„Child abuse is an enormous social, medical, and mental health problem and its evaluation and treatment have far reaching implications for children, families and society. To provide optimal diagnosis and treatment, careful objective research, intellectual honesty are needed and must prevail over entrenchment of ideological schools of thought and ‚winning’ in court. Unfortunately there remains considerable difficulty for some doctors to accept that children are abused. We must locate cases using all the information available, including clinical experience and the synthesis of the best literature on the subject“. (Reece 2004; [26])

Wenn Verletzungen eines Kindes als Folge eines Schüttelvorgangs gedeutet werden, so hat dies in der Regel gravierende juristische und soziale Folgen. Gerade bei Todesfällen droht dem Verursacher eine langjährige Haftstrafe. Insofern sind an den Gutachter hohe Anforderungen in Bezug auf die Sicherheit der Diagnose zu stellen. Vor diesem Hintergrund führt es insbesondere bei den Recht sprechenden Organen zu Verunsicherungen, dass in den vergangenen 10 Jahren nicht nur der diagnostische Wert einzelner Befunde, sondern auch das Konzept des Schütteltraumas als solches – gerade auch von wissenschaftlicher Seite – immer wieder infrage gestellt worden ist. Daher ist die sachliche Diskussion möglicher Einwände und Beschränkungen der Grundlagen des Schütteltraumas von großer Bedeutung, um falsch-positive und falsch-negative Diagnosen, jeweils mit potenziell verheerenden Konsequenzen, zu vermeiden. Leider lassen auch vordergründig wissenschaftliche Einwände bisweilen den Eindruck aufkommen, dass sie das Phänomen der Gewaltanwendung von Erwachsenen an Kindern grundsätzlich in Zweifel ziehen ([8, 12, 18, 24], Kommentar bei [26]).

Gerade in Großbritannien und den USA haben spektakuläre Prozesse wie der Fall von Sally Clark das Vertrauen der Bevölkerung in Mediziner, die als Sachverständige in der Gerichtsverhandlung auftreten, erschüttert [3]. Interessengruppen machen sich im Internet für die Rechte vermeintlich zu Unrecht beschuldigter Eltern stark. So gibt es in England die Gruppe der „Five Percenters“, deren Bezeichnung auf die Annahme zurückgeht, dass in etwa 5% der Fälle eine Fehldiagnose gestellt werde. Indirekte Unterstützung erfahren solche Gruppen von Wissenschaftlern, die den Beweiswert als typisch geltender Befunde in Zweifel ziehen. So sind es insbesondere die Publikationen von Geddes et al. und Plunkett, die als Kronzeugen für die Behauptung von Eltern herangezogen werden, ihr Kind habe sich die Verletzungen bei einem Sturz vom Sofa oder durch einen anderen Bagatellunfall zugezogen oder es sei überhaupt nicht verletzt, sondern durch eine innere Erkrankung geschädigt worden [9, 10, 11, 24].

Widerlegt die „unified hypothesis“ von Geddes das Schütteltrauma?

Am häufigsten wurde in diesem Zusammenhang die Unified hypothesis der Arbeitsgruppe um die Neuropathologin Jennian Geddes zitiert [11]. Bei 50 natürlich verstorbenen Kindern, die meisten davon Totgeburten, wurde die Dura mater des Gehirns untersucht. In 36 Fällen fanden die Autoren intra- und juxtadurale Blutungen. Im Ergebnis wurde von den Autoren postuliert, dass die dem Schütteltrauma zugeschriebenen Befunde subduraler Blutungen (SDB), einer Enzephalopathie und retinaler Blutungen (RB) bei einem Teil der Kinder auch auf einen Sauerstoffmangel jedweder Ursache zurückzuführen sein könnten und keine signifikante Gewalteinwirkung erforderlich sei. Anzumerken ist, dass die Augen der Opfer in der Schlussfolgerung zwar subsumiert, in der Studie jedoch gar nicht untersucht worden sind. Von verschiedenen Autoren wurde gezeigt, dass die Schlussfolgerungen von Geddes nicht in Einklang mit ihren eigenen präsentierten Daten stehen. Unklar bleibt auch, warum die Vielzahl aus anderen Gründen hypoxischer Kinder keine SDB und keine RB aufweisen [4, 25].

