Chronische Rückenschmerzen gehören zu den häufigsten Schmerzsyndromen. Sehr oft ist bei den Patienten die Schmerzsymptomatik allerdings nicht auf den Rückenbereich begrenzt, sondern es wird über eine mehr oder weniger gut lokalisierbare Ausstrahlung der Beschwerden in die Extremität geklagt (Ischialgie). Werden die Schmerzen im Ausbreitungsgebiet einer oder mehrerer Nervenwurzeln wahrgenommen oder bestehen Sensibilitätsstörungen, Reflexabschwächungen oder motorische Ausfälle der entsprechenden Kennmuskeln, bezeichnet man die Schmerzen als radikulär, sind die Grenzen unscharf, als pseudoradikulär. Verschiedene Syndrome können zu radikulären Symptomen führen (Tabelle 1).

Tabelle 1 Typische Diagnosen, die häufig mit neuropathischen Schmerzkomponenten vergesellschaftet sind

Die lokalisierten Schmerzen im Rückenbereich werden bisher zu den nozizeptiven Schmerzen gezählt. Allgemein wird angenommen, dass die Ausbreitung der Schmerzen auf die Extremitäten auf eine Beteiligung neuronaler Strukturen schließen lässt. Das Konzept der mechanischen Kompression einer Nervenwurzel wird für die Pathogenese der radikulär ausstrahlenden Rückenschmerzen postuliert. Klassische diskogene Ursachen, wie der Bandscheibenprolaps oder -sequester, aber auch knöcherne oder postoperative fibrotische Verwachsungen stehen im Verdacht, für die Schmerzen verantwortlich zu sein. Hierfür sprechen die Erfolge der operativen Dekompression bei einem Großteil der behandelten Patienten. Man spricht dann von einer sog. neuropathischen Komponente der Rückenschmerzen.

Dennoch kann häufig in bildgebenden Verfahren ein entsprechendes strukturelles Korrelat, das die Nervenwurzel komprimiert, nicht gefunden werden, obwohl der Patient klinisch alle Symptome der Ischialgie präsentiert. Dies gilt insbesondere für die Patientengruppe mit chronischen Lumboischialgien. Somit gibt es Hinweise, dass auch andere Mechanismen außer einer mechanischen Kompression an der Entstehung der Symptome einer Ischialgie beteiligt sein müssen.

Im folgenden Beitrag soll diskutiert werden, in wieweit die klinischen Erfahrungen und experimentellen Ergebnissen der Forschung diese Mechanismenvielfalt der Rückenschmerzen bestätigen können und welche Bedeutung dieses für die Therapie im klinischen Alltag haben könnte.

Akute und chronische Schmerzen

Akute Schmerzen

Akute Schmerzen werden durch adäquate Erregung der nozizeptiven Neurone verursacht. An der Generierung, Kodierung und Transduktion sind polymodale Nozizeptoren und Gruppe-IV- (C-Fasern) und Gruppe-III-Nervenafferenzen (Aδ-Fasern) beteiligt. Hierbei können Nervenfasern durch unterschiedlichste chemische, mechanische oder thermische Noxen erregt werden. Neben der afferenten Funktion besitzen viele nozizeptive Afferenzen auch eine efferente Funktion. Bei Erregung dieser Fasern kommt es zu einer Freisetzung von Neuropeptiden wie z. B. Substanz P und „calcitonin gene related peptide“ (CGRP). Diese Peptide können dann eine sog. neurogene Entzündung verursachen.

Chronische Schmerzen

Chronische Schmerzen können in zwei Kategorien unterteilt werden:

  • Chronische Schmerzen, die nach Gewebetraumen entstehen, wobei die peripheren und zentralen Strukturen des nozizeptiven Systems intakt sind (nozizeptive Schmerzen). Diese Kategorie von Schmerzen ist durch eine veränderte Verarbeitung von Signalen in den intakten peripheren und zentralen Neuronen gekennzeichnet, die sich in einer Sensibilisierung und Veränderungen der Signalinduktion und -transduktion äußert. Diese Schmerzen gelten bei kausaler Behandlung am peripheren nozizeptiven Neuron als reversibel. Hierzu gehören z. B. die Schmerzen beim chronisch-entzündlichen Gelenkrheuma.

