Deutsche Urologie nach 1945 in beiden deutschen Staaten

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis etwa in die späten 1970er Jahre etablierte sich die Urologie in beiden deutschen Staaten. Sie wurde als Fachdisziplin durch die Einrichtung von Lehrstühlen an allen medizinischen Fakultäten bzw. medizinischen Akademien institutionalisiert und erhielt 1966 in der DDR und 1970 in der Bundesrepublik als selbständiges Lehr- und Prüfungsfach einen festen Platz im Curriculum für Medizinstudenten [1]. Die bisher allgemeinchirurgisch dominierte Facharztausbildung wurde systematisiert, es wurden verstärkt spezialisierte Fachkliniken aufgebaut und bestehende erweitert. Auch der (Wieder-)Anschluss an die internationale Forschung und deren Netzwerke konnte vollzogen werden [2]. Der im 19. Jahrhundert begonnene Prozess der Fachdifferenzierung war somit innerhalb von zwei Generationen abgeschlossen.

Im Rahmen von medizinhistorischen Analysen zur Medizin nach 1945 in beiden deutschen Staaten beschäftigen sich nur wenige Untersuchungen mit den einzelnen medizinischen Fachgebieten und den wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Es wurden bisher v. a. generelle Fragen der Gesundheits- oder Wissenschaftspolitik untersucht [3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10]. Auch in ersten historischen urologischen Darstellungen in Ost und West wurde eher das Gesundheitssystem analysiert [11, 12, 13, 14]. Aus diesem Grunde initiierte die Deutsche Gesellschaft für Urologie im Jahre 2011 ein interdisziplinäres, multinationales Forschungsprojekt „Urologie in Deutschland 1945–1990“ in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm, das sich an das Projekt „Urologie im Nationalsozialismus“ anschließt [15], um diese Entwicklungen umfassend und systematisch – besonders im deutsch-deutschen Vergleich und im internationalen Kontext – zu analysieren. In diesem Zusammenhang kann für viele Bereiche noch Zeitzeugenwissen gesichert werden, das für die Dekodierung und Einordnung von Akten und Veröffentlichungen überaus wertvoll ist.

Das Fachgebiet der Urologie kann dabei als Modellbeispiel für die Entwicklung medizinischer Fachkulturen in beiden deutschen Staaten und deren Wissenschaftsbeziehungen verstanden werden. Vor dem Hintergrund der politischen Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West lassen sich die Professionalisierung, die Teilhabe am internationalen Forschungsdiskurs sowie die Technisierung und deren determinierender Einfluss auf die klinische Praxis untersuchen. Erkenntnisleitend ist die These, dass in der Urologie vor und auch nach dem Mauerbau 1961 ein ausgeprägter Verflechtungsraum bestand.

In diesem Beitrag sollen über einen biographischen Zugang exemplarisch die trotz etablierter Zweistaatlichkeit engen Kontakte in der Urologie analysiert werden. Als Beispiel dient das deutsch-deutsche Wirken von Martin Stolze, dem ersten Lehrstuhlinhaber für Urologie nach 1945 und Präsidenten des faktisch letzten gesamtdeutschen Urologen-Kongresses vor 1990, der im Jahre 1959 in Ost- und West-Berlin stattfand. Faktisch, weil 1961 im Programm der Tagung in Köln mehrere Referate von Urologen aus der DDR (u. a. M. Stolze und H.-J. Schneider, Jena) aufgeführt waren und dann auch zu Protokoll gegeben wurden [16]. Insbesondere die überlieferte wissenschaftliche Korrespondenz von Martin Stolze ermöglicht die Rekonstruktion persönlicher und formeller Vernetzungen zur Vorbereitung und Durchführung eines solchen wissenschaftlichen Kongresses unter den speziellen Bedingungen einer politischen Systemkonkurrenz, wie sie sich insbesondere in Berlin vor und nach dem Mauerbau manifestierte [17, 18].

Ausgehend von der wissenschaftlichen Ausbildung und Sozialisation Stolzes werden Elemente des institutionellen Fortbestehens der „scientific community“ in der Medizin aufgezeigt. Es handelt sich dabei um erste Forschungsergebnisse auf Grundlage einer knappen Quellenlage, u. a. aus Egodokumenten aus dem neu erschlossenen Nachlass Stolzes, die durch die begonnene – Fragebogen gestützte – Heranziehung von Zeitzeugen erweitertet werden soll. Methodisch wird die qualitative Quelleninterpretation durch einen eine relationale Betrachtungsweise einnehmenden netzwerkanalytischen Zugang ergänzt. Dabei ist methodenkritisch zu bedenken, dass die egozentrierte Netzwerkanalyse sich insbesondere in historischer Perspektive tatsächlichen Verflechtungen immer nur annähern kann [19]. Auch müssen retrospektiv konstruierte Netzwerke nicht notwendigerweise die zeitgenössische Wahrnehmung der Akteure spiegeln [20].

Wissenschaftliche Ausbildung Sozialisation und Ausbildung

Martin Stolze (1900–1989) wurde in Helbra (Mansfeld, Südharz) als Sohn eines Pfarrers geboren. Nach humanistischer Schulausbildung in Magdeburg und Eisleben (Abb. 1) begann er nach dem Ersten Weltkrieg 1919 ein Studium der Humanmedizin in Halle. Stolze gehörte damit der ersten sog. „Kriegsjugendgeneration“ des 20. Jahrhunderts an [21].

Abb. 1
figure 1

Luthergymnasium in Eisleben am Schloßplatz um 1910. (Sammlung Moll, Repro Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Nach einigen Semestern in München und Würzburg (Abb. 2) legte er 1924 in Halle/Saale sein Staatsexamen ab und 1 Jahr später mit einer urologischen Arbeit über Blasenhernien bei Martin Stieda (1875–1966) promoviert [22].

