Der Knochenbruch verursacht Funktionsstörung und Schmerzen. Die moderne chirurgische Behandlung des Knochenbruchs stellt die schmerzfreie Bewegungsfunktion wieder her. Bis vor einem halben Jahrhundert war das alleinige Ziel der Behandlung die solide Heilung in annehmbarer Stellung der Bruchfragmente. Die stabile Osteosynthese, wie sie die AO durch Forschung getragen entwickelte, ermöglichte es, die schmerzfreie Beweglichkeit der Gelenke sofort wiederherzustellen [7]. So konnten die Weichteile vor der Frakturkrankheit geschützt werden. In den ersten zwei Dekaden der AO dominierte deshalb die Mechanik das Tun und Denken des Chirurgen. Die Heilung unter absolut stabiler Fixation benötigte zwei Jahre, bis die Implantate ohne Refrakturrisiko entfernt werden konnten. In den letzten drei Dekaden traten die biologischen Aspekte der Heilung in den Vordergrund. Die Blutversorgung des Knochens wurde durch Verzicht auf präzise Reposition geschont und die Knochenheilung durch flexiblere Fixation früh aktiviert [8, 12, 13].

Nun stellt sich die Frage, welch ein Grad an Beweglichkeit der Knochenfragmente optimal ist. Bei spontaner Knochenheilung erreichen frei lebende Tiere trotz großer Beweglichkeit des Bruchs eine solide Heilung, bei wenig instabiler Osteosynthese kann es zur Pseudarthrose kommen (Abb. 1). Diesen Unterschied verstehen wir, wenn wir statt der Beweglichkeit des Bruchs die Deformation der reparativen Gewebe analysieren [5, 9].

Abb. 1
figure 1

Genügt prognostisch die Angabe der Beweglichkeit? Beim frei lebenden Tier kann eine voll bewegliche Fraktur solid (wenn auch in Fehlstellung) heilen, während ein Bruchspalt, der eng ist und einigermaßen stabil geschient ist, zur Pseudarthrose führen kann. Dieses Beispiel zeigt, dass die Angabe der Beweglichkeit allein nicht genügt. Die Dehnungstheorie bietet ein wesentlich besseres Denkmodell. Sie hilft somit, die flexible Osteosynthese zu optimieren. (Nach [10])

Wir gehen heute davon aus, dass die reparativen Zellen nicht die Bewegung der Bruchfragmente, wohl aber die Deformation erkennen, der sie durch Bewegung der Bruchzone ausgesetzt sind. Die praktische Bedeutung dieser Betrachtungsweise besteht darin, dass gleiche Bewegung unterschiedliche Deformation bewirken kann. Dies erklärt, warum eine instabile Fraktur ohne Behandlung heilen kann, während andererseits minimale Beweglichkeit bei Osteosynthese zur Pseudarthrose führen kann (Abb. 1).

Flexible Osteosynthese

Grundlage der flexiblen Stabilisierung ist die Schienung. Die Bruchfragmente werden durch einen Kraftträger (Schiene) überbrückt. Die Schiene übernimmt die Last und versteift die Bruchzone, die Beweglichkeit der Fraktur wird vermindert, aber nicht aufgehoben. Praktische Beispiele der Stabilisierung durch Schienung sind, sofern sie ohne interfragmentäre Kompression angewendet werden, der Fixateur externe, der Marknagel und die blockierte Platte [3, 7, 14]. Im Gegensatz zur Schienung erzeugt die Anwendung der Kompression eine völlige Ruhigstellung des Bruchspalts; der Bruch wird mechanisch neutralisiert.

Während der Bruch unter stabiler Kompression primär heilt, beobachten wir nach der flexiblen Schienung die sekundäre Heilung. Letztere ist interessant und wichtig, weil sie sicher und tolerant ist, d. h. weniger technische Ansprüche an den Chirurgen stellt, der damit die Biologie schonen kann. Die mechanobiologische Induktion der Heilung bleibt erhalten [1, 5]. Die sekundäre Heilung setzt deshalb früher ein als die primäre. Ein weiterer Vorteil ist, dass der Heilungsverlauf radiologisch unmittelbar verfolgt werden kann. Im Gegensatz dazu entzieht sich der adaptierte und komprimierte Bruchspalt bei primärer Heilung direktem radiologischem „Einblick“, und der Heilungsverlauf kann nur aus dem Fehlen von Symptomen, die auf Heilungsstörung hinweisen, indirekt beurteilt werden. In der Frühzeit der Kompressionsosteosynthese interpretierte man das Erscheinen von Kallus als Symptom einer unerwünschten Instabilität oder eines Infekts. Irrtümlich wurde oft angenommen, dass Kallus per se schlecht sei.

