Psychosoziale Anpassung nach einer Amputation

Die psychischen Aspekte in der Rehabilitation nach einem Gliedmaßenverlust der unteren Extremität werden im Vergleich zu physischen Maßnahmen stark vernachlässigt.

Spätestens zum Zeitpunkt der Prothesenanpassung wird der Patient mit der unwiderruflichen Tatsache, dass er seine Gliedmaße verloren hat, konfrontiert. Viele Patienten erhoffen sich von der Prothese, dass sie eine nahezu gleiche Mobilität und Beweglichkeit erreichen wie vor der Amputation. Einige Betroffenen erleben den ersten Kontakt mit ihrer Prothese als extrem schockierend und enttäuschend [4]. Reaktionen wie Ängste, Depressionen, Kummer, Schuldgefühle und Schuldzuweisungen an andere Personen [3] können auftreten.

Die Ängste der Betroffenen beschäftigen sich u. a. damit, wichtige Beziehungen zu verlieren und die bestehenden Beziehungsmuster zu verändern [12]. Depressionen treten bei den meisten Patienten als Reaktion auf den Verlust ihrer Gliedmaße passager als akute Belastungsreaktion auf, häufig verbunden mit Selbstwert- und Identitätsproblemen [12]. Es wird über eine Depressionsrate bei Amputierten der unteren Extremität von 21–35% berichtet [11, 14].

Eine positive Haltung, optimistische Disposition, wahrgenommene Kontrolle über die eigene Behinderung und ein daraus resultierendes höheres Wohlergehen führen zu geringen Depressionsraten [1]. Geringer sozialer Rückhalt [17], wahrgenommenes soziales Stigma und Mobilitätsbeeinträchtigungen [15] sind Prädiktoren für das Auftreten von Depressionen [17, 18]. Zusätzlich beeinflussen Copingstrategien den Anpassungsvorgang an eine Gliedmaßenamputation [9]. Dabei steht aktives Problemlösen assoziiert mit ansteigenden Anpassungsleveln und steigender Behinderungsakzeptanz mit geringen Depressionssymptomen in Zusammenhang. Emotionsfokussierung, kognitive Distanzierung und externalisierte Feindseligkeit wirken sich negativ auf die Entwicklung von Depressionen und Ängsten aus [14]. Katastrophisieren, sowie passives Hoffen und Beten [8] können eine schwere soziale Anpassung zur Folge haben.

Neben diesen Copingstrategien ist die Akzeptanz der Prothese ein wichtiger Einflussfaktor auf die Entwicklung von psychischen Störungen: eine geringe Beweglichkeit und Gefühle der ästhetischen Beeinträchtigung gehen mit depressiver Verstimmung, Lebensunzufriedenheit und geringer sozialer Aktivität einher [7]. Einige Betroffenen erleben den ersten Kontakt mit der Prothese als extrem schockierend und enttäuschend [4].

Die wichtigste Funktion einer Prothese besteht darin, dem Patienten zu ermöglichen, wieder zu gehen [13]. Von großer Wichtigkeit ist die Passfähigkeit der Prothese an den Stumpf [13] und die Prothesenzuverlässigkeit [4]. Viele Menschen fürchten sich davor, dass ihr künstliches Bein abfällt oder zerbricht und sie somit in sehr unangenehme Situationen geraten. Ein prothesenspezifisches Problem ist das Geräusch, welches gelegentlich besteht [4]. Es wird über einen Zusammenhang zwischen funktionaler und ästhetischer Zufriedenheit mit der Prothese und der sozialen Anpassung berichtet [5].

Da im deutschsprachigen Raum bislang keine Prävalenzzahlen psychischer Störungen als Folge einer Amputation vorliegen, sollte in diesem interdisziplinären Projekt folgende Fragen untersucht werden:

  • Wie häufig treten Angst und Depression nach einer Amputation der unteren Extremität auf?

  • Welche Bedeutung hat die Akzeptanz der Prothese für das Auftreten von Angst und Depression nach einer Amputation der unteren Extremität?

Methode

In dem Zeitraum zwischen April 2002 und September 2003 wurden 103 stationäre wie auch ambulante Patienten mit einer Amputation der unteren Extremität und einer Prothesen- oder Orthesenversorgung in der Klinik und Poliklinik für Technische Orthopädie des Universitätsklinikums Münster um die Teilnahme an dieser Untersuchung gebeten. 77 Patienten nahmen an der Untersuchung teil (Teilnahmequote 74,8%), wobei 2 Fragebögen aufgrund fehlender Vollständigkeit nicht ausgewertet werden konnten.