Abb. 2
figure 2

Studiennachweis für Martin Stolze. (Repro Universitätsarchiv Würzburg, mit freundl. Genehmigung)

Stolze stand mit seinem Medizinstudium in der Tradition seines Onkels Otto Kneise (1875–1953), bei dem er auch seine Medizinalpraktikantenzeit ableistete (Abb. 3, [23]).

Abb. 3
figure 3

Otto Kneise 1875–1953. (Museum und Archiv, Deutsche Gesellschaft für Urologie, Repro Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Kneise, der ebenfalls in Halle studiert hatte, war zunächst Assistent an der Universitätsfrauenklinik in Halle gewesen. Angeregt durch seine akademischen Lehrer Hermann Fehling (1847–1925) und Ernst Bumm (1858–1925) beschäftigte er sich in seinen Forschungen mit dem Grenzgebiet der Uro-Gynäkologie und deren Komplikationen wie Fisteln und UreterverletzungenFootnote 1. In diesem Zusammenhang veröffentlichte er grundlegende, häufig in mehreren Auflagen erschienene Werke zur urologischen Diagnostik, insbesondere zur Zystoskopie [24, 25]. Hervorzuheben ist der Handatlas zur Cystoskopie (1. Aufl. 1908), an dessen 3. und 4. Auflage auch Stolze mitwirkte [26].

1905 hatte er in Halle zunächst die Privatklinik „Heilanstalt Grünstraße“ mit 50 Betten eingerichtet, in deren Fortführung 1911 von Halleschen Ärzten die Privatklinik Weidenplan zur Behandlung selbstzahlender Patienten gegründet wurde (Abb. 4, Abb. 5). Im Jahre 1918 habilitiertFootnote 2, erhielt Kneise 1922 den Professorentitel an der Friedrichs-Universität Halle.

Abb. 4
figure 4

Ansichten von Krankenhäusern waren bis in die 1990er Jahre ein gängiges Postkartenmotiv. Diese Karte aus der Gründungsepoche der Heilanstalt Weidenplan wurde 1914, als die Klinik Reservelazarett war, versendet. (Sammlung Moll, Repro Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Abb. 5
figure 5

Die Heilanstalt Weidenplan wurde als GmbH geführt, die Anteile hielten Universitätsprofessoren, wie der Chirurg Friedrich Haasler (1863–1948), Leo Mohr (1874–1918), Leiter der Med. Universitätspoliklinik und der Internist Otto Frese (1871–1955). Hier ein Anteilsschein von Martin Stieda (1875–1966), Ausgabedatum 01.09.1918, der nach dem Weggang von Friedrich Voelcker die chirurgische Vorlesung hielt und seit 1919 im Hause tätig war und zu Otto Kneise enge Kontakte besaß. (Sammlung Moll, Repro Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Stolze, der in dieser Privatklinik ein breites klinisches Behandlungsspektrum von der allgemeinen Chirurgie über die Gynäkologie bis zur Urologie kennen lernte, sollte später genau von hier aus seine relativ späte Karriere als erfolgreicher urologischer Operateur beginnen und großen Einfluss auf die urologische Fachentwicklung in der 1950er Jahren in Deutschland nehmen.

Zunächst komplettierte er seine fachärztliche operative Ausbildung bis 1931 bei dem August Bier-Schüler Viktor Schmieden (1874–1945) in Frankfurt und Karl Scheele (1884–1966) in Essen. Beide waren zuvor in Halle tätig gewesen und pflegten weiterhin enge Beziehungen zur Klinik Weidenplan. Auf endoskopischem Gebiet bildete er sich anschließend zwischen 1931 und 1933 bei E.R.W. Frank in Berlin in den zu dieser Zeit sich verstärkt etablierenden transurethralen Techniken fort. Frank hatte schon 1911 Koagulationen mit Knopfelektroden und bipolarem Hochfrequenzstrom ausgeführt und war bei seinen in- und ausländischen Kollegen v. a. für sein Konzept der Irrigationsbehandlung der Gonorrhoe gut bekannt [27, 28, 29, 30]Footnote 3.

Diesem Ausbildungsweg entsprechend waren Stolzes wissenschaftliche Veröffentlichungen operativ ausgerichtet [31, 32]. Früh erkannte er die Möglichkeiten der Laparoskopie und empfahl den Einsatz dieser Technik bei der Indikation zur explorativen Laparotomie besonders bei Erkrankungen der Leber, chronischen Störungen der Passage und Tumorkrankheiten [33, 34]. Seine diesbezüglichen Arbeiten wurden noch 1982 in einem Handbuch zur chirurgischen Laparoskopie zitiert [35]. Auch wenn der Einfluss Kneises auf die wissenschaftliche Ausbildung seines Neffen an bedeutenden chirurgischen Kliniken der Zeit unübersehbar ist, ergab sich keine Universitätskarriere für Stolze in der Chirurgie. Auch eine Spezialisierung auf das Fach Urologie war trotz der urologisch-endoskopischen Weiterbildung und der erwähnten Publikationen, anders als es biographische Skizzen zu Stolze nahelegen (z. B. im Nekrolog), keineswegs vorgegeben [36].