Mit den Zweifeln an der Bedeutung einzelner Faktoren des von Caffey konstituierten Syndroms [5] begann der Versuch der Dekonstruktion eines Konzeptes, der 2004 in einem gemeinsamen Editorial von Geddes u. Plunkett im British Medical Journal gipfelte, in dem die Autoren die Existenz des Schütteltraumas schlechthin infrage stellten („… We need to reconsider the diagnostic criteria, if not the existence, of shaken baby syndrome“; [12]). Die öffentliche Debatte um das Schütteltrauma in England hatte ebenfalls im Jahr 2004 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht, als der Generalstaatsanwalt alle Verurteilungen der vergangenen 10 Jahre wegen Tötung von Kindern unter 2 Jahren durch eine Kommission überprüfen ließ. Im Juli 2005 wurden 4 von 297 überprüften Fällen (darunter 93 Fälle von Schütteltrauma) vor dem Court of Appeal neu verhandelt. Bei dem Prozess wurden zahlreiche medizinische Sachverständige mit sehr kontroversen Ansichten, darunter auch Geddes und Plunkett, gehört [15]. Zwar kann es nicht Aufgabe eines Gerichtes sein, wissenschaftliche Debatten zu schlichten oder gar aufzulösen, es ist aber dennoch erwähnenswert, dass der Court of Appeal die ungebrochene Bedeutung der Symptomtrias SDB, Enzephalopathie und RB für den Nachweis eines Schütteltraumas in foro hervorhob. In der Verhandlung trat Geddes weit hinter ihre bis dahin vertretenen Ansichten zurück. So gab sie zu Protokoll: „I would be very unhappy to think that cases were being thrown out on the basis that my theory was fact“, was in krassem Gegensatz zu der bereits zitierten Aussage aus dem Editorial des British Medical Journal steht. Die ebenfalls zu Protokoll genommene Aussage: „I think we might not have the theory quite right. I think possibly the emphasis on hypoxia – no, I think possibly we are looking more at raised pressure being the critical event“ kommt einem öffentlichen Widerruf der Unified Hypothesis schon sehr nahe.

Wie gesichert ist das Konzept des Schütteltraumas?

Das Grundproblem der Diskussion um kontroverse Aspekte besteht darin, dass immer wieder einzelne Elemente der Definition herausgegriffen werden, die fälschlich als pathognomonisch interpretiert werden (v. a. RB!). Dann werden mögliche Differenzialdiagnosen herangezogen, um damit das gesamte Konzept nichtakzidenteller Kopfverletzungen anscheinend zu widerlegen.