  • Chronische Schmerzen, die nach einer Schädigung der nozizeptiven Systeme entstehen (neuropathische Schmerzen): Bei dieser Kategerie chronischer Schmerzen ist das Nervengewebe selbst durch verschiedene Noxen verletzt. Die klassische Verletzung von Nervengewebe entsteht durch mechanische Läsionen. Aber auch metabolische oder entzündliche Erkrankungen können einen Nerv schädigen. Durch die Verletzung kommt es zu einer Änderung der morphologischen, physiologischen, aber auch biochemischen Eigenschaften nozizeptiver und nichtnozizeptiver Neurone mit Veränderung der Repräsentanz und Verarbeitung schmerzhafter Signale im zentralen Nervensystem. Neue Rezeptoren und Kanäle erscheinen auf den Membranen der Afferenzen nach den verschiedenen Läsionen („phenotypic switch“). Diese Veränderungen können irreversibel persistieren, sodass Schmerzen auch über die Heilung des Gewebes hinaus bestehen bleiben können.

Bei einigen Schmerzsyndromen existiert ein Nebeneinander neuropathischer und nozizeptiver Schmerzen. Es wird angenommen, dass insbesondere bei chronischen Rückenschmerzen und der Ischialgie eine Überlappung beider Kategorien mit fließenden Übergängen vorliegt (Tabelle 2).

Tabelle 2 Entstehungsmechanismen chronischer Lumboischialgien

Der nozizeptive lokale Rückenschmerz

Bei gesunden Probanden existiert eine afferente Innervation der Bandscheibe nur im äußeren Drittel des Anulus fibrosus. In immunhistochemischen Studien konnte gezeigt werden, dass diese Innervation aus nozizeptiven Aδ- und C-Fasern besteht. Eine ähnliche Innervation lässt sich im vorderen und hinteren Längsband nachweisen. Hier finden sich auch propriozeptive Fasern von Paccini-Körperchen, Golgi-Sehnenorganen und Ruffini-Scheiben.

In der degenerierten Bandscheibe verändert sich diese Situation dramatisch. Die nozizeptiven Fasern aus den Längsbändern und dem Anulus fibrosus beginnen auszusprossen und bis in den Bereich des Nucleus pulposus einzuwachsen. Es konnte eine Korrelation zwischen diesen gefäßunabhängig tief in die Bandscheibe einwachsenden nozizeptiven Fasern und dem Auftreten von chronischen Rückenschmerzen nachgewiesen werden [5]. Zusätzlich konnten auch Nervenfasern dargestellt werden, die zusammen mit Blutgefäßen in die degenerierte Bandscheibe vorwachsen, die vermutlich der Durchblutungsregulation dienen. In Arealen der Knorpelschädigung konnten in unmittelbarer Nähe zu den Blutgefäßen Makrophagen dargestellt werden [17].

Es wird vermutet, dass das Ausmaß der Vaskularisierung und Neoinnervation der Bandscheibe in direktem Zusammenhang mit der Entstehung von lokalisierten Rückenschmerzen bei Bandscheibendegenerationen steht. Diese Schmerzen stellen einen physiologischen Schutzmechanismus vor einer weiteren Traumatisierung dar. Eine andauernde Reizung der in die degenerierte Bandscheibe vorgewachsenen Nozizeptoren durch Druckreize und Entzündungsmediatoren aus den Makrophagen führt zu chronischen Schmerzen.

Degenerative Wirbelsäulenerkrankungen führen häufig zu einer begleitenden muskulären Fehlbeanspruchung. Durch Überlastung der Muskulatur werden muskuläre Nozizeptoren durch algetische Mediatoren, wie ATP und saure Valenzen, erregt. Durch Freisetzung von Neuropeptiden aus den nozizeptiven Neuronen entwickeln sich lokale Ödeme, in deren Bereich unter anderem Bradykinin freigesetzt wird. Dies führt zu einer weiteren Sensibilisierung der muskulären Nozizeptoren, die wiederum zu einer höheren Schmerzintensität führt. Es entsteht somit zusätzlich ein nozizeptiver muskulär bedingter lokaler Rückenschmerz [10].