In Dresden trat Stolze 1933 in eine kleine chirurgische Privatklinik mit 20 Betten ein, die er 1934 erwarb und bis zur Zerstörung ihrer Räumlichkeiten in Folge des Bombardements Dresdens 1945 leiteteFootnote 4 [37]. In seiner Autobiographie beschrieb Stolze das bis dahin auf die „landläufigen chirurgischen Eingriffe der Magen-Darm-Chirurgie“ beschränkte operative Leistungsspektrum der Klinik und seinen Ehrgeiz „der kleinen Klinik ein breiteres Repertoire zu bieten“Footnote 5. In seiner Frankfurter Zeit als Assistent von Schmieden hatte er die Einführung der i. v.-Narkosemittel miterlebt und etablierte auf Grundlage dieser Erfahrungen Evipan® [38, 39] als Basisnarkose an seiner Klinik, was offenbar eine großen Patientenzuspruch nach sich zog, zumal die großen Dresdner Krankenhäuser nach Stolzes Eindruck mit Evipan® eher zurückhaltend umgingenFootnote 6. In dieser Zeit publizierte er nur eine kurze Fallgeschichte, allerdings auch seine erste Publikation in der Zeitschrift für Urologie [40].

Während des Zweiten Weltkrieges war er in verschiedenen Lazaretten tätig, bekam das „Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse mit Schwertern“ verliehenFootnote 7 und wurde 1942 zum Stabsarzt der Reserve befördertFootnote 8. Obwohl oder vielleicht auch weil Stolze seit 1937 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 5817767) und auch SA-Arzt warFootnote 9, betonte er in seinen unveröffentlichten Lebenserinnerungen recht auffällig „bis zu Beginn des Krieges wiederholt Juden“ behandelt zu haben, „was ja damals tatsächlich schon äußerst gefahrbringend war“Footnote 10.

Neuanfang in der Klinik am Weidenplan in Halle

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges und seiner Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft kehrte Stolze 1946 als Assistent an die Klinik Weidenplan zurück. Er begründete diesen Schritt mit der Zerstörung seiner Klinik in Dresden, den bestehenden familiären Bindungen an Halle und dem fortgeschrittenen Alter seines Onkels Otto KneiseFootnote 11. Auch wenn an der Klinik zunächst Emil Hienzsch (1914–1988), später Ordinarius für Urologie in Jena und intensiver Korrespondenzpartner von Stolze in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren, die urologischen Fälle betreute, bedeutete dieser berufliche Neubeginn für Stolze auch die endgültige Hinwendung zur Urologie.

Seine Facharztanerkennung für Urologie erhielt Stolze 1947 und habilitierte sich 1950 an der Universität Halle für das Fach Urologie über die Harnableitung nach Coffey-MayoFootnote 12 [41]. Diese Untersuchung zur Implementierung sicherer Operationsmethoden zur Harnableitung unter Nutzung von nun verfügbaren Antibiotika gehörte zu den damals aktuellen urologischen Forschungsthemen, insbesondere im Selbstverständnis der Urologen in ihrer Abgrenzung zur Chirurgie. Das Co-Referat zur Habilitationsschrift hatte wiederum Otto Kneise verfasst, der in seinem positiven Gutachten die klinische Ausrichtung seines Neffen prägnant zum Ausdruck brachte: „Es ist keine theoretische, aber eine für die armen Kranken sehr bedeutungsvolle klinische [Herv. i. Orig.; Anm. d. Verf.] experimentelle Arbeit“Footnote 13.

Kneise selbst hatte den politischen Systemwechsel unbeschadet überstanden. Lediglich nach eigener Aussage in einem Personalfragebogen der Fakultät war er ein „Feind des Nazi-Regimes“ gewesen. Er gab an, mehrfach von der Gestapo verhört worden, „wegen Heimtücke gegen den Führer angeklagt“ gewesen und „nur um Haaresbreite am Konzentrationslager vorbeigegangen“ zu seinFootnote 14. Ferner sei er bis 1933 Mitglied der DNVP und seit 1900 bis zur Auflösung im Reichskriegerbund organisiert gewesenFootnote 15. Letzterer wurde nach 1933 zunächst gleichgeschaltet, dann 1934 in die SA-Reserve II überführt und erst 1943 auf Reichsebene aufgelöstFootnote 16. Die Äußerungen Kneises zu politischen Betätigungen und Mitgliedschaften während des Nationalsozialismus müssen dabei vor dem Hintergrund der veränderten politischen Verhältnisse gesehen werden. In einem Schreiben der Provinzialregierung Sachsen-Anhalt an die Deutsche Verwaltung für Volksbildung der sowjetischen Besatzungszone vom 16.03.1948 wird DNVP bestätigt. Im Wiederspruch zu den eigenen Angaben Kneises heißt es dort, ab 1923 habe Kneise dem Stahlhelm und 1933–1935 der oben genannten SA-Reserve II angehörtFootnote 17. Trotz dieser etwas unklaren Sachlage hatte die Universität Halle Kneises Lehrauftrag schon 1947 erneuert, ab 1949 erhielt er eine EhrenpensionFootnote 18 [42].

Auch der Status seiner Privatklinik blieb zunächst in der SBZ und dann in der DDR unangetastet, eine politische Praxis, die trotz propagiertem „Aufbau des Sozialismus“ und Mangel an Versorgungseinrichtungen bis Ende der 1950er Jahre für viele Privatkliniken galt [43]. In dieser Zeit vollzog sich eine Verlagerung der klinischen Schwerpunkte: „Die rein gynäkologisch operative Tätigkeit war eigentlich schon kurz nach dem Kriege weitgehend in den Hintergrund getreten, da das urologische Krankengut bei weitem im Vordergrund stand“Footnote 19.