Ein grundsätzliches Problem besteht aber auch weiterhin darin, dass es praktisch keine Erkenntnisse über das Schütteltrauma gibt, die einer im klassischen Sinne evidenzbasierten Forschung entspringen. Experimente am Menschen sind nicht durchführbar. Ergebnisse von Tierversuchen [23] sind nur bedingt auf den Menschen übertragbar. Auch Versuche mit Babymodellen [7] können die Verhältnisse im kindlichen Körper nur bedingt nachahmen. So wird man die im Gerichtssaal häufig gestellte Frage, wie kräftig und wie lange geschüttelt worden ist, nicht mit letzter Sicherheit beantworten können. Stellungnahmen wie die der American Academy of Pediatrics, wonach der Schüttelvorgang so gewaltsam sein muss, dass auch ein Laie als Zeuge den Vorgang als potenziell lebensgefährlich erkennen würde, leiten sich aus den Schilderungen geständiger Täter und der Erfahrung, dass Kinder nicht durch einfaches Rütteln oder „robustes“ Spielen geschädigt werden, ab [1, 28]. Solchen Geständnissen kommt daher nicht nur für die Justiz, sondern auch für die Wissenschaft eine große Bedeutung zu, wenngleich die daraus gewonnenen Erkenntnisse natürlich nicht als gesichert gelten können. So können Geständnisse durch eine suggestive Befragung beeinflusst oder aus taktischen Erwägungen geschönt werden. Unter den von der Hamburger Rechtsmedizin bearbeiteten Fällen gibt es einige mit spontanen, laut Vernehmungsprotokoll nichtsuggerierten Geständnissen, die an der Existenz des Schütteltraumas nur wenig Zweifel lassen. So gab z. B. der Vater eines 3 Monate alt gewordenen Jungen mit SDB, RB, Hirnödem und unterschiedlich alten Rippenbrüchen in der ersten Beschuldigtenvernehmung zu Protokoll: „Ich habe meinen Sohn hochgenommen. Ich habe ihn dabei unter den Achseln am Brustkorb erfasst. Anschließend habe ich ihn kräftig hin und hergeschüttelt. Sein Kopf ist dabei ziemlich stark hin und her geflogen … Ich merkte dann, dass er nicht mehr atmete. Beide Hände zitterten …“. Auch Caffey selbst „verdankte“ seine Erkenntnisse über das Schütteltrauma nicht zuletzt den geständigen Tätern [5]. Leestma analysierte die englischsprachige Literatur und fand für die Jahre 1969–2001 lediglich 54 Fälle, bei denen ein Täter mehr oder minder gestanden hatte, das Kind geschüttelt zu haben [19]. Dies macht vor allen Dingen die Notwendigkeit der Veröffentlichung gut dokumentierter Fälle bzw. Fallsammlungen mit Geständnis deutlich, wie beispielsweise von Starling et al. publiziert [28].

Tierexperimentelle Arbeiten, Versuche an Puppenmodellen und autoptische Berichte über oft subtile Skalpverletzungen haben vorübergehend zu der Hypothese geführt, dass obligat ein zusätzliches Hinwerfen des Kindes und damit ein Aufprall des Schädels hinzukommen müsse, um die Schwere der Verletzungen zu erklären, und es wurde postuliert, dass Schütteln allein nicht die traumatischen Schwellenwerte für die beschriebenen schweren Schäden erkläre [7]. Dieses begrifflich als „shaken impact syndrome“ bezeichnete Phänomen verschlimmert die Folgen des reinen Schüttelns, da zusätzliche, punktuelle Dezelerationskräfte auf das Gehirn einwirken. Neuere Arbeiten haben die methodischen Probleme der Übertragbarkeit tierexperimenteller Modelle und auch der Schwäche der benutzten Modelle präzisiert, und es ist mittlerweile weitgehender Konsens, dass auch Schütteln allein die oben beschriebenen schweren Auswirkungen nach sich ziehen kann [14, 16, 17, 21].

Kann die Diagnose eines Schütteltraumas überhaupt gestellt werden?

Da Schütteln einen zwar plausiblen, aber nichtbeobachteten Mechanismus einer nichtakzidentellen Kopf- bzw. Gehirnverletzung („non-accidental head injury“, NAHI) darstellt, wird mittlerweile letzterer bzw. der Begriff des „inflicted traumatic brain injury“ (iTBI) international bevorzugt. Eine gewisse Schwäche der Bezeichnung NAHI besteht allerdings darin, dass sie einen Begriff über die Negation eines anderen definiert und somit recht unscharf bleibt. Sowohl bei Unfällen als auch bei Misshandlungen können nahezu gleichartige Mechanismen auftreten (z. B. Aufschlagen des Kopfes auf eine harte Fläche), sodass in derartigen Fällen auch das Verletzungsbild identisch wäre. Der Begriff NAHI soll aber nun gerade deutlich machen, dass bei einer nichtakzidentellen Genese ein anderes Verletzungsbild auftritt als bei Unfällen.

