Hintergrund und Fragestellung

Die Orthesentherapie bei der progredienten idiopathischen Skoliose ist Standard. Aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen der Vergangenheit sind jedoch konkrete Empfehlungen zu Indikationsstellung und Auswahl geeigneter Korsetttypen teilweise noch recht heterogen. So wurden beispielsweise die früher weit verbreiteten und ganztägig zu tragenden Milwaukee-Orthesen aufgrund unbefriedigender Ergebnisse in den 1990er Jahren von einer nächtlichen Orthesenbehandlung (z. B. „Charleston bending brace“) verdrängt. Im Weiteren Verlauf zeigten jedoch Arbeiten von Howard et al. [4] und Metaanalysen großer Behandlungskollektive [9], dass bei höhergradigen Skoliosewinkeln letztlich nur die Ganztageskorsettbehandlung erfolgreich ist. Dennoch gibt es Gründe für die zeitlich befristete Durchführung einer Korsettbehandlung:

Die Akzeptanz und damit die Compliance einer nur nächtlichen Versorgung ist im Vergleich zur ganztägigen Korsettversorgung eindeutig höher. Climent et al. [2] analysierten 1999 in einer Gruppe von 102 Patienten die Entwicklung der Lebensqualität in Abhängigkeit von verschiedenen Orthesen und Tragezeiten. Sie konnten zeigen, dass sich die untersuchten Korsetttypen und weitere – meist mit der Versorgung verbundene – Einflussfaktoren (Schlafstörung, Schmerz, psychosoziale Faktoren, Körperempfinden und Beweglichkeit, QLPSD-Score) auf die Lebensqualität auswirken. Die nächtliche Orthesenbehandlung mit dem „Charleston night brace“ führte zu signifikant geringeren Einschränkungen und wurde von den Betroffenen besser akzeptiert.

Ein weiterer Grund für „part-time bracing“ kann die Behandlung einer milden Deformität mit Skoliosewinkeln im unteren Grenzbereich sein. Lonstein u. Carlson [6] und Nachemson u. Sahlstrand [7] haben bereits in einer Analyse der von Ihnen beobachteten Spontanverläufe gezeigt, dass es Kinder mit niedrigen Cobb-Winkeln (5–29°) und einer dennoch höheren Progredienzwahrscheinlichkeit (23–25%) gibt. Diese Risikogruppe könnte möglicherweise von einer entsprechend schonenden nächtlichen Orthesenbehandlung profitieren und bei ausbleibender Progression ließen sich die Probleme einer ganztägigen Korsetttherapie umgehen.

Wir haben uns deshalb die Frage gestellt, ob in Kenntnis der negativen Prognose einiger Kinder mit Skoliosewinkeln um 20° das schonende „part-time bracing“ mit einer nächtlich umkrümmenden Orthesenbehandlung eine sinnvolle Behandlungsmaßnahme ist.

Material und Methoden

Von 2002–2007 behandelten wir insgesamt 70 Patienten mit einer isolierten Nachtorthese. Indikationen dafür waren einerseits Skoliosewinkel nach Cobb von 20–25° sowie andererseits auch Skoliosewinkel nach Cobb zwischen 15 und 19°, wenn sich eine entsprechende Progredienz nachweisen ließ.

Aus dieser Kohorte selektionierten wir für die vorliegende Untersuchung insgesamt 24 Patienten mit idiopathischer progredienter Skoliose und erheblicher Wachstumserwartung. Ausgeschlossen wurden neuro- und myopathische Skoliosen, Missbildungsskoliosen, hochthorakale Deformitäten, postoperative Versorgungen sowie 2 Patienten, die während der Korsetteingewöhnung die Behandlung abbrachen. Somit standen für eine klinische und radiologische Verlaufsbeobachtung insgesamt 22 Patienten zur Verfügung.

Die Patienten hatten bei Behandlungsbeginn ein durchschnittliches Alter von 11,9 (4,9–14,7) Jahren. Es wird eine Verlaufsbeobachtung mit Beobachtungszeiträumen von durchschnittlich 24,9 Monaten gezeigt. Bei 13 Patienten (59%) lagen doppelbogige und bei 9 Patienten (41%) einbogige Krümmungen vor. Der durchschnittliche Cobb-Winkel der Primärkrümmung betrug 20,2° (16–25°). Die thorakalen Skoliosen zeigten einschließlich primärer und sekundärer Krümmungen Winkel von 19,8° (16–24°) und lumbale Winkel von 18,4° (15–25°).

Zur Anwendung kam das „Dresdner night-time brace“ (Abb. 1). Dazu wurde ein Gipsmodell des manuell überkorrigierten Körpers im Liegen angefertigt. Die Orthesen wurden neben den Bending-Kräften mit markierten Pelotten und Fenstern versehen.