Aufgrund sehr geringer Verpflegungssätze sahen sich die Gesellschafter privater Krankenhäuser schon bald nicht mehr in der Lage, den Bestand ihrer Einrichtungen sicher zustellen. Im Falle der Klinik Weidenplan erfolgte die Übernahme – eine verdeckte Verstaatlichung – durch Kommune und Staat im Jahr 1958Footnote 20. Die aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten bis dahin ausgebliebenen Investitionen in die bauliche Substanz und medizintechnische Infrastruktur hatten nun eine fast einjährige Umbauphase zur Folge. Im August 1959 wurde der Weidenplan als zur „Poliklinik Nord“ gehörendes Bettenhaus mit chirurgischer und urologischer Abteilung wiedereröffnet. Jede Abteilung verfügte über 65 BettenFootnote 21. Generell lösten Polikliniken ab 1949 in der ehemaligen DDR die privat- und kassenärztliche ambulante Behandlung ab und fassten verschiedene Fachärzte in einer Großpraxis zusammen. Weitere Funktionsbereiche wie Labor und Röntgen waren angeschlossen. Daneben gab es auch sog. „Staatliche Arztpraxen“, die häufig einer Poliklinik unterstellt waren. Neue Niederlassungsgenehmigungen wurden für Ärzte nicht ausgestellt [44]. Weitere 10 Jahre später wurde die Klinik Weidenplan dem Bezirkskrankenhaus Dölau zugeordnet und war von da an eine ausschließlich urologische Klinik mit insgesamt 116 Betten.

Als Kneise starb, übernahm Stolze die Leitung von seinem Onkel. Von 1953–1970 leitete er die Klinik und beschrieb in seiner Autobiographie ihre weitere Entwicklung. Trotz des Verlustes von Autonomie und Eigentum betonte Stolze die Vorteile dieser institutionellen Umbrüche, etwa eine Verbesserung der medizinischen Versorgungslage nach 1958:

„Die vom Staat nunmehr dem Gesundheitswesen zur Verfügung gestellten Mittel erlaubten es nun endlich auch, die relativ teure Antibiotikatherapie einzuführen“Footnote 22. Zugleich konnte Stolze nach eigenen Angaben wieder eine ganze Anzahl an Assistenten beschäftigen: „Mit der Zunahme der Assistentenschaft konnte nun auch das wissenschaftliche Leben erst einmal richtig in Angriff genommen werden“Footnote 23. Diese retrospektive Selbstwahrnehmung scheint zumindest in Bezug auf seine eigene wissenschaftliche Tätigkeit zutreffend gewesen zu sein. Er publizierte bis ins hohe Alter, so verfasste er 1982 im DDR-Handbuch für Urologie das Kapitel „Notizen zur historischen Entwicklung der Zystoskopie: transurethrale Urologie“ [45].

Bereits 1955 war er zum außerordentlichen Professor ernannt und dann 1958 zum Ordinarius für Urologie der Martin Luther Universität Halle berufen worden, der „bürgerlichsten Universität der DDR“ [46, 47]. In dieser Zeit war die hochschulpolitische Situation in Halle durch öffentliche Auseinandersetzungen zwischen führenden SED-Mitgliedern und konservativen Professoren sehr angespannt [48]. Schon 1949 waren mit der so genannten „Zentralen Arbeitsordnung“ für die Hochschulen in der SBZ bzw. späteren DDR einheitliche Regelungen geschaffen worden, die vorsahen, dass bestimmte Positionen (Verwaltungsdirektor/Kurator) nicht mehr durch Wahl, sondern durch Ernennung durch den Minister bestimmt wurden [49, 50]. Es setzte eine Politisierung der Wissenschaften ein, die ideologische Vorgaben, politische Kampagnen und Kontrollmechanismen umfasste [51]. Dennoch hatten die Universitäten zunächst einen gewissen Spielraum in der Personalpolitik, erst Ende der 1950er Jahre ersetzte die Kaderplanung an den Hochschulen der DDR das reguläre Berufungsverfahren [52]. In den 1960er Jahren kamen dann auch Wissenschaftler auf Hochschullehrerstellen, die in der DDR-Zeit ausgebildet worden waren [53]. Zu dieser Generation gehörten auch Stolzes Schüler wie Horst Battke (geb. 1927), später Ordinarius für Urologie an der Medizinischen Akademie Erfurt [54] sowie Hans-Joachim Schneider, später Ordinarius für Urologie an der Friedrich- Schiller Universität Jena [55].

Für einige Jahre war Stolze Konsiliarius am Regierungskrankenhaus der DDR in Berlin, das über keine eigene urologische Abteilung verfügte und ausschließlich Mitglieder der Regierung, des SED-Zentralkomitees und des Politbüros, Staatssekretäre, ausländische Diplomaten, Staatsgäste sowie die Angehörigen hoher SED-Funktionäre behandelte – was als Sinnbild für eine „Zwei-Klassen-Medizin“ im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat interpretiert werden kann [56]. Die Urologie in Berlin hatte durch den Verlust des Ringleb’schen Lehrstuhls an der Charité insgesamt zeitweise etwas an Strahlkraft verloren [57]. Dennoch führten die urologischen Abteilungen der Chirurgischen Klinik an der Charité, an St. Hedwig und in Friedrichshain, die Traditionslinien aus der Gründungsphase der deutschen Urologie fort [58].

Der Umstand, dass die Klinik Weidenplan in den 1950er und 1960er Jahren trotz ihrer bürgerlichen Tradition als Privatklinik im nun zentralstaatlich organisierten Gesundheitswesen [59] eine starke Position einnahm, ist vor diesem Hintergrund auch auf das medizinische Renommee Stolzes zurückzuführen. Über die Person Kneise war Stolze zugleich mit dem gesamtdeutschen Netzwerk führender Urologen verbunden, das bis zum Mauerbau trotz der politischen Hindernisse weiterhin intakt war und teilweise sogar über die deutsch-deutsche Grenze hinweg ausgebaut werden konnte. Die Abwanderung von etwa der Hälfte aller Ärzte in den Westen verstärkte die Abhängigkeit von den verbliebenen Medizinern und erlaubte einem Teil der bildungsbürgerlichen ärztlichen Elite zumindest Elemente ihres Lebensstils und ihrer Wertevorstellungen auch im sozialistischen Gesundheitswesen fortzuführen [60, 61, 62]. Dieser Befund gilt auch für Kneise und Stolze, der in einer großbürgerlichen Wohnung in der Nähe „seiner“ Klinik residierteFootnote 24.