Folgende Selbstbeurteilungsfragebögen wurden eingesetzt:

  • „Hospital Anxiety and Depression Scale“ (HADS/D) [8],

  • „Trinity Amputation and Experience Scale“ (TAPES) [5] und

  • Indikatoren des Rehabilitationsstatus (IRES-Min) [6].

Die HADS/D dient der Erfassung von Angst und Depressivität in der somatischen Medizin und ist speziell für den Einsatz in nicht-psychiatrischen Krankenhäusern konzipiert worden. Sie besteht aus 14 Items, 7 Items beziehen sich auf den Symptombereich Angst und 7 auf den Symptombereich Depression. Pro Subskala ist ein Wertebereich von 0–21 zu erreichen. Ein Angstwert ab 11 Punkten und ein Depressionswert ab 9 Punkten gelten als auffällig [8, 10]. Diese Cut-off-Werte sind nicht diagnoseweisend zu verstehen, sondern dienen lediglich als Orientierungshilfe.

Die TAPES ist speziell auf den Gliedmaßenverlust der unteren Extremität ausgerichtet und beschäftigt sich mit der Anpassungsfähigkeit des Amputierten an seine Prothese selbst und an die sozialen Aspekte. Die Skala besteht aus 37 Items, die in die Dimensionen „psychosoziale Anpassung“ (TAPES 1), „Aktivitätseinschränkung“ (TAPES 2) und „Zufriedenheit mit der Prothese“ (TAPES 3) unterteilt sind. Diese 3 Faktoren lassen sich in weitere Subskalen aufteilen (Tab. 1). In dieser Untersuchung wurde die deutsche Version der TAPES erfolgreich validiert.

Tab. 1 Aufbau TAPES

Der IRES-Min bezieht sich speziell auf die Besonderheiten des Rehabilitationswesens in Deutschland und ist krankheitsunabhängig angelegt. Es wird der somatische, funktionale und psychosoziale Status des Betroffenen untersucht. In der empirischen Analyse werden lediglich die 2 Items zur Schmerzwahrnehmung (Schmerzhäufigkeit, Schmerzstärke) verwandt.

Ergebnisse

Studienkollektiv

Es nahmen 48 Männer (64%) und 27 Frauen (36%) an der Untersuchung teil. Sie waren im Durchschnitt 51,8 Jahre alt [Standardabweichung (SD)=16,1, Range=18–80 Jahre] und trugen ihre Prothese seit 12 Jahren (SD=12,9; Range=1 Monat–58 Jahre). Sie gaben an, die Prothese 11,3 h/Tag zu tragen (SD=4,36; Range=1–20 h). Die häufigste Amputationshöhe stellte mit 44% (n=33) die Unterschenkelamputation dar. 37,3% (n=28) trugen eine Oberschenkel-, 9,3% (n=7) eine Knieexartikulationsprothese, weitere 9,3% (n=7) eine andere Prothesenform (z. B. Beckenkorbprothese Abb. 1). Vier Patienten waren beidseits amputiert.

Abb. 1
figure 1

Beckenkorbprothese

Das Trauma stellte mit 34,7% (n=26) die häufigste Amputationsursache dar. 26,7% (n=20) der Untersuchungsteilnehmer haben ihre Extremität aufgrund einer peripheren vaskulären Störung verloren, 13,3% (n=10) durch eine maligne Erkrankung, 8% (n=6) als Folge eines Diabetes mellitus und 17,3% (n=13) aufgrund anderer Ursachen (z. B. angeborene Fehlbildungen, Osteomyelitis). Als zusätzliche Beschwerden gaben 58,7% (n=44) der Untersuchten Stumpfschmerzen, 73,3% (n=55) Phantomschmerzen und 38,7% (n=29) andere medizinische Beschwerden (z. B. Rückenschmerzen, Kopfschmerzen) an.

Angst und Depression

In dieser Studie wurden bei 27,4% (n=20) der Teilnehmer erhöhte Depressionswerte und bei 24,7% (n=18) erhöhte Angstwerte festgestellt. 18,3% (n=13) des Studienkollektivs leiden sowohl unter Angstzuständen als auch unter Depressionen.

Das Alter des Betroffenen steht sowohl mit den Angst- (r=0,24; p=0,041) wie den Depressionswerten (r=0,39; p=0,001) in einem positiven korrelativem Zusammenhang. Signifikante Geschlechtsunterschiede beim Auftreten von Ängsten (χ2=0,54; df=1; p=0,82) und/oder Depressionen (χ2=0,11; df=1; p=0,74) fanden sich nicht.