Deformation der reparativen Zellen

Es leuchtet ein, dass die Deformation der Zellen umso deutlicher ausfällt, je größer die Frakturbeweglichkeit (Instabilität) ist. Weniger offensichtlich, aber wichtiger ist der Zusammenhang zwischen der Weite des Bruchspalts und der Deformation der Zellen. Bei gleicher Beweglichkeit der Bruchflächen werden die Zellen in einem engen Bruchspalt stark deformiert, während sie in einem weiten Bruchspalt oder gar Defekt sehr wenig deformiert werden. Praktisch lässt sich dieser Zusammenhang in einer einfachen Formel (Deformation = gegenseitige Bewegung der Fragmente/ursprüngliche Bruchspaltweite oder ε = ΔL/L) darstellen. Der technisch korrekte Ausdruck für die Deformation ist „Dehnung“; dabei betrifft Dehnung jegliche Deformation, also sowohl Verlängerung wie auch Verkürzung.

Bewegung

Es leuchtet ein, dass die gegenseitige Bewegung der Bruchflächen von der Belastung und von der Steifigkeit der Schiene (Platte, Marknagel, Fixateur) abhängt. Zusätzlich spielt die freie Länge zwischen den Verankerungspunkten eine Rolle, die leicht übersehen wird. Von diesen Komponenten kann während der Heilung die Belastung jederzeit dem Heilungsverlauf angepasst werden.

Bruchspaltweite

Wenn wir die Dehnung der Gewebe beurteilen, mag es neu sein, dass der Abstand der Bruchflächen eine wesentliche Rolle spielt. Bei gleicher Bewegung ist die Dehnung im engen Bruchspalt stark, im weiten Bruchspalt dagegen gering (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

a Die Dehnung reparativer Gewebe in Abhängigkeit von der Bruchspaltweite: Darstellung der unterschiedlichen Gewebsdehnung am Modell eines Bruchs mit unterschiedlicher Bruchspaltweite, aber gleichbleibender Beweglichkeit der Fraktur. b Ausgangssituation: Bruchspalt mit unterschiedlicher Bruchweite, das reparative Gewebe ist in Ruhelage; 4 Zonen unterscheiden sich in ihrer Bruchweite. c Dehnung der Zelle nach Bewegung der Fraktur; die Anfärbung der Zellen zeigt die Dehnung der Zellen: Im weiten Bruchspalt ist sie gering (grün), gleichzeitig ist sie im ursprünglich engen Bruchspalt kritisch, es findet z. B. ein Zerreißen der Zellen statt (rot)

Diese Überlegung liegt der Dehnungstheorie zugrunde; sie ist Grundlage einer besseren Beurteilung der mechanobiologischen Beeinflussung der Knochenheilung.

Obere Grenze der Dehnung (Toleranz)

Die tolerierte Dehnung ist durch die Bruchelongation der Gewebe begrenzt. Wir können die Bruchelongation verstehen, wenn wir ein Material z. B. einem Zugversuch bis zum Bruch aussetzen. Aus dem Kurvenverlauf lassen sich die Festigkeit und die Steifigkeit ablesen. Es gibt aber einen weiteren Parameter, der die Bruchcharakteristik beschreibt: Jedes Material bricht nicht nur bei Bruchlast, es bricht auch bei einer typischen Bruchelongation. Vergleichen wir beispielsweise das Zugverhalten eines Gummifadens mit jenem eines Glasfadens. Dabei wählen wir die Durchmesser so, dass beide bei gleicher Last brechen. Das Gummiband zerreist z. B. bei 100% Verlängerung. Der Glasfaden zerreist bei wenigen Prozenten Verlängerung. Die Bruchelongation beschreibt die prozentuale Verlängerung bis zum Bruch; sie ist für jedes Material eine typische Größe. Bei biologischen Materialien beträgt dieser Wert nach Yamada [15] für

  • Parenchym (vereinfacht Granulationsgewebe) 100%;

  • Faserknorpel 10%;

  • kortikalen Knochen 2%.