Wiederbelebung der institutionalisierten Urologie

Aus Halle kamen aus dieser besonderen personellen und institutionellen Konstellation heraus auch wichtige Impulse zur Wiederbelebung der institutionalisierten Urologie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. 1947 hatte Kneise, schon vor 1933 Mitherausgeber, die Wiederaufnahme der Zeitschrift für Urologie betrieben und 1947 die erste Nachkriegsausgabe veröffentlicht. In seinem Lebenslauf von 1946 bezeichnete er sich als Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für UrologieFootnote 25, was sich wohl allein auf die Vorkriegsgesellschaft bezogen haben konnte, da die Gesellschaft sich erst 1949 neu konstituierte [63] – und Kneise sofort als Ehrenmitglied führte [64].

Ebenfalls 1949 wurde mit Hans Boeminghaus (1893–1979) ein weiterer Initiator der Neugründung der DGU neben Kneise Mitherausgeber der Zeitschrift für Urologie. Nur wenige Jahre älter als Stolze, hatte er schon ab Mitte der 1920er Jahre zahlreiche Originalarbeiten und Handbuchartikel veröffentlicht und spielte spätestens ab 1935 auch institutionell eine wichtige Rolle in der deutschen Urologie. Seine Tätigkeit während der Zeit des Nationalsozialismus, aber auch in der Nachkriegszeit ist ausführlich untersucht worden [65, 66, 67]. Kneise kannte Boeminghaus wohl schon aus dessen Assistentenzeit an der Chirurgischen Universitätsklinik in Halle (1920–1929). Dass Stolze, erst seit 2 Jahren überhaupt Facharzt für Urologie, zeitgleich die Mitherausgeberschaft der wichtigsten deutschen urologischen Fachzeitschrift antreten konnte, kann auf die Absicht Kneises zurückgeführt werden, seinen Neffen auch hier als Nachfolger zu installieren. In der Mitteilung des Verlags, dass die Sowjetische Militäradministration Stolze als Mitherausgeber der Zeitschrift für Urologie bestätigt habe, wird das Interesse des Verlags an dieser Konstellation deutlich: „Ein besonders glücklicher Umstand dürfte für Sie wohl darin zu erblicken sein, daß es Ihnen vergönnt ist, an der Seite eines so versierten Schriftleiters, wie wir ihn in der Person von Herrn Prof. Kneise zu verzeichnen haben, in der Redaktionsführung mitzuwirken. Gerade in Anbetracht seines hohen Alters ist es jedoch auch eine ernste Pflicht für uns, ihn weitestgehend bei der dieser Federführung zu entlasten. Wenn Ihnen das gelingt, so wird Ihnen das dereinst die gesamte Urologie bestimmt aufrichtig danken“Footnote 26. Nach dem Tod Kneises nur vier Jahre später, übernahm dann Boeminghaus die Schriftleitung. Die Zusammenarbeit von Stolze und Boeminghaus erwies sich als sehr stabil und endete erst 1972, als Boeminghaus der Vertrag als Mitherausgeber der Zeitschrift gekündigt wurde [68]. Im Zusammenhang mit der u. a. von dem damaligen Vorsitzenden der 1962 gegründeten Gesellschaft für Urologie (bis 1968 Arbeitsgemeinschaft der Urologen in der DDR) Moritz Mebel forcierten Eigenständigkeit der DDR-Urologie, nahm der VEB Georg Thieme-Verlag eine „Reorganisation“ der Zeitschrift für Urologie vor: „Nach langen Überlegungen hat der Verlag sich entschlossen, die obige Zeitschrift ab Heft 1/73 als Organ der der Gesellschaft für Urologie und der für Nephrologie in der DDR herauszugeben. […] Mit dem Anschluss der Zeitschrift an die vorgenannten beiden Fachgesellschaften in der DDR ergibt sich aus der Sicht des Verlages logischerweise die Konsequenz, das Herausgeber- bzw. Redaktionsgremium ausschließlich mit Urologen und Nephrologen aus unserer Republik zu besetzen“Footnote 27.

Vor dem Hintergrund seiner institutionellen Einbindung und seiner wissenschaftlich-klinischen Reputation erlangte Stolze insbesondere in den Jahren vor dem Mauerbau enormen Einfluss in der gesamtdeutschen Urologie, der 1957 in der Wahl zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Urologie einen Höhepunkt fand (Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

Martin Stolze (1900–1989), um 1960. (Museum und Archiv der DGU, Düsseldorf, Repro Keyn, mit freundl. Genehmigung)

DGU-Präsident und Leitung des 18. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Urologie vom 7. bis 12. September 1959 in Berlin

Während des Wiener Nachkriegskongresses der DGU 1957 war Martin Stolze, der erst 1955 als Ausschussmitglied in den Vorstand aufgenommen worden war, als nachfolgender Präsident bestimmt worden. Der Kongressort Berlin zur traditionellen Turnusaufnahme Berlin-Wien stand schon aus früheren Erörterungen fest [69]. In der Abstimmung in Wien war Ferdinand May (1896–1977), der einen Kongress nur in München abhalten wollte und bereits 1949 Kongresspräsident gewesen war, unterlegen. Stolze bezeichnete diese Wahl später als „besonderen Einschnitt“ in seinem Berufsleben: „Die Situation sprach nicht besonders zu meinen Gunsten, denn es bahnten sich damals Schwierigkeiten mit der Situation in Westberlin an, aber die Frage des amtierenden Präsidenten Deuticke, ob ich garantieren könnte, die Tagung in Berlin durchzuführen, habe ich ohne Bedenken mit „Ja“ beantwortet. Dieses „Ja“ war relativ riskant, denn es war selbstverständlich, daß der Kongress in beiden Sektoren Berlins durchgeführt werden musste“Footnote 28.