Abb. 1
figure 1

Patientin im „Dresdner night-time brace“

Die Patienten bekamen zusätzlich Verordnungen zur wöchentlich 1- bis 2fach angeleiteten Krankengymnastik. 4–6 Wochen nach Auslieferung erfolgte eine Röntgenkontrolle zur Bestimmung der Primärkorrektur und Compliancekontrolle.

Neben 6-monatigen klinischen Kontrollen erfolgten regelmäßige radiologische Befundungen: An Wirbelsäulenganzaufnahmen wurden die Skoliosewinkel nach Cobb vor Therapiebeginn, nach 6 Wochen in der Orthese (Primärkorrektur), nach 6 Monaten ohne Orthese im Stehen sowie jährlich im Verlauf bestimmt. Des Weiteren wurde das Trageverhalten der Orthese erfasst. Dabei wurden die Korsettgebrauchsspuren, die Abdruckstellen der Orthese auf der Haut und die Angaben von Eltern, Arzt und Techniker notiert. Alle Daten wurden in einer Exel-Tabelle dokumentiert und bezüglich absoluter und Prozentwerte ausgewertet.

Der Behandlungseffekt wurde entsprechend üblicher Empfehlungen aus der Literatur anhand des Verlaufs von Cobb-Winkeln in 3 Gruppen klassifiziert:

  • Gruppe 1: Verbesserung um >5° gegenüber dem Anfangswinkel,

  • Gruppe 2: konstanter Verlauf im Bereich ±5° gegenüber dem Ausgangswinkel,

  • Gruppe 3: Verschlechterung um >5° gegenüber dem Ausgangswinkel.

Die in Gruppe 1 und 2 klassifizierten Patienten wurden zusammengefasst, da hier das Behandlungsziel (Winkel wird besser oder bleibt gleich zum Ausgangsbefund) erreicht ist. Ihr Anteil am insgesamt behandelten Kollektiv bildet die sog. Erfolgsquote “. Bei Patienten der Gruppe 3 – also einer beobachteten Verschlechterung – erfolgte ein Therapiewechsel hin zum „full-time bracing“.

Ergebnisse

Die Primärkorrektur der Ausgangswinkel im Korsett – gemessen an einer Aufnahme im Liegen nach 6 Wochen – lag bei einer Quote von 82,2% (71,4% bei Sekundärkrümmung). Eine 100%ige Korrektur der Primärkrümmung wurde z. T. bewusst vermieden, um in jedem Fall eine sichere Prävention von progredienten Sekundärkrümmungen zu gewährleisten. Die im weiteren Verlauf gemessenen Durchschnittswinkel zeigten 6 Monate nach Therapiebeginn (Aufnahme im Stehen ohne Orthese) eine Verbesserung des Ausgangsbefundes von 20,2° auf 15,8° für Primärkrümmungen und von 17,5° auf 15,6° für Sekundärkrümmungen. Damit konnten die Primärkrümmungen um 21,9% und die sekundären um 10% verbessert werden. Die lumbalen Korrekturen der Krümmung im Stehen ohne Orthese waren nur marginal besser als die thorakalen (15° vs. 16,4°). Es wurde keine Operationsindikation gestellt. Abb. 2 zeigt den radiologischen Verlauf einer Patientin mit ehemals erheblicher Progredienz.

Abb. 2
figure 2

Patientin mit Thorakalskoliose bei 10° Progredienz vor der Behandlung (links), Mitte Primärkorrektur in Orthese, rechts Verlaufskontrolle nach 24 Monaten ohne Orthese

Bei Behandlungsabschluss konnten 31,8% der Patientengruppe 1 (Verbesserung >5°) und 54,6% der Patientengruppe 2 (konstanter Befund ±5°) zugeordnet werden. Damit liegt die Erfolgsquote der nächtlichen Orthesentherapie bislang bei insgesamt 86,4% konstant gebliebener oder verbesserter Patienten. In 3 Fällen wurde die Orthesenbehandlung bei Erreichung einstelliger Winkelwerte ausgesetzt. Davon hatten 2 Patienten vor der Therapie einen Winkelwert >20°. Die Patienten werden kontrolliert und bis Wachstumsende mitgeführt. 13,6% entfielen auf Gruppe 3 (Verschlechterung von >5°). In dieser Gruppe musste bei 3 Patienten auf eine Full-time-Behandlung gewechselt werden.

Mit Ausnahme der oben genannten 2 Patienten, die aufgrund fehlender Compliance nicht in die Untersuchung eingeschlossen werden konnten, beobachteten wir keine Akzeptanzprobleme. Sämtliche Kinder und Jugendlichen berichteten über eine Umsetzung der empfohlenen nächtlichen Tragezeit, die sich auch anhand entsprechender Gebrauchsspuren (Druckstellen) verifizieren ließ.