Die syndromale Diagnose einer NAHI beruht auf der (fehlenden oder inadäquaten) Anamnese und klinischen, radiologischen sowie ophthalmologischen Anzeichen, bisweilen durch weitere klinische Hinweise auf eine Misshandlung und einer psychosozialen Problemkonstellation der Familie ergänzt. Schon die einzelnen Elemente an sich (SDB, RB, traumatische Hirnverletzung, jeweils ohne plausible Erklärung) sind verdächtig. Die zunehmende Kombination mehrerer Elemente lässt nach Ausschluss der entsprechenden Differenzialdiagnosen, jedoch mit zunehmender Sicherheit die klare Diagnose einer NAHI stellen [13, 21].

Führen Stürze aus geringer Höhe zu tödlichen Kopfverletzungen?

Die allgemeine Erfahrung und verschiedene Studien sprechen dagegen, dass banale Stürze in einem nennenswerten Anteil der Kinder zu schweren Verletzungen oder gar zum Tod führen [6, 27, 30]. In den Notaufnahmen der Krankenhäuser wären lebensbedrohliche Kopfverletzungen bei Kindern an der Tagesordnung, wenn diese durch Alltagstraumata entstehen würden. In einer Metaanalyse von nahezu 5000 Unfallsstürzen wurden in wenigen Prozenten einfache lineare Schädelfrakturen, in weit unter 1% der Fälle unkompliziert verlaufende intrakranielle Blutungen und Todesfälle nahezu ausschließlich bei Stürzen aus mehreren Metern Höhe gefunden [2]. Dennoch werden einfache Stürze immer wieder als Erklärung für komplexe, lebensbedrohliche oder gar tödliche Verletzungen herangezogen. John Plunkett postulierte nach der retrospektiven Auswertung von Spielplatzunfällen, dass Stürze aus geringer Höhe zum Tod von Kindern und zu Befunden führen können, die üblicherweise als typisch, wenn nicht beweisend für das Schütteltrauma angesehen werden [24]. Unter mehr als 75.000 Unfällen konnte Plunkett 18 Todesfälle durch sturzbedingte Kopfverletzungen identifizieren. Dies bedeutet, dass etwa 2–3 unter 10.000 auf dem Spielplatz verunglückten Kindern tödliche Kopfverletzungen davontragen. Plunketts Schlussfolgerung, dass ein Sturz aus einer Höhe von weniger als 3 m zu tödlichen Kopfverletzungen führen kann, hilft bei der Mehrzahl der zur Diskussion stehenden Fälle nicht weiter. Einerseits scheinen tödliche Kopfverletzungen selbst bei den für Beobachter sehr gefährlich anmutenden Spielplatzunfällen nur sehr selten vorzukommen. Zum anderen sind diese Fälle häufig unabhängig bezeugt, und die Kinder weisen auch äußerlich ein Verletzungsbild auf, das zu dem Entstehungsmechanismus passt. Zudem sind in der Studie keine Säuglinge, die die hauptsächlich betroffene Altersgruppe der NAHI darstellen, aufgeführt. Die häufig als Erklärung für eine SDB vorgetragene Behauptung, dass das Kind vom Sofa oder vom Stuhl, also aus sehr geringerer Höhe gefallen sei, wird durch Plunketts Untersuchung in keiner Weise gestützt. Gerade zur Untermauerung derartiger Behauptungen wird die Arbeit aber immer wieder herangezogen. Grundsätzlich ist bei Fallschilderungen und retrospektiven Fallsammlungen immer zu hinterfragen, wie zuverlässig der angebliche Unfallmechanismus tatsächlich bezeugt worden ist. Wenn z. B. in einer Falldarstellung ein bezeugter Sturz eines 11 Monate alten Kindes rückwärts auf einen Teppichboden als Beweis dafür herangezogen wird, dass SDB und RB auch unabhängig vom Schütteltrauma entstehen können, so ist kritisch anzumerken, dass der Unfallzeuge erst 5 Jahre alt war und dass es selbstverständlich ein Sturzgeschehen gegeben haben kann, das aber mit den Verletzungen in keinem Zusammenhang stehen muss [8]. Einzelne, sehr seltene letale Verläufe bei Stürzen aus geringen Höhen sind nahezu ausschließlich auf ein epidurales Hämatom zurückzuführen. Die Verwechslung mit einer NAHI ist in diesen Fällen unwahrscheinlich.

