Die Schmerzforschung wurde in den vergangenen Jahren weltweit stark belebt. Wie nie zuvor wurden auch die klinischen und therapeutischen Konzepte zum Schmerz durch die Forschung geprägt. Derzeit entwickelt sich eine Algesiologie als fachverbindendes Gebiet, das sich, noch zögerlich, auch an den Universitäten etabliert.

Ein Brennpunkt der Forschung ist die Frage, was Schmerzen chronisch macht. Der vordergründige Hinweis, dass chronische Schmerzen auf chronischen Krankheiten beruhen, erklärt den Schmerz nicht, denn mittlerweile ist aus sorgfältigen diagnostischen Abklärungen bekannt, dass zwischen der Pathologie einer Krankheit und dem Schmerz keine eindeutige und verlässliche Beziehung besteht: der diagnostizierte Bandscheibenvorfall, die Arthrose, die manifeste Osteoporose können schmerzfrei bis extrem schmerzhaft sein, andererseits fehlt bei vielen Patienten mit schweren Rückenschmerzen oder Fibromyalgie eine greifbare Pathologie, die chronischen Schmerzen werden dann als „unspezifisch“ klassifiziert.

Die Antwort der Forschung zeigt ein Konglomerat von Faktoren auf vielen Ebenen, die das Schmerzerlebnis bestimmen, sie reichen von Fehlregulationen des Immunsystems über Plastizität des nozizeptiven Nervensystems bis zu psychologischen Lern- und Verstärkungsmechanismen. Zusammen bilden sie schließlich ein nachhaltiges Engramm, eine „Gedächtnisspur“ des Schmerzes. Nachfolgend sollen neuere pathophysiologische Hintergründe im Nervensystem bei der Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen beleuchtet werden.

Erregung und Sensibilisierung von Nozizeptoren

Nozizeptoren, Sensoren des (Früh)warnsystems unseres Körpers, sind in fast allen Organen als freie Nervenendigungen vorhanden. Sie stellen mit Abstand die zahlenmäßig stärkste Gruppe von Afferenzen des somatosensorischen Systems dar—offensichtlich war in der Evolution ein gut ausgestattetes nozizeptives System ein Selektionsvorteil.

Nozizeptoren sprechen normalerweise erst auf starke mechanische oder thermische Reize an, z. B. Nozizeptoren der Gelenkkapsel auf Überbeanspruchung eines Gelenks, Muskelnozizeptoren auf Kontraktion des Muskels unter Ischämie, Hautnozizeptoren auf Temperaturen ab etwa 42°C. Mit Beendigung eines solchen physikalischen Schadensreizes hört auch die Erregung der Nozizeptoren auf, der wahrgenommene akute Schmerz ist beendet. Bei chronischen Schmerzen dagegen wirken fast immer chemische Mediatoren des Nerven- und/oder des Immunsystems (als „Schmerzmediatoren“ subsummiert) mit, die zu langdauernden und übermäßigen Erregungen führen.

Nachhaltige Sensibilisierung der Nozizeptoren durch Entzündungsmediatoren

Bei vielen klinischen Schmerzen sind Entzündungsvorgänge unterschiedlicher Genese beteiligt, z. B. bei entzündlichen Gelenkerkrankungen. Dabei werden endogene Schmerz- und Entzündungsmediatoren verstärkt gebildet oder freigesetzt. Eine Quelle sind Makrophagen, die z. B. über Lymphokine aus T-Lymphozyten aktiviert werden und vermehrt Prostaglandine, Leukotriene und Zytokine bilden. Diese vermitteln die Entzündungsreaktion an andere Zellen (Endothel, Fibroblasten) weiter und erhöhen nachhaltig die Erregbarkeit der Nozizeptoren: wir sprechen von einer Sensibilisierung.

Durch Zusammenwirken von 2 Entzündungsmediatoren, z. B. Prostaglandin E2 und Bradykinin, kommt es zu einer überadditiven Potenzierung der Erregbarkeit der Nozizeptoren. Solche kooperativen Vorgänge sind bei entzündlichen Erkrankungen die Regel, hier sind nämlich immer eine Vielzahl von neuro- und vasoaktiven Mediatoren beteiligt.