Diskussion

Bisher wurden sehr unterschiedliche und z. T. auch schlechte Ergebnisse einer Behandlung mit Nachtorthesen publiziert. Wenn man die Daten genauer analysiert, müssen zwei unterschiedliche Bewertungsstrategien unterschieden werden, nämlich ein direkter Vergleich von Ganztages- und Nachtorthesen sowie die Ergebnisauswertung isolierter Nachtorthesenversorgung.

Vergleichende Untersuchungen von Ganztages- und Nachtorthesen hatten zumeist das Ziel, den Behandlungseffekt in möglichst ähnlichen Patientengruppen (identisches Winkel- und Altersprofil bei höhergradigen Skoliosen) zu bewerten. Unter dieser Voraussetzung muss naturgemäß eine Part-time-Therapie schlechter abschneiden als die Ganztagesbehandlung. So zeigten beispielsweise Howard et al. [4] ein schlechteres Abschneiden der Charleston-Nachtorthese gegenüber der ganztägig getragenen TLSO (thorakolumbale Skolioseorthese) mit einer Rate von 33% noncomplianten Patienten. Bei insgesamt 292 mit einem Nachtkorsett behandelten Patienten war die Hauptkrümmung zu 52% bis 6° und zu 28% bis 10° progredient, bei 31% der Patienten war eine sekundäre Operation erforderlich. Unter „full-time bracing“ mit TLSO zeigte sich dagegen nur eine Progredienz in 29% bis 6° und 14% bis 10°; insgesamt mussten nur 18% der Patienten operiert werden. Die schlechten Ergebnisse der Nachtorthesenbehandlung ergeben sich jedoch zumindest teilweise aus der Indikationsstellung bei einem Kollektiv mit relativ hohen Ausgangswinkeln: In 54 Fällen waren die Winkel zu Behandlungsbeginn >40° und im Mittel 35° (19–60°).

Katz et al. [5] verglichen Behandlungsgruppen mit ähnlich hohen Cobb-Winkeln (25–45°), analysierten jedoch zusätzlich die Ergebnisse in einzelnen Winkelgruppen. Dabei zeigte sich erwartungsgemäß, dass bei höhergradigen Deformitäten das Charleston-Nachtkorsett dem Boston-Ganztageskorsett unterlegen ist. In der Gruppe mit Ausgangswinkeln von 36–45° wiesen 83% der Nachtorthesenpatienten gegenüber 43% der Ganztagsbehandelten eine Progredienz >5° auf. Aus der Untersuchung wird die richtige Schlussfolgerung gezogen, differenziert vorzugehen und schwere Skoliosen nicht mit einer Nachtorthese zu behandeln.

Werden vergleichende Untersuchungen an Patientengruppen mit niedrigeren Ausgangswinkeln betrachtet, schneidet die Behandlung mit dem Nachtkorsett entsprechend besser ab: Gepstein et al. [3] zeigen an 122 Patienten mit Anfangswinkeln <25° eine Erfolgsquote von 92,6% bei TLSO und 91,8% bei Charleston-Nachtorthesen. Hier wurden nur Patienten mit einer Tragezeiteinhaltung von 80% eingeschlossen.

Yrjönen et al. [11] verglichen erst vor kurzem die Providence-Nachtorthese mit den Ergebnissen der ganztägig getragenen Boston-Orthese. Die Auswertung erfolgte compliancebereinigt, es wurden nur Mädchen untersucht und die Gruppe der Ausgangswinkel von 20–25° besonders beleuchtet. Der mittlere Anfangswinkel lag bei 28,2°. Die Nachtorthesen zeigten 92% Primärkorrektur, die Boston-Orthesen 50%. Die durchschnittlich in beiden Gruppen bei Behandlungsabschluss erzielten Cobb-Winkel unterschieden sich nicht. Die Autoren folgerten, dass es mit Nachtorthesen durchaus gelingen kann, das angestrebte Behandlungsziel ohne die negativen Effekte einer ganztägigen Korsettbehandlung auf die Lebensqualität zu erreichen. Besondere Bedeutung messen sie einer entsprechend hohen Compliance bei, die bei allen Nachtorthesenpatienten erhalten blieb. Diesen Effekt konnten wir in unserer Arbeit mit >90% Compliance ebenfalls nachvollziehen.