Eine Rolle bei der Entscheidung zugunsten Stolzes dürften auch die oben geschilderte Tradition des Weidenplans, seine a.o. Professur für Urologie und die Tatsache gespielt haben, dass seit Kriegsende nur westdeutsche bzw. österreichische Urologen der Gesellschaft vorgestanden hatten und von den ostdeutschen Urologen damals lediglich noch Johannes Keller (1899–1970) aus Dresden dem Vorstand angehörte [70]. Dennoch scheint die Wahl aber doch eher spontan auf Stolze gefallen zu sein. Auf der ordentlichen Vorstandssitzung vom Mai 1957 war immerhin ein eigener Tagesordnungspunkt der Frage des neuen Präsidenten gewidmet gewesen (vgl. VII. in Abb. 7). Noch im Juli hatte Stolze dann in einem Brief an seinen alten Lehrer Scheele angedeutet, dass vielleicht „in 4 Jahren einmal in Berlin getagt wird, wobei [er] dann die Ehre der Präsidentschaft hätte“Footnote 29.

Abb. 7
figure 7

Tagesordnung zur ordentlichen Vorstandssitzung am 14.05.1957 in München. (Archiv der DGU, Düsseldorf, Nachlass Stolze, Repro Halling, mit freundl. Genehmigung)

Aus dem erhaltenen Schriftwechsel den Stolze zwischen 1958 und 1960 mit Fachkollegen zum Kongress führte, lassen sich Grundzüge des Organisationsablaufs sowie Funktion und Bedeutung der beteiligten Personen rekonstruieren, die auch den Einfluss staatlicher Stellen reflektieren (Abb. 8). So beanspruchte das DDR-Ministerium für Gesundheitswesen die Federführung hinsichtlich der Vorbereitung und Durchführung der TagungFootnote 30. Schon Ende 1958 musste Stolze dem Ministerium eine Aufstellung der Hauptreferate vorlegenFootnote 31.

Abb. 8
figure 8

Schreiben Stolzes an Koch mit Bekanntgabe der Hauptreferate. (Archiv der DGU, Düsseldorf, Nachlass Stolze, Repro Halling, mit freundl. Genehmigung)

Zum engeren Kreis des Organisationsteams gehörten einerseits die Vorstandskollegen Theodor Schultheiß (1900–1990), Kassenführer der DGU und Carl-Erich Alken (1909–1986), Schriftführer und erster Lehrstuhlinhaber für Urologie im Westen. Vor Ort in Ost-Berlin kamen Erich Hagemann (1912–1991), Leiter der urologischen Abteilung der Chirurgischen Klinik an der Charité, Heinrich Götz, nichtständiges Ausschussmitglied der DGU und Leiter der urologischen Abteilung am Krankenhaus Friedrichshain Footnote 32 und in West-Berlin Rudolf Hellenschmied (1903–1978), Chefarzt der chirurgischen Abteilung am Städtischen Krankenhaus Westend und Mitglied des Lehrkörpers der FU Berlin hinzu.

Schon die Suche nach einem geeigneten Tagungsort scheint offenbar nicht einfach gewesen zu sein. So wurden ehrgeizige Planungen, die neu erbaute Kongresshalle in Westberlin anzumieten, bereits im Vorfeld fallen gelassen, „denn der große Saal ist doch wohl zu groß und der kleine Saal sicher zu klein“Footnote 33. Die Veranstaltungen in Westberlin fanden schließlich in Räumen der Freien Universität statt. An der Charité stellte der Ordinarius für Gynäkologie, Helmut Kraatz (1902–1983) den Hörsaal der Universitätsfrauenklinik zur Verfügung. Mitten in die Planungsphase fiel dann auch noch Stolze Berufung zum Ordinarius. Dies verzögerte Organisationsreisen nach BerlinFootnote 34.

Zu einem kleinen Politikum wurde dann das ursprünglich von Alken entworfene EinladungsschreibenFootnote 35. Nach mehrfachen internen Verzögerungen bei der Aussendung wurde Stolze im Januar 1959 ins DDR-Gesundheitsministerium zitiert, da dort der Begriff „Ostzonenmitglieder“ beanstandet wurdeFootnote 36 (Abb. 9).

Abb. 9
figure 9

Einladung zur 18. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Urologie 1959 in Berlin. Die Bezeichnung „Ostzonenmitglieder“ führte zum Neudruck, der Großteil der Programme war zu diesem Zeitpunkt allerdings schon versandt. (Archiv der DGU, Düsseldorf, Nachlass Stolze, Repro Halling, mit freundl. Genehmigung)

Insgesamt ist von erheblichen administrativen Hürden auszugehen. Das im Sinne einer positiven Außenwirkung in Richtung des „kapitalistischen Auslands“ durchaus offizielles Interesse an einer erfolgreichen Durchführung des Kongress bestand, legt die Zustimmung zum kostenlosen Besuch der Staatsoper Unter den Linden „für Gäste aus der Bundesrepublik und dem Ausland“ durch die Abteilung Internationale Tagungen und Kongresse in der DDR des Staatssekretariats für Hochschulwesen naheFootnote 37 (Abb. 10).