Bei einer experimentellen Gelenkentzündung sprechen die Nozizeptoren des Gelenks infolge der Sensibilisierung bereits auf geringe Gelenkbewegungen an (Abb. 1) und werden schließlich sogar spontan aktiv [11]. Etwa 30% der Nozizeptoren sind vor Beginn der Entzündung völlig unerregbar („schlafende Nozizeptoren“), sie werden erst im Verlauf der Entzündung aktiviert. Diese Sensibilisierungsmechanismen bewirken eine enorme Zunahme der neuronalen Aktivität der Nozizeptoren, mit der die Schmerzen währen akuter Gelenkaffektionen erklärt werden können.

Abb. 1
figure 1

Erregung und Sensibilisierung von Nozizeptoren des Gelenks. In den Gelenkstrukturen, v. a. der Gelenkkapsel, befinden sich Nozizeptoren, die normalerweise erst im unphysiologischen und potentiell schädigenden Bewegungsbereich des Gelenks entladen (obere Registrierung). Im entzündeten Gelenk entladen die Nozizeptoren auch bei physiologischen Bewegungen oder sogar ohne Bewegung (untere Registrierung). Etwa 30% der Nozizeptoren sind normalerweise stumm („schlafende Nozizeptoren“) und werden erst bei Entzündung aktiviert. (Schematisierte Darstellung nach Ergebnissen von Schaible u. Schmidt; [11])

Molekularbiologie der Nozizeptoren

An der Membran der Nozizeptoren konnten für fast alle Schmerzmediatoren pharmakologische Rezeptoren (Empfängermoleküle) identifiziert werden [1], also Proteinkomplexe, die eine räumlich zu dem Mediatormolekül passende Struktur enthalten. Beispiele sind in Abb. 2 veranschaulicht. Hier sind auch die bei Erregungsvorgängen mitwirkenden Ionenkanäle für Na+-, K+- und Ca2+-Ionen gezeigt. Rezeptoren und Kanäle bestehen aus Proteinkomplexen mit mehreren Untereinheiten, die in die Zellmembran der Nervenendigung eingebaut sind und in den Intra- und Extrazellulärraum hinausragen. Sie werden im Zellkörper synthetisiert und erreichen über den axonalen Transport die nozizeptive Nervenendigung.

Abb. 2
figure 2

Biochemische Rezeptoren und Ionenkanäle am Nozizeptor. Für Schmerzmediatoren gibt es an der Membran des Nozizeptors spezifische Rezeptormoleküle, an die die Mediatormoleküle andocken und dadurch den Nozizeptor erregen oder sensibilisieren. Ionenkanäle, ebenfalls aus Proteinen aufgebaut, wirken am Erregungsvorgang mit. Die Rezeptoren sind an intrazelluläre biochemische Signalkaskaden angekoppelt, die z. B. durch Phosphorylierung der Rezeptorproteine diese in ihrer Empfindlichkeit modulieren und dadurch zur Sensibilisierung der Nozizeptoren für einzelne Mediatoren führen können. Neurotrophine (Wachstumsfaktoren, z. B. NGF, Nerve Growth Factor) werden über den Trk-Rezeptor aufgenommen und zum Zellkern transportiert, wo sie die Gentranskription steuern und die Proteinsynthese bedarfsgerecht umstellen können. (Mod. aus [17])

Binden sich passende Liganden an diese Rezeptoren, z. B. Bradykinin an den BK2-Rezeptor, dann kommt es zur Erregung des Nozizeptors—dies ist ein grundlegender biochemischer Mechanismus der Schmerzauslösung [6]. Die Rezeptoren sind entweder mit einem Ionenkanal assoziiert, wie z. B. der Vanilloidrezeptor VR1, oder sie sind über Signalproteine (G-Proteine) an Ionenkanäle und intrazelluläre biochemische Mechanismen angekoppelt (in Abb. 2 durch Doppelpfeile angedeutet). Diese intrazellulären Signalkaskaden sind v. a. an der Sensibilisierung der Nozizeptoren beteiligt.

Sensibilisierung der Nozizeptoren und Hyperalgesie

Für viele Schmerzsyndrome ist eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit (Hyperalgesie) charakteristisch, die durch eine Sensibilisierung der Nozizeptoren verursacht wird [13]. Ein Beispiel für eine vorübergehende Sensibilisierung, das jeder kennt, ist der Sonnenbrand.