Gibt es ein luzides Intervall nach einem Schütteltrauma?

Die Frage, ob Kinder mit einem signifikanten Schütteltrauma nach dem Vorfall mehrere Stunden oder Tage symptomlos erscheinen können, ist insofern von hohem forensischen Belang, da sich im zutreffenden Fall der Kreis der infrage kommenden Verursacher vergrößern könnte. Das Phänomen eines klinisch erscheinungsfreien, luziden Intervalls mit nachfolgender schwerwiegender klinisch-neurologischer Verschlechterung bis zum Tod („Walk, talk and then deteriorate and die“) wird bei Erwachsenen, Jugendlichen und selten bei Kindern, aber nicht bei Säuglingen beschrieben. Da das Schütteltrauma zu einer diffusen Hirnschädigung führt, ist im Gegensatz zu raumfordernden, allmählich zu einer Mittellinienverlagerung führenden Prozessen wie dem epiduralen Hämatom oder der massenwirksamen SDB schon aus theoretischen Erwägungen nicht mit einem freien Intervall, sondern mit einer sofortigen klinischen Symptomatik zu rechnen. Die beim SBS gefundenen SDB sind überwiegend gering ausgeprägt. Ihre derartige artifizielle Zufügung bei Versuchstieren führt nicht zu einer neurologischen Symptomatik [2, 21].

Diese Schlussfolgerungen werden auch von Zeugenaussagen gestützt [5, 28]. In einer Serie von 95 Fällen von Kindern, die an akzidentellen Kopfverletzungen gestorben waren, gab es nur in einem Fall verzögert eintretende Symptome, wobei es sich bei der Verletzung um ein epidurales Hämatom handelte [29]. Nashelsky u. Dix fanden in der Literatur zum Schütteltrauma lediglich 3 Fälle, die ausreichend Informationen enthielten, um verlässlich auf den Zeitpunkt des Einsetzens von Symptomen schließen zu können [22]. Zwei der Kinder zeigten sofortige Symptome, während bei einem Kind 4 Tage bis zum Einsetzen von Krämpfen vergingen. Allerdings soll dieses Kind in der Zwischenzeit immer wieder erbrochen haben. Krous u. Byard schließen nach einer Literaturrecherche, dass Kinder, die ein fremdbeigebrachtes (im Gegensatz zu einem unfallmäßig erworbenen) Schädeltrauma erleiden, sehr schnell – wenn nicht sofort – neurologische Symptome und einen Bewusstseinsverlust erleiden [17]. Auch die von Starling et al. mitgeteilten Aussagen geständiger Täter sprechen für ein rasches und nachhaltiges Einsetzen einer auch für Laien erkennbaren klinischen Symptomatik bei Opfern einer NAHI mit signifikanten Folgeschäden [28].

Aus den genannten Beobachtungen kann gefolgert werden, dass ein alertes, gesund erscheinendes Kind nicht bereits Opfer einer schweren Kopfverletzung geworden sein kann, die Stunden oder Tage später klinisch auffällig wird.

Welchen diagnostischen Stellenwert haben retinale Blutungen?