Werden die Werte von Yamada, soweit sie lamellären Knochen betreffen, auf Kallus übertragen, ist die dreidimensionale Struktur des Kallus zu berücksichtigen. Das Gewebselement des Kallus weist eine tiefe Bruchelongation auf, seine Struktur wirkt wie eine Feder. Typisch für die Feder ist, dass sie bei Verkürzung oder Verlängerung relativ viel Bewegung aufnehmen kann: Das Materialelement der Feder wird nur gering deformiert. Die Bruchelongation des Kallus als dreidimensionale Struktur liegt etwa zehnmal höher, denn die Struktur des Kallus wirkt wie eine Feder. Es geht bei unseren Überlegungen nicht um (pseudo-)präzise Werte, sondern um eine grundlegend verschiedene Betrachtungsweise der Wirkung flexibler Fixation (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Flexibel fixierter Bruch, Kallusbildung und Resorption. a Flexibel stabilisierte Fragmente einer queren Osteotomie. Zwei unterschiedliche biologische Reaktionen sind sichtbar: links beginnende Überbrückung, wobei die lockenförmige Verlängerung der Wegstrecke die Dehnung des Kallusgewebes vermindert; rechts noch keine Überbrückung, wohl aber flächige Resorption der Fragmentoberflächen dort, wo sich Fragmentenden gegenüberstehen; Pfeil Zone ohne oberflächliche Resorption, die bei fehlender Gegenüberstellung geringere Dehnung aufweist. b Schematische Darstellung der Situation in a: Die dreidimensionale Anordnung der im Schnitt getroffenen, noch weichen Kallusbrücke wirkt wie eine Feder, d. h. die Bewegung der Enden bewirkt nur geringe Dehnung der Gewebselemente. Wenn die Gewebsbrücke auf kürzestem Weg von Fragment zu Fragment ausgespannt wäre, bestünde größere Dehnung der Gewebselemente. Die Oberflächenresoprtion trägt dazu bei, die Bruchspaltweite zu vergrößern und damit die Dehnung zu reduzieren. Die Vergrößerung des Abstands kann die Dehnung auf ein für das Gewebe erträgliches Maß reduzieren. c Knochenreaktionen und Dehnung (Deformation): Wo sich die Fragmentenden gegenüberstehen, war vor der Resorption die Dehnung stark. Die flächige Resorption hat die Bruchzonenweite vergrößert und damit die Dehnung vermindert. Die Kallusbrücke entstand in der Zone, wo die Distanz zwischen den Fragmenten größer und somit eine geringere Dehnung anzunehmen ist; Pfeil Zone der Osteotomie, wo keine Oberflächenresorption stattfand, sie entspricht der Zone geringerer Dehnung, wo bei gleicher Beweglichkeit die Distanz zwischen den Fragmenten größer ist. (Mit freundlicher Genehmigung der British Editorial Society of Bone and Joint Surgery)

Wird das Element des Gewebes über die Bruchelongation hinaus gedehnt. zerreißt es. Andererseits kann ein Gewebe nicht gebildet werden, wenn die vorherrschende Dehnung den Wert der Bruchelongation überschreitet. Die Dehnungstheorie beschreibt in relativen Einheiten der Dehnung die Toleranzwert der Gewebsreparatur gegenüber Dehnung (obere Grenze) sowie die Schwelle der Induktion von Gewebsreaktionen (untere Grenze).

Aus den erwähnten Überlegungen ergibt sich, dass die Angabe allein der Beweglichkeit der Frakturzone unzureichend ist, um die mechanobiologische Situation zu beschreiben. Wird der Bruchspalt so eng, dass er kaum mehr sichtbar ist, genügt eine ebenfalls kaum sichtbare Bewegung, und die Grenze der Toleranz wird überschritten. Beide Werte sind zwar klein – wichtig und entscheidend ist aber ihr gegenseitiges Verhältnis. Dieses Beispiel zeigt, dass die Dehnung die mechanobiologische Situation wesentlich besser beschreibt als die Bewegung allein.

Untere Grenze der Gewebsdehnung (Induktion)

Die untere Grenze der Gewebsdehnung betrifft die mechanobiologische Induktion der Frakturheilung. Als praktisches Beispiel fehlender Induktion bei zu geringer Dehnung dient der Knochendefekt. Wir haben uns daran gewöhnt, die Prognose der Defektheilung aus der Defektgröße in Bezug auf den Knochendurchmesser abzuleiten. Dies ist eine Regel, die aus zufälligen und zu weit interpretierten Beobachtungen entstand. Diese allgemein akzeptierte (und damit noch nicht notwendigerweise zutreffende) Regel bedarf einer sorgfältigen Evaluation. Eine Betrachtungsweise, die die Gewebsdehnung einschließt, lässt eine bessere Beurteilung erwarten.