Bei der Sensibilisierung spielt initial oft der verstärkte Einstrom von Ca2+- Ionen in den Nozizeptor eine Rolle, wodurch bestimmte Proteinkinasen (z. B. Proteinkinase C, PKC) aktiviert werden, die wiederum zur Phosphorylierung von Rezeptorproteinen in der nozizeptiven Nervenendigung führen (Abb. 2). Die phosphorylierten Rezeptorproteine reagieren dann auf geringere Konzentrationen ihrer Liganden, der Nozizeptor ist sensibilisiert, der Patient erlebt eine Hyperalgesie.

Solche Sensibilisierungsprozesse gehen z. B. vom VR1-Rezeptor, Bradykininrezeptor BK2, adrenergen α2–Rezeptor und pH-sensitiven Rezeptoren (ASICs, Acid Sensing Ion Channels) aus, die alle an Nozizeptoren identifiziert wurden. Die Sensibilisierung kann über Wochen anhalten und die für entzündliche Erkrankungen typische Hyperalgesie auslösen.

Die Sensibilisierung der Nozizeptoren kann auch durch eine erhöhte Anzahl von Rezeptoren bedingt sein. Eine solche „Hochregulation“ geschieht über die Transkriptionskontrolle im Zellkern des Neurons, z. B. unter dem Einfluss von Neurotrophinen wie NGF (Nerve Growth Factor, Abb. 2).

Entzündungshemmende Analgetika

Entzündungshemmende Medikamente wirken über unterschiedliche Mechanismen am Nozizeptor, z. B. die Folgenden:

  • sie hemmen das Enzym Zyklooxygenase COX-2, wodurch die Bildung von Prostaglandinen abgeschwächt wird,

  • sie sind Antagonisten an den neuronalen und vaskulären Rezeptoren für Schmerzmediatoren (z. B. Bradykinin- oder 5-HT-Rezeptoren),

  • sie hemmen die Freisetzung von CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide) und Substanz P aus den Nozizeptoren, die über eine lokale Gefäßreaktion und Freisetzung von Zytokinen aus Immunzellen wiederum zur erhöhten Erregbarkeit der Nozizeptoren beitragen.

Zusätzlich haben die entzündungshemmenden Medikamente auch vielfältige Wirkungen im Zentralnervensystem, z. B. bei der Erregungsübertragung an den Synapsen im Rückenmark, weshalb die früher übliche Bezeichnung „peripher wirkende Analgetika“ nicht gerechtfertigt ist.

Der Vanilloidrezeptor—ein verwirrendes Spiel der Natur?

1997 wurde der Vanilloidrezeptor VR1 entdeckt und kloniert, der Erregungen des Nozizeptors sowohl auf Capsaicin als auch auf Hitzereize vermittelt (Abb. 2). So lassen sich auch die seit langem bekannten Empfindungen von Brennen und Hitze verstehen, wie sie durch capsaicinhaltige externe Rheumamedikamente (ABC-Pflaster, Finalgonsalbe, Jucurba Capsicum Emulsion) ausgelöst werden. Dieses Erregungsprofil des VR1-Rezeptors erklärt auch, warum Gewürze, die Capsaicin enthalten (z. B. roter Pfeffer), auf der Mundschleimhaut brennende Empfindungen auslösen.

Die schmerztherapeutische Wirkung des Capsaicins über den VR1-Rezeptor beruht auf multiplen Mechanismen:

  • Die akut durch das Capsaicin ausgelösten Erregungen in nozizeptiven Afferenzen lösen im ZNS auch Hemmungsprozesse aus, die im Sinne einer „Gegenirritation“ die zu therapierenden (rheumatischen) Schmerzen abschwächen.

  • In den durch das Capsaicin erregten nozizeptiven Nervenfasern kommt es zu einer starken und langdauernden Entleerung von Substanz P und CGRP. Die Nozizeptoren werden, v. a. im Hinblick auf die Wirkungen dieser Substanzen, desensibilisiert.

  • Die Desensibilisierung breitet sich auch auf die spinalen schmerzübertragenden Neurone aus, diese werden für physiologische und pathophysiologische Erregungen unempfindlicher (hypalgetische therapeutische Wirkung des Capsaicins, z. B. bei der postherpetischen Neuralgie).