Der neuropathische lokale Rückenschmerz

Die Einsprossung von nozizeptiven Nervenfasern bis in die Tiefe der degenerativen Zwischenwirbelscheibe könnte auch zur Entstehung eines lokalen neuropathischen Rückenschmerzes führen. Neben der physiologischen protektiven nozizeptiven Schmerzkomponente treten zusätzlich zwei neuropathische schmerzgenerierende Mechanismen hinzu. Zum einen kommt es durch die massive Freisetzung von inflammatorischen Mediatoren im Bandscheibengewebe zu einer chemischen Schädigung der nozizeptiven Nervenfasern [7]. Zum anderen führt die mechanische Gefügeinstabilität der degenerierten Bandscheibe selbst zu einer Kompression der neu einsprossenden nozizeptiven Nervenfasern mit einer nachfolgenden mechanischen Schädigung. So ist zu vermuten, dass auch bei Patienten ohne radikulär ausstrahlende Schmerzen, jedoch mit diffusen, häufig in der Tiefe lokalisierten, belastungsabhängigen Rückenschmerzen auch ohne mechanische Kompression des Spinalnervs eine neuropathische Schmerzkomponente vorliegen könnte. Entsprechend zeigten erste offene Studien die Wirksamkeit von Gabapentin bei Patienten mit degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen [6].

Der mechanisch-neuropathische Nervenwurzelschmerz

Sobald klinisch neben den lokalisierten Rückenschmerzen eine Ausstrahlung der Schmerzen auf die Extremitäten nachweisbar ist, wird auf eine Mitbeteiligung und Verletzung der Nervenwurzel geschlossen. Dies gilt insbesondere für Schmerzen in Zusammenhang mit radikulären Sensibilitätsstörungen, Reflexausfällen und Lähmungen. Zu den klassischen diskogenen Ursachen einer Nervenkompression gehören der Bandscheibenprolaps oder -sequester, aber auch knöcherne oder postoperative fibrotische Verwachsungen. Besteht die Nervenwurzelkompression über einen längeren Zeitraum fort, kommt es unweigerlich zu einer chronischen Nervenverletzung. Man spricht dann von einer sog. neuropathischen Komponente der Rückenschmerzen.

Entstehungsmechanismen der mechanisch-neuropathischen Schmerzkomponente

Eine andauernde Kompression einer Nervenwurzel führt zu einer mechanischen Verletzung der peripheren Nervenstrukturen (Abb. 1). Nach der Nervenläsion tragen vielfältige morphologische, physiologische und biochemische Veränderungen des peripheren afferenten Neurons zur Entstehung chronisch neuropathischer Schmerzen bei. Die Nervenfasern verändern komplett ihr Aussehen [1, 2].

Abb. 1
figure 1

Pathophysiologische Entstehungsmechanismen der chronischen Lumboischialgie. Nozizeptiver Rückenschmerz: Das Einsprossen von nozizeptiven C-Fasern in die degenerierte Bandscheibe steht in direktem Zusammenhang mit der Entstehung von lokalisierten Rückenschmerzen. Eine andauernde Reizung der vorgewachsenen Nozizeptoren durch Druckreize und Entzündungsmediatoren aus den Makrophagen führt zu chronischen Schmerzen. Neuropathischer Rückenschmerz: Bei den neuropathischen Formen kann die Nervenwurzel einerseits durch eine mechanische Bedrängung verletzt werden—man spricht vom klassischen mechanisch-neuropathischen Nervenwurzelschmerz—, andererseits können entzündliche Mediatoren aus der degenerierten Bandscheibe die Nervenwurzel chemisch schädigen, ohne dass eine eigentliche mechanische Kompression vorliegt (entzündlich-neuropathischer Nervenwurzelschmerz). Die Läsion der Nervenwurzel durch beide neuropathische Mechanismen führt zur zentralen Sensibilisierung (Chronifizierung) mit der Ausbildung einer A-Faser-vermittelten Allodynie. (Näheres s. Text)

Morphologisch kommt es nach einer Läsion zur einer Atrophie oder Degeneration der Neurone. Um die deafferenzierten Areale zu versorgen, kommt es zu einer Aussprossung proximal vom Läsionsort und einem kollateralen Sprossen von afferenten Neuronen benachbarter Nerven in das denervierte Territorium. Biochemisch verändert sich die Transmittersynthese in den Afferenzen. Hierbei erfolgt eine veränderte Produktion von Neuropeptiden in afferenten A- und C-Neuronen. Zusätzlich kommt es zu einer veränderten Synthese und zu einem veränderten Transport von Transducermolekülen und Kanalmolekülen (insbesondere Na-Kanäle) und einer Expression von α-Adreno- und Glutamatrezeptoren.