Einen speziellen Fall der Knochenheilung, der offensichtlich die untere Grenze der Dehnung unterschreitet, stellt die absolute Stabilität mit nachfolgender primärer Knochenheilung dar. Die in Kontakt adaptierten und komprimierten Bruchflächen bewegen sich gegeneinander nicht – der Bruch ist mechanisch nicht erkennbar. Es erstaunt daher nicht, dass die Havers-Osteone, die den Bruch durchqueren, an Stellen absoluter Stabilität keine Reaktion auf den Bruch zeigen. Es stellt sich die Frage, warum der Bruch heilt, wenn er mechanobiologisch nicht erkennbar ist. Die Beobachtung, dass nekrotischer Knochen Umbau induziert, wie dies bei der temporären Porose bei Implantatkontakt beobachtet wurde [4, 11], kann die Induktion des inneren Umbaus bei primärer Knochenheilung erklären. Damit wäre die primäre Heilung nicht eine unmittelbare Reaktion auf den Bruch, wohl aber eine Reaktion auf die durch Bruch entstandenen Nekrosen (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Innerer Umbau (Remodeling) einer Nekrosezone: nekrotischer Knochen (links), vitaler Knochen (rechts). Vom vitalen Knochen aus bohren sich Osteone in den nekrotischen Knochen ein und ersetzen die Nekrose durch vitalen Knochen. In einem imaginären Schnitt (Linie) sieht die Histologie der primären Knochenheilung täuschend ähnlich aus. Dies kann zusammen mit anderen Beobachtungen [4] die primäre Knochenheilung (Abwesenheit mechanischer Stimuli) als nekroseinduzierten Umbau erklären

Einschränkungen

Mehrere Beobachtungen zeigen, dass ein Bruch oberhalb der kritischen Dehnung heilen kann; dies widerspricht der Dehnungstheorie nicht. Entscheidend ist die Bruchelongation des Gewebeelements. Die Strukturen der reparativen Gewebe können dreidimensional als „Locken“ angeordnet sein. Diese wirken wie Federn: Bei einer Feder kann die Verkürzung groß sein, das einzelne Element nimmt davon aber nur wenig auf. Die Dehnungstheorie hilft uns, obwohl wir wissen, dass die Dehnung durch zusätzliche Komponenten (z. B. Volumeneffekte) moduliert wird [2].

Die klinische Bedeutung der Dehnung der Gewebe, wie sie die Dehnungstheorie darstellt, ist am Beispiel der flexiblen Fixation der einfachen Brüche leicht zu erkennen (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Flexible Schienung eines einfachen Spiralbruchs: Die Platte schient eine Fraktur ohne Kompression. Zwischen den Schrauben, beidseits der Fraktur, kann sich die Platte unter dosierter Belastung elastisch biegen. In der Bruchzone entsteht eine Bewegung, die bei korrekter Bruchspaltweite eine optimale Dehnung erzeugt: genug für die Induktion der Heilung, aber weniger, als die Toleranz zulässt (Dr. C. Ryf, Spital Davos). (Mit freundlicher Genehmigung der British Editorial Society of Bone and Joint Surgery)

Toleranz gegenüber Instabilität der Trümmerbrüche

Bei Trümmerbrüchen, die seriell, d. h. hintereinander angeordnet sind, verteilt sich die Bewegung der Hauptfragment auf mehrere Bruchzonen. Damit ist die Bewegung der einzelnen Bruchzone nur ein Teil der gesamten Bewegung. Da Trümmerfrakturen meist wenig adaptiert sind, fallen die Dehnungen in den einzelnen Bruchzonen nochmals geringer aus. Die offensichtliche Toleranz der Trümmerbrüche gegenüber Instabilität erklärt sich aus den zwei erwähnten Elementen.

Dehnung bei einfachen Brüchen

Die Abb. 5 zeigt, wie ein einfacher Bruch nach flexibler Fixation bei sorgfältiger Wahl der Bruchweite rasch und sicher sekundär heilen kann. Ist der Operateur nicht in der Lage, die Situation hinreichend zu beurteilen, besteht die Möglichkeit einer Osteosynthese mit interfragmentärer Kompression. Eine Regel, dezufolge einfache Brüche grundsätzlich mit absoluter Kompressionsstabilität zu behandeln sind, lässt sich aus den erwähnten Zusammenhängen nicht aufstellen.

Fazit für die Praxis

Die flexible Osteosynthese bietet zwar Vorteile, bedingt aber, dass statt der Beweglichkeit des Bruchs die entscheidende Gewebsdehnung („strain“) beurteilt und eingestellt wird. In diesem Zusammenhang kommt der Bruchspaltweite eine wesentliche Bedeutung zu. Die optimale Osteosynthese setzt die mechanobiologische Induktion der Heilung ein und vermeidet das Überschreiten der Toleranzgrenze der Gewebsdehnung.