TNF-α und andere Zytokine als Mediatoren chronischer Entzündungen

Zytokine sind Botenstoffe des Immunsystems, die eine hohe Affinität zu ihren spezifischen Rezeptoren haben und deshalb in extrem niedrigen Konzentrationen (piko- bis nanomolar) wirksam sind [2]. Für die Sensibilisierung im Schmerzsystem sind v. a. die proinflammatorischen Interleukine (IL-6, IL-1β) und Tumornekrosefaktor α (TNF-α) bedeutsam [12]. Ihre Rezeptoren finden sich einmal an Entzündungs- und Immunzellen, jedoch auch an Neuronen im peripheren (Abb. 2) und zentralen Nervensystem.

Diese Zytokine und ihre Rezeptoren wirken an pathophysiologischen Interaktionen bei Entzündungs- und Sensibilisierungsmechanismen mit, sie spielen eine besondere Rolle bei chronischen Entzündungskrankheiten der Gelenke (Polyarthritis, M. Bechterew), des Gastrointestinaltraktes (M. Crohn) und des Nervensystems (multiple Sklerose).

Zytokinhemmung: ein neues Prinzip der Entzündungs- und Schmerztherapie

Neuerdings hat die Einführung von gentechnisch hergestellten TNF-α-hemmenden Medikamenten (Etanercept, Adalumimab) zu teilweise sensationellen therapeutischen Erfolgen bei schweren rheumatologischen Erkrankungen und M. Bechterew geführt. Die Medikamente werden in mehrwöchentlichen Intervallen gegeben und bauen eine z. T. monatelang nachweisbare Entzündungshemmung auf. Auch die Schmerzen bei Bandscheibenvorfällen sprechen überraschend gut und langdauernd auf die Hemmung von TNF-α an.

Diese Beobachtungen weisen auf einen bislang unbekannten Mechanismus von TNF-α bei der langdauernden Hochregulation von Entzündungsprozessen und der Chronifizierungsspirale von Entzündung und Schmerz hin.

Neurogene Entzündung: ein Beitrag zur Schmerzchronifizierung

Substanz P und CGRP sind Neuropeptide, die bei der Erregung von Nozizeptoren aus den Nervenendigungen freigesetzt werden [6], die Nozizeptoren haben also auch neurosekretorische Funktionen (Abb. 3a, unterer Teil). Die Neuropeptide bewirken eine starke Vasodilatation und Permeabilitätssteigerung der lokalen Gefäße. Substanz P stimuliert die Freisetzung von Histamin aus Mastzellen und von Zytokinen (z. B. TNF-α) aus Entzündungszellen. Dieser Prozess wird deshalb als neurogene Entzündung bezeichnet.

Abb. 3a, b
figure 3

Erregungs- und Sekretionsmechanismen des Nozizeptors. a Schematische Darstellung eines Nozizeptors im histologischen Bild: Endaufzweigung einer afferenten Aδ- oder C-Faser mit freien Nervenendigungen. Er wird durch starke physikalische Reize und durch körpereigene Mediatoren (Schmerzmediatoren, z. B. Bradykinin und Prostaglandin E2) erregt oder sensibilisiert. Eine der sensibilisierenden Wechselwirkungen ist z. B. auch, dass Bradykinin die Synthese von Prostanglandin E2 aus Arachidonsäure begünstigt (+). COX-2-Hemmer und Kortikosteroide hemmen (−) die Prostaglandinsynthese auf verschiedenen Stufen. Im unteren Teil ist die Freisetzung von Neuropeptiden aus den Nozizeptoren dargestellt (z. B. Substanz P, CGRP). Diese führen zur Vasodilatation, erhöhten Gefäßpermeabilität und Aktivierung von Mastzellen und anderen Zellen des Immunsystems, diese Vorgänge bilden die neurogene Entzündung. (Nach [18]). b Schema der Fehlregulation zwischen Nozizeptoren und Entzündungszellen des Immunsystems, mit Neuropeptiden und Zytokinen als Mediatoren

Die bei Schadensreizen innerhalb von Minuten ausgelöste neurogene Entzündung ist als nützliche lokale Abwehrreaktion zu sehen, mit der z. B. bei einer Verletzung eindringende Fremdsubstanzen beseitigt und die Wundheilung beschleunigt werden.