Physiologisch generieren geschädigte primär afferente nozizeptive C-Fasern ektope Nervenimpulse. Die pathologische Aktivität kann sowohl in der Peripherie am Ort der Läsion oder weit entfernt in den Somata im Spinalganglion entstehen. Diese Aktivität kann kontinuierlich, irregulär oder salvenartig bestehen und vermutlich auch ephaptisch zwischen verschiedenen geschädigten Neuronen geleitet werden. Ektope Entladungen werden als Ursache der einschießenden Attackenschmerzen diskutiert. Weiterhin kann es unter pathologischen Bedingungen zur peripheren chronischen Sensibilisierung von Nozizeptoren kommen.

Charakteristische Merkmale sensibilisierter Nozizeptoren sind die Ausbildung einer Ruheaktivität, einer erniedrigten Schwelle gegenüber noxischen Reizen und die Erzeugung einer supranormalen Antwort auf überschwellige Reize. Sensibilisierte Neurone sind an der Entstehung von brennenden Dauerschmerzen beteiligt [4]. An diesen Vorgängen sind sowohl die Neurone, die Schwannzellen, als auch Signalmoleküle und deren Rezeptoren beteiligt.

Zusätzlich induziert eine Nervenläsion dynamische neuroplastische Veränderungen im zentralen Nervensystem (Rückenmark, Abb. 1), die dazu führen, dass die zentralen nozizeptiven Neurone (u. a. „wide dynamic range neurons“, WDR-Neurone) verstärkt auf die C-Faser-Aktivität antworten („wind-up“).

Unter diesen Bedingungen können durch niederschwellige Mechanorezeptoren nun auch Aβ- und Aδ- Fasern erregt werden (verschiedene Formen der Allodynie). Diese sog. zentrale Sensibilisierung entsteht durch die Wirkung erregender Aminosäuren und Tachykinine, freigesetzt aus den zentralen Endigungen der C-Fasern und aus Interneuronen, auf glutamaterge (N-Methyl-D-Aspartat) NMDA-Rezeptoren und Neurokininrezeptoren der Hinterhornneurone. Die Besetzung dieser Rezeptoren bewirkt die Aktivierung bestimmter Ca-Kanäle auf der postsynaptischen Membran. Die zentrale Sensibilisierung ist zunächst reversibel. Der entscheidende Faktor, der die zentrale Sensibilisierung initiiert, ist also eine akute, intensive noxische Stimulation. Im weiteren Verlauf kann sich der zentrale Prozess verselbständigen und unabhängig von nozizeptiven Impulsen aus der Peripherie fortbestehen.

Das nozizeptive System im Rückenmark steht physiologischerweise unter einer ständigen inhibitorischen Kontrolle, um eine nozizeptive Überaktivität zu vermeiden (Abb. 1). Absteigende Bahnen aus dem Hirnstamm (z. B. aus dem periaquäduktalen Grau) hemmen mit den Transmittern Noradrenalin und Serotonin die Aktivität in nozizeptiven Hinterhornneuronen. Darüber hinaus üben GABAerge Interneurone eine tonische Inhibition im Hinterhorn aus. Chronische nozizeptive Aktivität kann einen Funktionsverlust und sogar eine Degeneration dieser inhibitorischen Systeme bewirken, was zu einer unbeeinträchtigten Transmission nozizeptiver Impulse führt und so die Schmerzchronifizierung fördert (Abb. 1).

Der entzündlich-neuropathische Wurzelschmerz

Wie oben erwähnt, findet man nicht selten Patienten, die klinisch alle klassischen Zeichen einer Wurzelkompression mit typischer radikulärer Schmerzausstrahlung zeigen, bei denen aber keine mechanische Bedrängung der Nervenwurzel und damit keine mechanisch bedingte Nervenläsion im eigentlichen Sinne nachweisbar ist. Vor diesem Hintergrund wurde eine mögliche Entzündung der Nervenwurzel durch die anatomische Nähe zu einer entzündeten und degenerierten Bandscheibe als Ursache für die Ischialgie postuliert (biochemisch-mechanisches Erklärungsmodell, Abb. 1). Dieses Modell wird durch Untersuchungen des Liquor cerebrospinalis bei Patienten mit herniierten Bandscheiben unterstützt, die erhöhte Spiegel von Albumin und IgG zeigten. Das Ausmaß dieser entzündlichen Liquorveränderungen korrelierte mit der Schwere der klinischen Befunde [14].