Retinale Blutungen sind nicht pathognomonisch für ein NAHI. Zahlreiche, wenngleich seltene, Differenzialdiagnosen müssen berücksichtigt werden. Obwohl immer wieder postuliert, entkräftet dies in keiner Weise das Konzept des SBS, bei dem charakteristischerweise sehr ausgeprägte, massive Blutungen beobachtet werden. In Abwesenheit einer schwerwiegenden akzidentellen Genese und nach Ausschluss der entsprechenden Differenzialdiagnosen gelten sie jedoch als hochverdächtiger Befund [20, 21, 26]. Dass die bislang als pathognomonisch geltenden perimakulären Falten in einer Kasuistik einem schweren Unfallgeschehen zugeordnet werden konnten, entkräftet nicht die Tatsache, dass sie daneben bislang nur bei NAHI beobachtet werden [18]. Auch wenn RB einen relativ breiten differenzialdiagnostischen Spielraum aufwerfen (vgl. Beiträge von Matschke und von Herrmann in diesem Heft), sind sie ein wichtiger Bestandteil der Diagnose Schütteltrauma und werden dort in der Mehrzahl der Fälle gefunden. Allerdings schließt das Fehlen oder das einseitige Auftreten von RB ein Schütteltrauma ebenso wenig aus, wie ihr Vorliegen ein Schütteltrauma beweist.

Können Reblutungen chronischer subduraler Blutungen die Konstellation eines Schütteltraumas imitieren?

Besonders in spektakulären US-amerikanischen Strafprozessen wurde durch fragwürdige Gutachten als Erklärung schwerer und tödlicher NAHI-Fälle die „Reblutungshypothese“ postuliert. Sie besagt, dass es bei chronischen subduralen Hämatomen oder Hygromen mit erweitertem Subduralraum zum Einriss delikater Neovaskularisierungen durch banale Traumata kommen könne. Belege für diese unbewiesene Hypothese fehlen. Auch wenn Reblutungen bei den genannten Konstellationen vorkommen können, so sind sie durchweg venokapillär, von geringem Blutungsvolumen und führen weder zu Masseneffekten, einem Hirnödem, noch zu diffusen axonalen Schädigungen oder RB [14, 16].

Fazit für die Praxis

Die juristischen Auseinandersetzungen in England und die kontrovers geführte wissenschaftliche Debatte zeigen, dass zwar einerseits noch nicht alle strittigen Punkte geklärt werden können, dass das Konzept des Schütteltraumas aber auf ausreichend soliden Füßen steht, wenn im Verdachtsfall eine sorgfältige und umfassende Diagnostik durchgeführt wird. Im Sinne einer fachlich fundierten Diagnose ist es kontraproduktiv und gefährlich, einzelne Elemente wie RB heranzuziehen, um die Diagnose einer NAHI zu stellen oder auszuschließen. Unter Abwägung der Differenzialdiagnosen und der Plausibilität der Entstehung vorliegender Befunde kann jedoch mit zunehmender Sicherheit eine syndromale Diagnose einer nichtakzidentellen Gehirnverletzung gestellt werden. Eine multidisziplinäre Betrachtung erhöht die Sicherheit der Diagnosestellung, die letztlich in der Hand eines Rechtsmediziners oder forensisch erfahrenen Pädiaters liegen sollte. Eine integrative Betrachtungsweise setzt aber auch den Blick auf den psychosozialen Hintergrund eines Falles voraus, der in der wissenschaftlichen Debatte häufig zu kurz kommt. Das Schütteltrauma ist nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein soziales und psychologisches Problem; dies darf bei der Bewertung des Einzelfalls nicht ausgeklammert werden. Letztlich entscheidet das Gericht auf der Grundlage fundierter und transparenter medizinischer Abwägung einer klinischen Konstellation sowie unter Berücksichtigung familiärer und sozialer Aspekte. Ärzte haben als Gutachter und als Wissenschaftler die Pflicht, die medizinischen Voraussetzungen für eine solche Entscheidung unparteiisch beizutragen.