Durch Substanz P, CGRP und Zytokine können jedoch Nozizeptoren weiter sensibilisiert werden, besonders dann, wenn die neurogene Entzündung pathophysiologisch andauert. Hierbei kann es auch zu einem selbstverstärkenden Fehlregulationskreis vom Typ des „positive feedback“ kommen, der an der Aufrechterhaltung von Entzündungsprozessen und Schmerzen mitwirkt.

Bei Patienten mit rheumatischen Erkrankungen, Fibromyalgie und Migräne wurden lokal erhöhte Konzentrationen von Neuropeptiden (CGRP und/oder Substanz P) nachgewiesen, was als Zeichen einer neurogenen Komponente des chronisch verlaufenden Entzündungsgeschehens interpretiert wird.

Substanz P und CGRP aktivieren Mastzellen und andere Entzündungszellen, die wiederum verstärkt Prostaglandine und Zytokine freisetzen und so zur weiteren Erregung der Nozizeptoren beitragen (Abb. 3a). Wir können hier einen Circulus vitiosus (d. h. eine sich aufschaukelnde Fehlregulation) zwischen Nerven- und Immunsystem sehen, der an der Unterhaltung eines chronischen Entzündungsschmerzes mitwirkt (Abb. 3b).

Mit dem Konzept der Fehlregulation lassen sich auch andere schmerzassoziierte Krankheitsprozesse neu interpretieren, die bisher als „funktionelle Krankheiten“ ohne Erklärungshintergrund eingeordnet wurden.

Zentrale Mechanismen des chronischen Schmerzes und der Schmerzchronifizierung

Hirnprozesse von Schmerzwahrnehmung und Schmerzerlebnis

Durch Bildgebung v. a. mit Kernspintomographie, Elektro- und Magnetenzephalographie wurden neuerdings die neurologischen Mechanismen des Schmerzes im Gehirn des Menschen analysiert. Kognitive Inhalte der Schmerzwahrnehmung beruhen demnach v. a. auf der Verarbeitung in den somatosensorischen Kortexarealen SI und SII. Die affektive Bewertung und Handlungsmotivation von Schmerzen beruhen dagegen auf der Verarbeitung im limbischen System, wobei insbesondere der limbische Kortex im Gyrus cinguli immer beteiligt ist.

Die moderne Schmerzforschung am menschlichen Gehirn hat bereits zu neuen Einsichten über die Physiologie und Pathophysiologie des Schmerzes geführt und zeigt neue Wege der medizinischen und verhaltensbiologischen Schmerztherapie auf (s. Beitrag von Herta Flor et al. [4]). Ich werde mich nachfolgend auf einige spinale Mechanismen des Schmerzes konzentrieren, die Einsichten in die Schmerzchronifizierung und Ansätze zur Therapie und Prävention erbracht haben.

Spinale Verarbeitung von Schmerzinformation: Eingangsfilter des zentralen Schmerzsystems

Die Impulse aus den Nozizeptoren werden im Rückenmark synaptisch auf Hinterhornneurone umgeschaltet (Abb. 4). Erregende Transmitter sind hier vor allem Glutamat und Substanz P, die aus den afferenten Nervenendigungen freigesetzt werden. Bei Aktivierung der postsynaptischen Rezeptoren dieser Transmitter werden die spinalen Neurone erregt, über ihre Axone im Vorderseitenstrang wird die Schmerzinformation zum Gehirn weitergeleitet.

Abb. 4
figure 4

Übersicht über erregende und hemmende Neurotransmitter im Hinterhorn. Als erregende Mediatoren in den nozizeptiven Afferenzen wurden v. a. Substanz P, CGRP und Glutamat identifiziert, die über postsynaptische Rezeptoren (NK1, NMDA u. a.) die Hinterhornneurone erregen. Dabei kann es zu Langzeitveränderungen der Erregbarkeit in Richtung einer Sensibilisierung und Hyperalgesie kommen (s. Text), wobei meistens NK1- und NMDA-Rezeptoren gleichzeitig aktiviert werden. Hemmung wird durch lokale spinale Neurone (hier mit Enkephalin, GABA und Glyzin als hemmenden Transmittern) sowie durch deszendierende Bahnen (hier mit Serotonin und Noradrenalin als hemmenden Transmittern) ausgeübt. Die funktionelle Bedeutung der Hemmung durch Somatostatin aus Afferenzen ist noch ungeklärt. (Nach [18])

Am Hinterhornneuron gibt es für Glutamat, Substanz P und andere Neurotransmitter spezifische Rezeptoren, z. B. AMPA- und NMDA-Rezeptoren für Glutamat und NK1-Rezeptoren für Substanz P. Im nozizeptiven System ist vor allem der NMDA-Rezeptor (N-Methyl-D-Aspartat) von großer Bedeutung, er wirkt an neuroplastischen Prozessen mit, die zur Sensibilisierung des Schmerzsystems beitragen.