Entstehungsmechanismen der entzündlich-neuropathischen Wurzelschmerzkomponente

Phospholipasen und Prostaglandine

Entsprechend dieser Hypothese wurde tatsächlich in sequestrierten menschlichen Bandscheiben eine höhere Konzentration von Phospholipase 2 (PLA2), einem potenten Entzündungsmediator, nachgewiesen. Ein positiver Lasègue und das Ausmaß der Ischialgiekomponente korrelierten mit höheren PLA2-Spiegeln. Diese Befunde sind aber bislang nicht unumstritten. Eine Wirkung von PLA2 auf die Nervenwurzel und dessen Funktion wurde an einem Rattenmodell getestet. Nach Injektion von PLA2 in den epiduralen Raum der Höhe L4–L5 konnte eine Demyelinisierung dieser Nervenwurzeln beobachtet werden. Eine leichte mechanische Kompression dieser Spinalnerven zeigte dann eine über den Reiz fortdauernde ektope Aktivität. Klinisch zeigten die Ratten eine Überempfindlichkeit gegenüber sensiblen Reizen und eine Kraftminderung, entsprechend der segmentalen Innervation. Dementsprechend verminderte die Injektion eines selektiven PLA2-Inhibitors die durch Applikation von Bandscheibengewebe auf Spinalnerven hervorgerufene neuropathisch-radikuläre Schmerzkomponente.

Ähnliche Befunde konnten für einige Prostaglandine erhoben werden. In menschlichen, herniierten Bandscheiben wurde ein signifikant erhöhter Gehalt an Leukotrien 4 und Thromboxan nachgewiesen. Diese Mediatoren spielen eine gewichtige Rolle in der Entzündungskaskade, ein weiterer Hinweis auf eine aktivierte Kininkaskade bei symptomatischen Bandscheibenvorfällen.

Zytokine

Zytokine wirken wie viele andere Substanzen agonistisch mit Phospholipasen und Prostaglandinen proinflammatorisch. Darüber hinaus induzieren Zytokine eine Aktivierung von PLA2 mit einer konsekutiv aktivierten Entzündungskaskade. Bisher wurde jedoch angenommen, dass Bandscheiben nur bedingt an immunologischen Prozessen teilnehmen und somit die Produktion und Sekretion von Zytokinen mangels immunkompetenter Zellen in Bandscheiben nur eingeschränkt, wenn überhaupt möglich ist. Folgende Befunde sprechen jedoch gegen diese Annahme und unterstützen die Beteiligung von Zytokinen als Mediatoren einer entzündlichen-neuropathischen Komponente der Ischialgie: Die epidurale Applikation von autologem Nucleus-pulposus-Material führt im Rattenmodell zu einem intraneuralen Ödem und einer Minderung der Nervenleitgeschwindigkeit [11].

Analysen von Gewebeproben aus der unmittelbaren Nachbarschaft von tierexperimentellen Diskushernien zeigten eine erhöhte Produktion von Il-1, IL-6 und TNF-α sowie PE2 [15]. Entsprechend der Hypothese wurde direkt in herniierten Bandscheiben eine Expression von TNF-α demonstriert. Die Applikation der gleichen Menge von TNF-α auf Nervenwurzeln verursachte neuropathische Veränderungen.

Bei Patienten mit persistierender Ischialgie wurden operativ gewonnene Bandscheibenproben untersucht, die signifikant erhöhte Il-6 und PE2-Spiegel enthielten [7]. Eine in vitro durchgeführte Stimulation mit Il-1 konnte eine gesteigerte Freisetzung dieser Mediatoren in herniiertem, aber auch unversehrtem Bandscheibengewebe zeigen.

Das Mixed-pain-Konzept

Aus diesen pathophysiologischen Konzepten kann eindeutig gefolgert werden, dass Rückenschmerzen aus mehreren Schmerzkomponenten bestehen, die unterschiedliche pathophysiologische Entstehungsmechanismen haben. Man kann eine rein nozizeptive Komponente, den nozizeptiven lokalisierten Rückenschmerz, von mehreren neuropathischen Schmerzkomponenten abgrenzen (Tabelle 2).

Bei den neuropathischen Formen können neu in die Bandscheibe eingesprossene Nozizeptoren durch degenerative Veränderungen geschädigt werden. Es kann weiterhin die Nervenwurzel einerseits durch eine mechanische Bedrängung verletzt werden—man spricht dann vom klassischen mechanisch-neuropathischen Nervenwurzelschmerz—, andererseits können entzündliche Mediatoren aus der degenerierten Bandscheibe die Nervenwurzel chemisch schädigen, ohne dass eine eigentliche mechanische Kompression vorliegt. Man kann diese Komponente als den entzündlich-neuropathischen Nervenwurzelschmerz bezeichnen. Das Ausmaß der verschiedenen Komponenten ist wahrscheinlich individuell sehr verschieden und es existieren fließende Übergänge.