Vor „Figaros Hochzeit“ lag für die Teilnehmer ein ambitioniertes wissenschaftliches Tagungsprogramm. Stolze eröffnete den Kongress mit einem Appell, der in verschiedenen Varianten bis in die frühen 1960er Jahre zum rhetorischen Kernbestand von Begrüßungsansprachen auch bei wissenschaftlichen Kongressen mit Teilnehmern aus beiden deutschen Staaten gehörte, sowohl in West als auch Ost [71, 72]: „Wir dokumentieren mit unserem Berliner Kongreß mit vollem Bewußtsein und mit aller Deutlichkeit die Zusammengehörigkeit der beiden Sektoren und drücken damit auch den Wunsch aus, daß in absehbarer Zeit nicht nur Berlin, sondern auch unser Vaterland wieder eins werde! […] Gerade auf unseren Kongressen hat es sich immer wieder gezeigt, daß, bei aller Würdigung nationaler Eigenheiten unserer ärztlichen Forschung, die medizinische Wissenschaft international ist und daß wir uns alle […] gut auf dieser Basis verstanden haben.“ [73].

Am ersten Verhandlungstag, der mit einem Grundsatzreferat von Kraatz zur Ätiologie, Diagnostik und Therapie der weiblichen Harninkontinenz eingeleitet wurde, widmeten sich ausgewiesene Redner aus beiden deutschen Staaten sowie aus der CSSR und Italien diesem für die Urologie wichtigen Thema und spiegelten auch die wissenschaftlichen Traditionslinien der Klinik Weidenplan. Über die wissenschaftliche Reputation hinaus muss die Einbindung von Kraatz nicht nur wegen der zur Verfügung Stellung des Hörsaals unter strategischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Kraatz, nicht Mitglied der SED, aber des Kulturbundes und des FDGB [74], wirkte am wissenschaftlichen Aufbau der operativen Uro-Gynäkologie innerhalb der DDR maßgeblich mit. 1949 hatte er einen Ruf an die Martin Luther Universität Halle erhalten [75]. 1951 übernahm er dann in Berlin das Ordinariat seines Lehrers Stoeckel und war ab 1956 ordentliches Mitglied bzw. zwischen 1959 und 1961 auch stellvertretender Sekretär der Klasse Medizin der Akademie der Wissenschaften der DDR. 1953 wurde er Mitglied der Leopoldina Halle. Den Titel „Verdienter Arzt des Volkes“ erhielt er bereits 1950. 1960 wurde ihm der Nationalpreis II. Klasse der DDR verliehen [76]. Kraatz und Stolze waren einerseits durch die gemeinsame Zeit in Halle persönlich eng verbunden, andererseits verfügte Kraatz über beste wissenschaftspolitische Kontakte.

Die „Gynäkologische Urologie“ wurde am Folgetag fortgesetzt und am Nachmittag mit einer Sektion über „neurologische und neurochirurgische Probleme in der Urologie“ erweitert. Auch hier präsentierte sich die nun wieder international ausgerichtete deutsche Urologie mit weiteren Beiträgen aus der CSSR, Wien, Bad Wildungen und Hannover. Die Schlussdiskussion von Hans Boeminghaus und Egbert Schmiedt (1920–2011), der später an der LMU München die Urologie verselbständigen sollte, fasste dieses noch neue Forschungsfeld zusammen.

Neben freien Themen und Filmvorführungen an den drei folgenden Kongresstagen widmete sich ein kleiner Block dem zu dieser Zeit aktuellen Thema „Verwendung von Darm in der plastischen Urochirurgie“. Die Rednerliste mit Karl Scheele, dem ehemaligen Lehrer von Martin Stolze, Werner Staehler (1908–1984), später Ordinarius in Tübingen sowie Wolfgang Lutzeyer (1923–2006), später erster Ordinarius der 1966 neu gegründeten Urologischen Universitätsklinik in Aachen, demonstrieren, dass das Kongressprogramm neben Stolzes eigenen wissenschaftlichen Interessen und den klinischen Traditionen der Klinik Weidenplan auch den aktuellen Forschungsdiskursen entsprach. Nicht zuletzt wurde der Kongress seiner Funktion als Forum für strategische Wissenschaftskommunikation und Katalysator für wissenschaftliche Karrieren gerecht [77]. Neun der 16 Lehrstuhlinhaber, die bis 1970 berufen wurden, hielten ein oder sogar mehrere Referate [78]. Lutzeyer und Schmiedt sollten später die Herausgeber der Zeitschrift Der Urologe werden, die in Westdeutschland die Zeitschrift für Urologie ab den 1970er Jahren als Meinungsbildungsorgan ablöste.

Langfristige Kontakte knüpfen konnte auch Hans Reuter (1923–2003) [79], der Filmaufnahmen von der transurethralen Entfernung eines Harnleitersteins und einer Elektroresektion von Blasen- und Prostatatumoren zeigte [80]. Später verfasste er als einer von wenigen westdeutschen Urologen einen Lehrbuchartikel zur endoskopischen Fotodokumentation der Harnwege im mehrbändigen DDR-Lehrbuch zur Urologie [81].

Über den Kongress hinaus verband viele der genannten Akteure, so Boeminghaus (ab 1952), Kraatz (ab 1952), Alken (ab 1971), Lutzeyer (ab 1972) und Stolze (ab 1962) die Mitgliedschaft in der Sektion Chirurgie der Leopoldina (ab 1962). Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina gilt als prägnantes Beispiel für gesamtdeutsche Wissenschaftsbeziehungen [82]. Inwieweit es gelang, in der Sektion Chirurgie urologische Positionen zu vertreten, muss noch untersucht werden.