Die neuronale Verarbeitung im Rückenmark stellt für die von den Nozizeptoren kommenden Entladungen ein variables Filter dar, Erregung und Hemmung bestimmen das Ausmaß der zum Gehirn weitergeleiteten Schmerzinformation (Abb. 4). Auch hier kann es zur übermäßigen Erregung und damit zur Hyperalgesie kommen: einmal durch Sensibilisierung der schmerzübertragenden Neurone, jedoch auch durch Abschwächung der hemmenden Neurone, die ständig die zentrale Weiterleitung der Schmerzinformation kontrollieren (Abb. 4).

Hemmung der Schmerzinformation im Rückenmark

Die Empfängerneurone für Nachrichten aus der Körperperipherie im Hinterhorn stehen unter der Kontrolle durch hemmende Neurotransmitter (Abb. 4). Zur Schmerzhemmung tragen segmentale und absteigende Hemmungssysteme bei. Als hemmende Neurotransmitter von schmerzbezogenen Informationen im Rückenmark spielen besonders Enkephalin, Endomorphin, 5-Hydroxytryptamin (5-HT, Serotonin) und Noradrenalin eine Rolle. Das Ausmaß der hemmenden Prozesse im Hinterhorn bestimmt, wie stark die zum Gehirn geleitete Schmerzinformation ist.

Wir kennen Einflüsse des täglichen Lebens, die die Hemmung verstärken und dadurch die Schmerzintensität dämpfen können, z. B. körperliche Anstrengung oder mentale Ablenkung. Auch mehrere schmerztherapeutische Ansätze verstärken die Hemmung auf der spinalen Ebene, z. B. TENS, Schmerzmedikamente (Opioide, adrenerge und GABAerge Agonisten).

Stressinduzierte Analgesie

Akuter Stress bei Ratten (z. B. durch erzwungenes Schwimmen) führt zur Verringerung der Schmerzempfindlichkeit; man spricht von einer „stress-induced analgesia“ [14]. Dabei werden u. a. auch die vom Hirnstamm zum Rückenmark absteigenden Hemmungssysteme und das endogene Opioidsystem aktiviert. Solche Mechanismen haben einen Überlebenswert in Gefahrensituationen. Die „körpereigene Schmerzabwehr“ gewährleistet z. B., dass sich ein Schwerverletzter ohne die Behinderung durch eine schmerzbedingte Bewegungshemmung in Sicherheit bringen kann.

Die Stressanalgesie kann vom Tier auch durch klassische Konditionierung gelernt werden, sie wird dann z. B. durch einen konditionierten Lichtreiz ausgelöst. Verallgemeinert bedeutet dies, dass psychologische Bedingungen das endogene Schmerzhemmungssystem anstoßen können. Auch beim Menschen gibt es hierfür Befunde, z. B. die Freisetzung endogener Opioide bei Hypnose oder Placebobehandlung.

Langzeitpotenzierung der Synapsen erhöht zentrale Schmerzempfindlichkeit

Wiederholte Schmerzreize können zur Sensibilisierung spinaler Neurone führen, die auf der Plastizität der erregenden Synapsen beruht. Ein Mechanismus, der unter anhaltenden experimentellen Schmerzen beobachtet wurde, ist die zunehmende Rekrutierung von postsynaptischen NMDA-Rezeptoren für den Neurotransmitter Glutamat.

Hereinkommende Schmerzerregungen werden so mit immer stärkeren und länger anhaltenden Entladungen beantwortet, ein Vorgang, der als „wind-up“ bezeichnet wird. An den erregenden Synapsen kommt es zur Langzeitpotenzierung (LTP, „long term potentiation“). In Abbildung 5 ist eine LTP gezeigt, wie sie tierexperimentell ausgelöst werden kann: durch eine kurzzeitige hochfrequente Reizung vieler Schmerzafferenzen wird die synaptische Übertragung langdauernd erhöht [10].