Aufgrund der Mechanismenvielfalt der unterschiedlichen Schmerzkomponenten hat sich heute zur Beschreibung einer Mischung aus nozizeptiven, entzündlichen und neuropathischen Schmerzkomponenten der Begriff Mixed-pain-Syndrom durchgesetzt, ein Konzept, das besonders bei der Lumboischialgie valide zu sein scheint (Abb. 1).

Diese differenzierte Bezeichnung und Charakterisierung chronischer Schmerzsyndrome ist nicht nur aus wissenschaftlichen Erwägungen von entscheidender Bedeutung, sondern hat auch direkte Therapierelevanz, da die neuropathischen Schmerzkomponenten im Gegensatz zu den nozizeptiven Schmerzen z. T. einer völlig anderen Therapie bedürfen. Diese wird unten ausführlich diskutiert.

Diagnostik der neuropathischen Komponenten des Rückenschmerzes

Vor dem Hintergrund des bislang hypothetischen Konzeptes einer Mischung aus nozizeptiven und neuropathischen Schmerzmechanismen bei der Lumboischialgie ergibt sich die Frage, ob es diagnostische Möglichkeiten gibt, das Ausmaß und die Zusammensetzung der verschiedenen Schmerzkomponenten zu charakterisieren. Wie oben diskutiert stellen bildgebende Verfahren nicht die geeigneten Techniken dar, eine neuropathische Schmerzkomponente zu identifizieren. Häufig kann kein entsprechendes strukturelles Korrelat gefunden werden, das die Nervenwurzel komprimiert, obwohl der Patient klinisch alle Symptome der Ischialgie präsentiert. Dies gilt insbesondere für die Patientengruppe mit chronischen Lumboischialgien. Darüber hinaus kann die Nervenwurzel auch durch entzündliche Mediatoren aus der degenerierten Bandscheibe geschädigt werden, ohne dass ein direkter mechanischer Kontakt zur Wurzel besteht.

Somit muss die Einordnung der verschiedenen Schmerzkomponenten anhand klinischer Testverfahren erfolgen. Bei klassischen neuropathischen Schmerzsyndromen gibt es einige diagnostisch wertvolle, charakteristische Symptome, die aber bei der Lumboischialgie bislang nicht validiert sind. Es werden negative (Hypästhesie und Hypalgesie) und positive sensible Phänomene (Kribbelparästhesien, Dysästhesien und spontane sowie evozierte Schmerzen) unterschieden. In Tabelle 3 sind die verschiedenen Symptome zusammengefasst. Die typischen Symptome der Ischialgie sind der ziehende, radikulär ausstrahlende Schmerz, Hypästhesien, Dysästhesien und Parästhesien im entsprechenden Dermatom sowie Paresen und Reflexabschwächungen an der betroffenen Extremität.

Tabelle 3 Sensibilitätsstörungen und sensorische Symptome bei neuropathischen Schmerzen

Genaue epidemiologische Daten z. B. zur Häufigkeit dieser Symptome, zum Ausmaß der neuropathischen Komponenten und zur Validität der Testverfahren existieren allerdings noch nicht. Entsprechende Studien werden zurzeit durchgeführt.

Konsequenzen für die medikamentöse Therapie

Die medikamentöse Therapie der chronischen Rückenschmerzen wird heutzutage nahezu ausschließlich gegen die nozizeptive Komponente gerichtet. Als First-line-Medikation werden nichtsteroidale Antiphlogistika und in schweren Fällen Opioide eingesetzt, die ihre Wirkung über einen antientzündlichen und analgetischen Mechanismus entfalten. Die neuropathischen Schmerzkomponenten werden durch die nichtsteroidalen Antiphlogistika nicht beeinflusst.

Nichtsteroidale Antiphlogistika haben sich zur Behandlung typischer Nozizeptorschmerzsyndrome (entzündlichen Erkrankungen wie Arthritis sowie Arthrose und Tumorschmerzen) bewährt. Sie blockieren die Cyclooxygenase und hemmen damit die Freisetzung algetischer und proinflammatorischer Mediatoren, die als Arachidonsäuremetaboliten aus der Zellwand herausgelöst werden. Der Wirkort liegt ebenfalls im zentralen Nervensystem. Die Isolierung der 3 klassischen Opioidrezeptoren (μ, δ, κ) und die Entwicklung entsprechender Agonisten und Antagonisten hat die moderne Schmerztherapie revolutioniert. Neben der Akutschmerztherapie (Herzinfarkt, postoperative Schmerzen, akutes Abdomen) sind Opioide bei allen chronischen Nozizeptorschmerzen (entzündliche und Tumorschmerzen, nozizeptiven Rückenschmerzen) gut wirksam [9].

