenden Arbeit wurden diagnostische Kriterien für die kataleptische Totenstarre unter einem phänomenologischen Blickwinkel definiert (Infobox 1). Die Begründung der Kriterien findet sich im Abschn. “Methode“. Keiner der in der deutschsprachigen Literatur seit 1922 aufgeführten Fälle einer kataleptischen Totenstarre erfüllt diese Kriterien.
Auffallend ist die aus heutiger Sicht unzureichende Beschreibung der frühen Leichenveränderungen. Nach Meinung der Autoren sind gerade die Beschreibungen der Totenflecke und der Totenstarre zum Ausschluss einer postmortalen Lageveränderung ein zentraler Punkt bei der Existenzprüfung einer kataleptischen Totenstarre.
Gut die Hälfte der Fallbeschreibungen wurden von denselben Autoren (Lochte u. Baumann [13]; Tab. 1) publiziert. Dies erklärt sich dadurch, dass von den genannten Autoren im Anschluss an die Dissertation von Baumann ein Aufruf an die deutschsprachigen Rechtsmediziner erging, ihnen Fallbeschreibungen über kataleptische Totenstarre mitzuteilen.
Der wahrscheinlich bekannteste Fall einer kataleptischen Totenstarre, der „Fall von Wahncau“, wurde nicht in die hier beschriebene Untersuchung aufgenommen. Seine Bekanntheit beruht auf dem Abdruck zweier Abbildungen im verbreiteten Atlas der gerichtlichen Medizin von Prokop u. Radam [11]. Diese Fallbeschreibung wurde von Wahncau 1895 publiziert und liegt somit außerhalb der hier untersuchten Zeitspanne. In seiner Arbeit geht Baumann auf den Fall von Wahncau“ ein [2]. Die geforderten Kriterien werden auch in diesem Fall nicht erfüllt (keine Beschreibung der frühen Leichenveränderungen bei Prokop u. Radam, Auffindung im Freien).
Die Existenz der kataleptischen Totenstarre muss somit nach dieser Literatursichtung des Zeitraums ab 1922 als unbewiesen gelten.
Fazit für die Praxis
Eine „kataleptische“ Leichenposition – d. h. eine nichtunterstützte Lage der Leiche oder von Gliedern der Leiche – kann nicht mit einer kataleptischen Totenstarre erklärt werden. Sie verlangt daher eine sorgfältige rechtsmedizinische und kriminalistische Abklärung der Frage, unter welchen Umständen und durch wen der Leichnam in die beobachtete Stellung gebracht worden ist.
Literatur
Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz et al (Hrsg) (2007) Die Bibel Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart, S 32 (Genesis 19,26)
Baumann J (1923) Über kataleptische Totenstarre. Dtsch Z Gerichtl Med 2:647–670
Lochte TH (1922) Ein Fall von absichtlich vorgetäuschter kataleptischer Totenstarre. Dtsch Z Gerichtl Med 1:103–114
Laves W (1948/1949) Über die Totenstarre. Dtsch Z Gerichtl Med 39:186–198
Haberda A (1927) Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. Urban & Schwarzenberg, Berlin Wien, S 1031–1032
Berg S, Mueller B, Schleyer F (1975) Leichenveränderungen – Todeszeitbestimmung im frühpostmortalen Intervall Leichenzersetzung und -zerstörung. In: Mueller B (Hrsg) Gerichtliche Medizin. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 54
Forster B, Ropohl D (1986) Thanatologie. In: Forster B (Hrsg) Praxis der Rechtsmedizin. Thieme, Stuttgart New York, S 23
Henssge C, Madea B (1988) Methoden zur Bestimmung der Todeszeit an Leichen. Schmidt-Römhild, Lübeck, S 117–118
Henssge C, Madea B (2004) Leichenstarre. In: Brinkmann B, Madea B (Hrsg) Handbuch gerichtliche Medizin. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio, S 99
Schneider V (2002) Leichenschau. Rechtsmedizin 12:339–352
Prokop P, Radam G (1987) Atlas der gerichtlichen Medizin. VEB Volk und Gesundheit, Berlin, S 76
Schultze WH (1929) Über einen kriminalistisch bedeutungsvollen Fall von kataleptischer Totenstarre. Dtsch Z Gerichtl Med 13:13–20
Lochte TH, Baumann J (1924) Ergebnisse der Sammelforschung über kataleptische Totenstarre. Dtsch Z Gerichtl Med 3:349–358
Kiwull E (1924) Ein Fall von kataleptischer Totenstarre. Dtsch Z Gerichtl Med 3:357–358
Hildebrand H (1924) Ein Fall von kataleptischer Totenstarre. Dtsch Z Gerichtl Med 3:562–565
Weimann W, Spengler H (1956) Der Selbstmord durch Erdrosseln und seine Unterscheidung vom Mord. Arch Kriminol 117:145–163
Schwarz F (1970) Der außergewöhnliche Todesfall. Enke, Stuttgart, S 25–26
Interessenkonflikt
Es bestehen keine Interessenkonflikte.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Pfäffli, M., Wyler, D. Kataleptische Totenstarre – Mythos oder Realität?. Rechtsmedizin 20, 5–8 (2010). https://doi.org/10.1007/s00194-009-0647-7
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00194-009-0647-7