Abb. 5
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Langzeitpotenzierung (LTP) der synaptischen Übertragung im Hinterhorn des Rückenmarks. Durch eine kurzzeitige (wenige Sekunden dauernde) repetitive Stimulation (100 Hz) der afferenten C-Fasern im peripheren Nerven wird die synaptische Übertragung auf die Hinterhornneurone potenziert. Diese LTP kann viele Stunden oder Tage anhalten. (Aus [10])

Die Sensibilisierung der spinalen Neurone ist ein komplexer Vorgang, bei dem außer den NMDA-Rezeptoren noch andere Transmittersysteme mitwirken. Für die Schmerzwahrnehmung kann diese potenzierte Übertragung auf spinaler Ebene zur Hyperalgesie sowie Verstärkung und Perpetuierung von Dauerschmerzen führen.

Prävention von Phantomschmerzen

Die Sensibilisierung auf Rückenmarkebene und ihre therapeutische Prävention hat praktische Relevanz bei der Amputation. Nach dem heutigen Erkenntnisstand stellen sensibilisierte Rückenmarkneurone einen pathophysiologischen Mechanismus für Phantomschmerzen dar. Zahlreiche klinische Studien zielten darauf ab, die massive Erregung des Rückenmarks in Folge des Amputationstraumas, vor allem bei der Durchtrennung des N. ischiadicus, durch lang wirkende periphere und spinale Blockaden mit Lokalanästhetika zu vermeiden. Wenn auch das Risiko von Phantomschmerzen dadurch nicht vollständig ausgeschaltet werden konnte, treten schwere Phantomschmerzen nach solchen Operationen nicht auf.

Schmerzreize können Gentranskription im Nervensystem induzieren

Die Nachhaltigkeit der Sensibilisierung im Schmerzsystem beruht u. a. auf der veränderten Gentranskription im Neuron, die durch persistierende nozizeptive Reize induziert wird.

Bereits weniger als 1 h nach einem Schmerzreiz werden in Rückenmarkneuronen Gene wie z. B. c-fos induziert (Abb. 6). Diese durch äußere Reize in den Nervenzellen aktivierten Gene heißen IEG (Immediate-Early Genes), sie spielen allgemein z. B. bei der Entwicklung und Differenzierung eines Lebewesens eine wichtige Rolle.

Abb. 6
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Induzierte Transkription nach noxischen Reizen. In Hinterhornneuronen des Rückenmarks und in Neuronen des Hirnstamms und Thalamus wird durch schmerzhafte Reize die Transkription von Genen wie c-fos, c-jun und krox-24 induziert („immediate-early genes“, IEG). Die IEG-kodierten Proteine binden an DNA und kontrollieren die Transkription anderer Gene. Dadurch können die funktionellen Eigenschaften von Neuronen für längere Zeit oder sogar bleibend verändert werden (Neuroplastizität), z. B. in Richtung einer Sensibilisierung und Übererregbarkeit. (Aus [18])

Die IEG-kodierten Proteine können wiederum an DNA-Sequenzen binden, als Transkriptionsfaktoren kontrollieren sie so die Expression anderer Gene. Entsprechend wurden nach Schmerzreizung vielfältige biochemische Veränderungen in Neuronen festgestellt [8, 19]. So werden verschiedene schmerzrelevante Transmittersysteme hochreguliert, z. B. NOS, Galanin, Dynorphin, Opioidrezeptoren, u. a. hemmende Systeme werden nach Verletzungen peripherer Nerven herabreguliert, z. B. GABA, Opioidrezeptoren. Im Endergebnis der veränderten Genablesung imponiert oft eine Sensibilisierung des Neurons, z. B. als LTP (s. Abb. 5), oder die Abnahme der analgetischen Wirksamkeit von Opioiden. Es ist wahrscheinlich, dass transkriptionsgesteuerte Veränderungen im Nervensystem besonders nachhaltig sind, was die Persistenz chronifizierter Schmerzen verständlich macht.

Schmerzentstehung durch Fehlregulation im neuromotorischen System

An Schmerzzuständen des skelettmotorischen Systems kann auch eine inadäquate neurale Steuerung der Motorik mitwirken (Abb. 7; [9]). So kann ein primärer Schmerz (im Beispiel der Abb. 7 von einem Gelenk ausgehend) zu einer zeitweilig oder dauernd übermäßig angespannten Muskulatur führen, im Sinne eines tonischen nozizeptiven Reflexes. Zu dieser Fehlregulation scheint es besonders leicht bei der posturalen Muskulatur der Wirbelsäule zu kommen, da hier eine Dauererregung der Motoneurone bereits der physiologische Normalfall ist.