Betrachtet man diejenigen Untersuchungen, in denen die Effekte einer isolierten Nachtorthesentherapie analysiert werden, zeigt sich ebenfalls ein Zusammenhang zwischen Schweregrad der Deformität und Behandlungsergebnis. So konnten Price et al. [8] in ihrer Untersuchung an 98 Patienten nachweisen, dass sich bei Anfangswinkeln zwischen 25–49° mit einer Charleston-Nachtorthese zwar in zwei Drittel der Fälle eine Verbesserung oder ein gleich bleibender Befund erreichen lässt, aber in 20% auch eine Verschlechterung um >5° zu beobachten war. Bei alleiniger Betrachtung der Ausgangswinkel von 25–29° beträgt die Verschlechterungsrate dagegen nur 15%. Bei C-förmigen Lumbalskoliosen konnte sogar eine Erfolgsquote von 100% erreicht werden.

Trivedi et al. [10] berichteten in einem Kollektiv mit relativ hohen Anfangswinkeln von 25–40° nach Anwendung der Charleston-Orthese eine Erfolgsrate von 60%. Sie wechselten bei den übrigen 40% auf eine Ganztagestherapie.

D‘Amato et al. [1] untersuchten 102 Mädchen mit Providence-Nachtorthese. Hier wurden bei 20–42° Ausgangswinkelwerten (im Mittel 27°) auch incompliante Patienten eingeschlossen. Bei einer Primärkorrektur von 96% kam es zu einer Erfolgsrate von 74%. Es wurden in dieser Studie die Ergebnisse weiterhin nach Lokalisation ausgewertet. Die Autoren zeigten, dass bei lumbalen und thorakolumbalen Krümmungen in etwa 95% und bei thorakalen Krümmungen in 63% der Fälle das Behandlungsziel erreichbar war. Bei Anfangswinkeln von 20–25° betrug die Erfolgsquote 81° und verschlechterte sich bei Winkeln von 25–34° auf 71% bzw. bei Winkeln von 35–42° auf 63%. Damit konnten die Autoren eindrücklich belegen, dass der Erfolg einer Nachtorthesenbehandlung mit der Schwere der Skoliose bei Behandlungsbeginn korreliert (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Erfolgsquote der Nachtorthesenbehandlung: Insgesamt 86,4% der Patienten zeigen nach Behandlungsabschluss entweder eine Winkelverbesserung oder eine ausbleibende Progression und haben damit das Behandlungsziel erreicht

Fasst man nun die bisher publizierten Daten zur Nachtorthesentherapie zusammen, können eindeutige Erfolgskriterien für eine entsprechende Behandlung identifiziert werden. Dazu gehört eine nachgewiesenermaßen hohe Primärkorrektur durch die Orthese, eine möglichst kaudale Krümmungslokalisation, ein niedriger Anfangswinkel nach Cobb und die gute Compliance. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass das Behandlungsziel mit einer Part-time-Orthese erreicht wird.

Im Rahmen unserer Untersuchung haben wir diese Beobachtungen bestätigen können. In einer relativ jungen Patientengruppe mit hohem Progredienzrisiko ließ sich bei relativ geringen Ausgangswinkeln an optimal behandelbaren Wirbelsäulenabschnitten der mittleren und unteren BWS bis LWS sowie einer Primärkorrektur von 82,2% tatsächlich ein optimales Ergebnis erzielen. Das positive Ergebnis mit einer Erfolgsquote von 86,4% verbesserten oder konstant gebliebenen Befunden im Beobachtungszeitraum ist jedoch nur durch eine gezielte Patientenselektion erreichbar. Kinder und Jugendliche mit Anfangswinkeln >25° oder fehlender Compliance sollten nicht mit Nachtorthesen behandelt werden. Auch empfiehlt es sich, bei nicht ausreichender Primärkorrektur nach 6-wöchiger Therapie das Behandlungskonzept zu wechseln.

Zusammengefasst sind wir der Meinung, dass eine Gruppe von Patienten mit niedrigen Skoliosewinkeln um 20° bei bestehendem Progredienzrisiko frühzeitig einer Nachtorthesentherapie zugeführt werden sollte. Unter Beachtung der oben genannten Voraussetzungen lässt sich mit einer täglichen Tragezeit von nur 8–10 h und damit meist verbundener Compliance in der Regel ein sehr gutes Ergebnis erzielen. Die eigenen Ergebnisse sind zwar Beobachtungen des derzeit noch kurzfristigen Verlaufs (im Mittel 24,9 Monate) und müssen nach längerer Untersuchungszeit nochmals kontrolliert werden, doch sind sie gestützt durch fundierte Daten aus der Literatur.

Fazit für die Praxis

Es gibt in der Skoliosetherapie eine kleine Patientengruppe mit Skoliosewinkeln nach Cobb von 15–25°, die bei hohem Progredienzrisiko, lumbaler oder tiefthorakaler Krümmungslage, effizienter Primärkorrektur und guter Compliance von einer Nachtorthese profitiert.