Abb. 10
figure 10

Auch in der Presse fand der Kongress kurze Erwähnung. Interessant ist die in der Bezeichnung „demokratisches Berlin“ für den Ostsektor von Berlin transportierte Propaganda. Neues Deutschland, Mi. 9. September 1959 (14) 248, 44

In der Nachlese zum 18. Kongress erhielt Stolze viele positive Rückmeldungen, die besonders das „ausgezeichnete Programm“ hervorhobenFootnote 38. Obwohl Stolze in einem Brief an Alken im November 1959 den baldigen Druckbeginn ankündigte, lag der Tagungsband dann erst zum Kongress 1961 vor: „Der Verlag Thieme drängt jetzt zur Eile, weil er außerplanmäßig eine Druckerei zur Verfügung hat, die sofort losdrucken kann“Footnote 39 (Abb. 11).

Abb. 11
figure 11figure 11

Die administrative Abwicklung des Kongresses lag in den Händen von Hagemann. Hier seine Schlussabrechnung vom 15.01.1960. DGU Archiv, Repro Halling, mit freundl. Genehmigung

Fazit

Die Wirkungen des von Stolze organsierten 18. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie im Jahr 1959 können auf drei Analyseebenen beschrieben werden:

  1. 1.

    Wissenschaftliche Kongresse sind immer auch Bestandteil von Wissenschaftspolitik. Dazu gehören insbesondere die Eröffnungsreden, in denen die jeweilige gesellschaftliche Funktion von Wissenschaft zum Ausdruck kommt. Im vorliegenden Fall wurde der DGU-Kongress im Sinne der politischen Systemkonkurrenz instrumentalisiert, die Wissenschaft zum Element der Völkerverständigung stilisiert. Hinzu kamen eine ideologisierende Berichterstattung, die den „demokratischen Teil Berlins“ (den Osten) als Tagungsort betonte, aber auch bewusst-sympathische kleine Gesten, wie die kostenlose Opernaufführrung für die „Gäste aus der Bundesrepublik“.

  2. 2.

    Neben wissenschaftlichen Erkenntnissen sind persönliche Begegnungen eine wesentliche Motivation für eine Teilnahme, vor allem wenn eine Einschränkung der Reisefreiheit, bilaterale Treffen erschweren.

  3. 3.

    Die Durchsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse folgt nicht immer rationaler Logik, sondern ist auch vom strategischen Handeln der Akteure abhängig. Teil dieser Anerkennungsprozesse, denen soziale und intellektuelle Netzwerken zugrunde liegen, sind wissenschaftliche Kongresse, die Möglichkeitsräume schaffen, neue wissenschaftliche Ansätze vorzustellen.

Zusammengenommen begründen diese Faktoren den Stellenwert, der den Jahrestagungen der Fachgesellschaft auch in der Urologie bis in die Gegenwart zugemessen wird. Das hier aufgezeigte Handlungsnetzwerk von Martin Stolze und der Kongress der DGU von 1959 im geteilten Berlin beinhaltete somit wissenschaftssoziologische Konstanten unter außergewöhnlichen politischen Bedingungen.

In seiner Persönlichkeit von Zeitgenossen als unduldsam charakterisiert, hat Otto Kneise einer größeren Zahl von Ärzten – so auch seinem Neffen Martin Stolze – den Weg zur wissenschaftlichen Urologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geebnet (Abb. 12, [83]). Die von ihm begründete Urologenschule an der Klinik Weidenplan kann neben der Berliner Schule aufgrund ihrer guten Vernetzung sicherlich als fachkonstituierend für die deutsche Urologie angesehen werden.

Abb. 12
figure 12

Martin Stolze ungefähr zur Zeit des Urologen- Kongresses, Ölbild, Privatbesitz Dr. K.- J. Stolze, Ulrich Bewersdorff (1920–2008), Universitätszeichenlehrer und freischaffender Maler in Halle. (Repro Stolze, mit freundl. Genehmigung)

Die hier angelegten personelle Verflechtungen und institutionellen Wirkungszusammenhänge übten auch noch auf die deutsche Urologie nach 1945 einen Einfluss aus. Zentrale Handlungsfelder waren jene Krankenhäuser, die schon früh eigenständige urologische Abteilungen gründeten, die Fachgesellschaft (Deutsche Gesellschaft für Urologie) sowie die urologischen Fachzeitschriften. Ein Musterbeispiel, dass die Vernetzung von Institutionen, Organisationen und Personen, die über die deutsch-deutsche Grenze hinweg in der Medizin fortbestanden, aufzeigt, bietet die beschriebene erstaunliche Karriere von Martin Stolze innerhalb von nur 10 Jahren vom niedergelassenen Allgemeinchirurgen zum Facharzt und Privatdozenten für Urologie, dann zum Chefarzt einer über regionale Grenzen hinweg renommierten Privatklinik, schließlich zum Professor mit Lehrauftrag für Urologie an der Universität Halle sowie zum Mitherausgeber eines Standardwerks zur Zystoskopie und der wichtigsten urologischen Fachzeitschrift im deutschen Sprachraum.

Nach seiner Emeritierung 1965 wurde er nach eigenen Angaben 1967 Ehrenmitglied der DGU, ebenso der Gesellschaft für Urologie der DDRFootnote 40 Footnote 41. In den entsprechenden Verzeichnissen der DGU wurde diese Ehrenmitgliedschaft allerdings nicht aufgeführt [84]. Seine Rolle als Knotenpunkt im Netzwerk deutscher Urologen nach 1945 dokumentieren auch die zahlreichen Würdigungen von Fachkollegen [85, 86, 87, 88, 89].