Abb. 7
figure 7

Chronifizierung von Schmerzen durch unphysiologische Muskelanspannung. In dieser schematischen Darstellung soll sichtbar gemacht werden, dass die erhöhte Muskelanspannung, die initial zunächst reflektorisch z. B. durch Nozizeptoren aus einem erkrankten Gelenk erzeugt wird, als Folge der länger dauernden Kontraktion über die Erregung der Nozizeptoren der Muskeln, Sehnen und Gelenke zu einer Selbstverstärkung führen kann. Dieser pathophysiologische Zustand der positiven Rückkopplung kann zu chronischen Schmerzen beitragen. Durch Injektion eines Lokalanästhetikums („therapeutische Lokalanästhesie“), Aktivierung zentralnervöser hemmender Systeme („hemmendes Neuron“) oder Kontrolle der spinalen Reflexe vom Gehirn kann der Selbsterregungskreis abgeschwächt werden. Das Schema ist hypothetisch, viele klinische Erscheinungen können damit jedoch erklärt werden. (Aus [18])

Eine unangemessen erhöhte Muskelanspannung verstärkt jedoch die Erregung der Nozizeptoren in den Muskeln sowie in den vermehrt belasteten Sehnen und Gelenken (Abb. 7), wodurch wiederum über den spinalen Reflex die Erregung der Motoneurone und die Muskelkontraktion ansteigen. So schließt sich ein Fehlregulationskreis, bei dem es durch eine positive Rückkopplung zur Selbstverstärkung von erhöhtem Muskeltonus und dem assoziierten Schmerz kommt.

Im Sinne dieses Konzepts wurde bei Rückenschmerzpatienten ein überreagibles EMG in den Haltemuskeln der Wirbelsäule gefunden [4], bei einer als Test herbeigeführten emotionalen Stresssituation zeigten die Patienten im Vergleich zu Kontrollpersonen höhere EMG-Werte und ein langsameres Abklingen nach Ende des Tests. Auch Tierexperimente stützen diese Vorstellung einer selbstverstärkenden positiven Rückkopplung bei der spinalen Motorik [15].

Alternativ kann es durch einen noxischen Dauerreiz auch zu einer reflektorischen Hemmung von Motoneuronen kommen, mit resultierender Bewegungsschwäche und schließlich Atrophie des vermindert aktiven Muskels. In die gleiche Richtung führt die bei Schmerzpatienten besonders häufig vorkommende Schonhaltung und Schonbewegung, die wegen der resultierenden Schmerzreduktion zum bevorzugten Verhaltensmuster wird und als Risikofaktor für die Chronifizierung von Rückenschmerzen gilt („fear avoidance behavior“; [7]).

Solche Abläufe können z. B. bei Patienten mit initialen Gelenkschmerzen durch Arthrose beobachtet werden. Durch Lernvorgänge gehen die zunächst gelenkbezogenen Schonungen in ein generelles Vermeidungsverhalten über, das schließlich in Immobilität und Autonomieverlust einmündet. Aus diesem Konzept einer funktionellen Chronifizierung von Schmerzen lassen sich Ansätze zur Prävention und Rehabilitation herleiten [18].

Fazit für die Praxis

Initiale Traumen im muskuloskelettalen System führen oft zu langdauernden Erhöhungen der Empfindlichkeit im Nervensystem, die sich bis zur Ebene der Gentranskription manifestieren können. Vielfältige systemische Wechselwirkungen der Nozizeption z. B. mit der Motorik, dem Immunsystem und Kognitionen können zur fortschreitenden Chronifizierung des Schmerzzustands führen, die unter dem Begriff „Schmerzgedächtnis“ subsummiert werden. Die Sensibilisierungen des Nervensystems in der Peripherie und im Rückenmark sind als wichtige Mechanismen der fortschreitenden Schmerzchronifizierung anzusehen. Frühzeitige präventive Maßnahmen gegen die Sensibilisierung können wirksam vor einem komplexen Schmerzverlauf schützen.