Schmerzwahrnehmung

33,3% der Untersuchungsteilnehmer leiden fast täglich unter Schmerzen. Lediglich 13,9% werden so gut wie nie von Schmerzen geplagt. Annähernd 64% der Probanden leiden mindestens ein paar Mal im Monat oder sogar häufiger unter Schmerzen. 45,5% gaben die Schmerzstärke als störend, aber noch zu ertragen an. Nur 9,1% der Teilnehmer sind schmerzfrei. Schmerzhäufigkeit und Schmerzintensität stehen in einem signifikanten Zusammenhang zu erhöhten Angst- und Depressionswerten (Tab. 2).

Tab. 2 IRES-Min – Schmerzwahrnehmung und psychische Symptomatik

Prothesenakzeptanz

Die Analyse der TAPES verdeutlicht, dass eine geringe Prothesenakzeptanz als Prädiktor für psychische Störungen, wie Angst und Depression, gilt. Es besteht ein Zusammenhang zwischen einer geringen generellen psychosozialen Prothesenakzeptanz, großen psychosozialen Einschränkungen und erhöhten HADS-Depressionswerten. Weiterhin begünstigen eine große Einschränkung in sportlichen, sozialen und funktionalen Aktivitäten, sowie eine geringe Zufriedenheit mit funktionalen Aspekten der Prothese die Entwicklung einer depressiven Störung (siehe Tab. 3).

Tab. 3 Prothesenakzeptanz und psychische Symptomatik

Erhöhte Angstwerte korrelieren mit allen 3 Subskalen zur psychosozialen Anpassung. Eine starke Aktivitätseinschränkung im sportlichen, sozialen und funktionalen Bereich begünstigt das Auftreten einer Angsterkrankung ebenso wie eine große Unzufriedenheit mit funktionalen Aspekten der Prothese, beispielsweise Funktionsfähigkeit oder Passform (Tab. 3).

Prädiktoren für die Entwicklung von Angst und Depressionen

Welche Variablen den größten Einfluss auf das Auftreten von Angst und Depression nach einer Amputation der unteren Extremität hat, lässt sich mit einer Regressionsanalyse prüfen. Es wurden alle Variablen, die in einem signifikanten Zusammenhang zur HADS/D stehen, in die Analyse aufgenommen (s. oben). Dabei wurden mit der Methode „Stepwise“ diejenigen Variablen ausgewählt, die den höchsten Einfluss aufwiesen.

Großen Einfluss auf erhöhte Angstwerte nehmen „generelle Aspekte der psychosozialen Anpassung“ (z. B. „Ich habe mich darauf eingestellt, eine Prothese zu tragen“) mit β=-0,41 (p=0,00), Schmerzhäufigkeit (IRES-MIN) mit β=0,27 (p=0,018) und „Einschränkungen in sozialen Aktivitäten“ (z. B. Freundschaften zu erhalten) mit β=0,228 (p=0,048). Insgesamt konnten 49,1% der Gesamtvarianz aufgeklärt werden. Davon erklärt die Variable „generelle Aspekte der psychosozialen Anpassung“ 37,1% der Varianz.

Den größten Einfluss auf erhöhte Depressionswerte nimmt, ebenfalls wie auf erhöhte Angstwerte, die TAPES-Subskala „generelle Aspekte der psychosozialen Anpassung“ (β=−0,49; p=0,00). Weiterhin beeinflussen „einschränkende Aspekte der psychosozialen Anpassung“ (z. B. „Eine Prothese zu brauchen, begrenzt die Menge an Arbeit, die ich erledigen kann“) mit β=0,299 (p=0,001), die soziodemographische Variable Alter mit β=0,241 (p=0,005) und die Schmerzstärke (IRES-MIN) mit β=0,187 (p=0,038) das Auftreten erhöhter Depressionsraten. Ingesamt konnten 66,6% der Gesamtvarianz erklärt werden, allein 44,4% durch die Variable „generelle Aspekte der psychosozialen Anpassung“.

Diskussion

In diesem Untersuchungskollektiv wiesen 27% erhöhte Depressions- und 25% erhöhte Angstwerte auf. 18,3% leiden sowohl unter Ängsten als auch unter Depressionen. Da in der Normalbevölkerung eine relative Häufigkeit von 15,8% (Depression) bzw. 5,9% (Angst) zu verzeichnen ist [10], wird deutlich, wie häufig die Akzeptanz der Amputation und ihrer Folgen zu psychischen Folgestörungen führt.