Spezifische Behandlung der neuropathischen Schmerzkomponenten

Nichtsteroidale Antiphlogistika und Opioide sind nachweislich bei der nozizeptiven Schmerzkomponente der Lumboischialgie wirksam. Die durch die mechanische Kompression bedingte neuropathische Schmerzkomponente, wie auch Teile der entzündlich-neuropathischen Komponente der Lumboischialgie, können insbesondere durch nichtsteroidale Antiphlogistika nicht entscheidend beeinflusst werden. Für diese Schmerzkomponenten stellen die sog. Koanalgetika, zu denen die Antiepileptika und die Antidepressiva gezählt werden, das wesentliche Indikationsgebiet dar.

Zum Teil wirken diese Substanzen auf Kanalproteine und Rezeptoren, die nur nach einer Nervenverletzung exprimiert werden. Aus diesem Grunde ist ihre spezifische Wirkung bei neuropathischen Schmerzen zu erklären, wohingegen intakte Nervenfasern nicht durch diese Substanzen beeinflusst werden.

Verschiedene Wirkstoffe stehen in der Behandlung neuropathischer Schmerzen zur Verfügung. Positive kontrollierte Studien liegen für unterschiedliche neuropathische Erkrankungen vor, z. B. für die postzosterische Neuralgie oder die schmerzhafte diabetische Polyneuropathie [13]. Ergebnisse randomisierter, placebokontrollierter Studien hinsichtlich der Effektivität dieser Wirkstoffe zur Behandlung der neuropathischen Komponenten der Lumboischialgie gibt es jedoch bisher noch nicht. Einige vielversprechende klinische Beobachtungen und offene Studien [6] geben allerdings Anlass zur Hoffnung, dass auch diesen Patienten in Zukunft geholfen werden kann.

Trizyklische Antidepressiva

Diese Substanzen blockieren die Wiederaufnahme der monoaminergen Transmitter im Rückenmark. Dadurch wird der Effekt dieser biogenen Amine, die in schmerzmodulierenden deszendierenden Bahnsystemen vorkommen, aktiviert. Weiterhin blockieren diese Substanzen spannungsabhängige Kaliumkanäle und haben sympatholytische Eigenschaften.

In placebokontrollierten Studien ist die Wirksamkeit verschiedener Antidepressiva bei neuropathischen Schmerzsyndromen nachgewiesen worden. Amitriptylin, ein Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, ist zurzeit die am besten untersuchte Substanz. In mehreren kontrollierten Studien konnte ein positiver Effekt bei der postzosterischen Neuralgie und der diabetischen Neuropathie gezeigt werden. Alle neuropathischen Schmerztypen, und zwar der brennende Spontanschmerz, einschießende Schmerzattacken sowie Allodynie, werden unterdrückt.

Die mittlere Dosis, die zur Schmerzreduktion notwendig ist, liegt unter der antidepressiven Dosis. Der Schmerzreduktion liegt deshalb offenbar keine antidepressive Wirkung zugrunde. Auch setzt die Schmerzreduktion nach einigen Tagen bis 2 Wochen ein, wohingegen eine antidepressive Wirkung bei höherer Dosis erst nach einigen Wochen sichtbar wird.

Antikonvulsiva mit membranstabilisierender Wirkung (Na-Kanal-Blocker)

Carbamazepin und Oxcarbazepin blockieren spannungsabhängige Natriumkanäle auf sensibilisierten nozizeptiven Neuronen mit ektoper Erregungsausbildung im peripheren und zentralen Nervensystem.

Seit langem ist der gute Effekt des Carbamazepin bei der typischen Trigeminusneuralgie bekannt. Positive Studien sind ebenfalls für die schmerzhafte diabetische Polyneuropathie und zentrale neuropathische Schmerzsyndrome veröffentlicht. Nach dem klinischen Eindruck sind sie besonders bei einschießenden oder getriggerten Schmerzen effizient. Oxcarbazepin stellt v. a. bei pharmakologischen Interaktionen (z. B. mit oralen Antikoagulanzien) und in Bezug auf die Hepatotoxizität und allergischen Reaktionen eine Alternative zu Carbamazepin dar.

Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kalziumkanäle

Gabapentin und Pregabalin binden an die α2δ-Subunit der spannungsabhängigen L-Typ-Kalziumkanäle und können so zentrale Sensibilisierungsvorgänge beeinflussen. Beide Substanzen wirken nur wenig über eine Interaktion mit dem GABA-Rezeptor.

Es liegen positive Studien für die schmerzhafte Polyneuropathie und die postzosterische Neuralgie sowie für eine Vielzahl anderer Neuropathien unterschiedlichster Genese vor. Eine Studie konnte insbesondere eine Verbesserung des Brennschmerzes und der Hyperalgesie nachweisen [12].

Einige klinische Studiendaten legen nahe, dass Pregabalin für die Behandlung des „mixed pain“ sinnvoll sein könnte. Pregabalin wird bis auf eine anfängliche Müdigkeit und Schwindel gut vertragen, und es sind keine Medikamenteninteraktionen bekannt. Die Substanz hat eine klare Pharmakokinetik mit einem schnellen Wirkeintritt innerhalb der ersten Tage und scheint insgesamt einfacher handhabbar zu sein als Gabapentin. Pregabalin führt zu einer deutlichen Zunahme des REM-Schlafs und hat einen schlaffördernden und anxiolytischen Effekt. Diese Vorteile können zur Behandlung der häufigen im Zusammenhang mit der Lumboischialgie auftretetenden Komorbiditäten, Schlafstörung und Angst, ausgenutzt werden.

Immunmodulierende Substanzen

Vor dem Hintergrund des entzündlich-neuropathischen Schmerzkonzeptes könnten zukünftig Substanzen, die die Freisetzung von Zytokinen im peripheren und zentralen Nervensystem regulieren, in den Fokus des Interesses rücken. Aber bereits heute existieren in diesem Zusammenhang einige interessante Erkenntnisse. Untersuchungen bei Patienten mit Depressionen konnten eine Reduktion der TNF-α-Serumspiegeln unter der Therapie mit Amitriptylin zeigen [8]. Ebenso wird ein immunmodulierender Effekt für Antikonvulsiva [3] und Opioide [16] vermutet.

Fazit für die Praxis

Die Ergebnisse tierexperimenteller und humaner Studien geben zahlreiche Hinweise darauf, dass bei der Lumboischialgie neben rein nozizeptiven Schmerzentstehungsmechanismen auch Mechanismen wirken, die neuropathische Schmerzen auslösen und unterhalten können.

Bei den neuropathischen Formen können neu in die Bandscheibe eingesprossene Nozizeptoren durch degenerative Veränderungen geschädigt werden. Weiterhin kann die Nervenwurzel einerseits durch eine mechanische Bedrängung verletzt werden (mechanisch-neuropathischer Nervenwurzelschmerz). Andererseits können entzündliche Mediatoren aus der degenerierten Bandscheibe die Nervenwurzel chemisch schädigen, ohne dass eine eigentliche mechanische Kompression vorliegt (entzündlich-neuropathischer Nervenwurzelschmerz). Pathophysiologisch ist von einer Kombination struktureller, biochemischer und physiologischer Veränderungen im peripheren und zentralen Nervensystem auszugehen, die als gemeinsame Endstrecke das klinische Bild der chronischen Lumboischialgie bedingt („mixed pain“).

Zur effektiveren Therapie und eventuell auch mit dem Ziel, eine Chronifizierung der Schmerzen zu verhindern, sollte bei der Lumboischialgie auch über eine medikamentöse Therapie mit nachweislich bei neuropathischen Schmerzen wirksamen Medikamenten diskutiert werden. Dies gilt insbesondere jedoch für bislang therapierefraktäre Patienten.

In Kombination mit nichtsteroidalen Antiphlogistika sollten Carbamazepin, Gabapentin oder Pregabalin bzw. alternativ Amitriptylin unter Beachtung möglicher Nebenwirkungen und Kontraindikationen zuerst Verwendung finden. Sollten diese nicht die gewünschte Wirkung erzielen, können Opioide eingesetzt werden.

Zur Sicherung des konservativen medikamentösen Behandlungserfolgs ist es notwendig, durch kontrollierte Studien für jedes Medikament die Wirksamkeit in der Behandlung der neuropathischen Komponenten der Lumboischialgie zu dokumentieren.