In der Literatur wird über ähnliche Prävalenzraten depressiver Auffälligkeiten bei Amputierten der unteren Extremität berichtet. Diese variieren zwischen 21–35% [11, 16]. Zu beachten ist, dass unterschiedliche Erfassungsinstrumente eingesetzt wurden und ein direkter Vergleich der prozentualen Angaben nicht möglich ist.

Wie in der Normalbevölkerung fanden wir mit zunehmendem Alter ebenfalls ein Anstieg von Angst und Depression [10]. Andere Studien hingegen berichten über einen Anstieg von Angst und Depressionen bei jungen Patienten [14] bzw. über weniger häufige depressive und psychische Symptome bei älteren Betroffenen [2]. Es bleibt zu untersuchen, wie sich die Depressions- bzw. Angstraten im Laufe der Jahre nach einer Amputation der unteren Gliedmaße verändern und ob hohe Raten vermehrt in einem kurzen Zeitabstand, beispielsweise 1–2 Jahre nach Amputation oder erst nach 10 Jahren, auftreten.

Die Regressionsanalyse verdeutlicht, welchen großen Stellenwert die generelle psychosoziale Anpassung bezüglich Angst und Depression einnimmt. Es ist nachvollziehbar, dass eine gute generelle psychosoziale Anpassung der Entstehung von Angst und Depression entgegen wirkt. Am Beispiel des Items „Ich habe mich darauf eingestellt eine Prothese zu tragen“, wird deutlich, wie grundlegend und bedeutungsvoll dieser Aspekt erscheint. Akzeptiert ein Amputierter seine Prothese nicht, wird er sie nur selten tragen. Daraus resultieren Einschränkungen in jeglichen Situationen und Tätigkeiten, bezüglich physischer und psychischer Aspekte. Die Entwicklung von Angst und Depression wird begünstigt. Starke und häufige Schmerzen führen zu Beeinträchtigungen und Aktivitätseinschränkungen, die sich auf das psychosoziale Leben auswirken.

Aufgrund der erhöhten Prävalenzrate psychischer Störungen bei Amputierten der unteren Gliedmaße ist eine Psychodiagnostik im Rahmen der Rehabilitation zwingend notwendig. Zu berücksichtigen ist, dass jeder Mensch unterschiedlich auf dieses schwerwiegende Ereignis reagiert und somit stets individuell auf jeden Einzelnen eingegangen werden muss. Neben Einzelgesprächen zwischen Patient und Therapeut in ruhiger Atmosphäre sollten auch die Möglichkeiten von Gruppentherapien und Selbsthilfegruppen angesprochen werden. Da die Amputation nicht nur das Leben des Betroffenen selbst, sondern auch das seines familiären Umfeldes betrifft, ist die Einbeziehung von Familienmitgliedern und Freunden häufig sinnvoll und notwendig.

Ziel der psychischen Behandlung ist es, eine möglichst gute psychosoziale Anpassung und Wiedereingliederung in das bestehende soziale Umfeld zu erreichen. Dieser Prozess kann sich als sehr langwierig darstellen.

Fazit für die Praxis

Anhand dieser Untersuchung wird deutlich, dass eine Vielzahl von Patienten im Anschluss an einen Gliedmaßenverlust der unteren Extremität unter psychosozialen Anpassungsschwierigkeiten leiden. Die Angst- und Depressionsraten sind im Vergleich zur Normalbevölkerung deutlich erhöht. Leider kommt dem psychosozialen Aspekt der Rehabilitation eine untergeordnete Rolle zu. Um jedoch ein zufrieden stellendes Rehabilitationsergebnis zu erreichen, muss eine psychische Betreuung des Patienten gewährleistet sein.

Die frühzeitige und regelmäßige psychische Behandlung kann der Entstehung von psychosozialen Auffälligkeiten entgegen wirken und sich somit positiv auf den gesamten Rehabilitations- und Wiedereingliederungsprozess auswirken. Somit sollte die psychosomatisch-psychotherapeutische Abklärung möglicher psychischer Erkrankungen durch den psychosomatisch Erfahrenen (psychologischer oder ärztlicher Psychotherapie) und eine darauf aufbauende differentielle Therapieindikation als fester Bestandteil in jeden Rehabilitationsprozess eingegliedert werden.