Einleitung

Erst seit den 1990er Jahren erfolgt in Deutschland, bedingt auch durch die Zugänglichkeit von Archiven in der ehemaligen DDR sowie Förderung der Aufarbeitung durch die organisierte Ärzteschaft, eine zunehmend flächendeckende Aufarbeitung der Rolle der medizinischen Wissenschaft im Nationalsozialismus [1, 2].

Die Deutsche Gesellschaft für Urologie initiierte Anfang des Jahres 2009 ein interdisziplinäres, multinationales Forschungsprojekt in enger Zusammenarbeit mit Medizinhistorikern Footnote 1 zur Aufarbeitung des Schicksals ihrer jüdischer Kollegen sowie zur umfangreichen Analyse der Verstrickung der DGU als medizinische Fachgesellschaft in den NS-Staat. Mit Untersuchungen u. a. zu Leopold Casper (1859–1959), Alexander von Lichtenberg (1880–1949) und Eugen Joseph (1879–1933) konnten erste Arbeiten für die Urologie über das Schicksal renommierter jüdischer Urologen in der NS-Zeit vorgelegt sowie Kontakt mit lebenden Angehörigen als Zeichen der Versöhnung aufgenommen werden [3, 4, 5, 6]. Die Thematik der Verstrickung von Mitgliedern der Fachgesellschaft fand in mehreren Publikationen eine umfangreiche Analyse. Weiterhin erscheint hierzu eine Gesamtpublikation [7, 8].

Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen ist wegen der Brisanz des Themas noch immer mit vielen Tabus belegt, doch bleibt es eine überaus wichtige Aufgabe für die Deutsche Gesellschaft für Urologie, das Andenken besonders an die jüdische Kollegen sowie die weiteren Verfolgten vor dem Vergessen zu bewahren.

Während die Biographien von Eugen Joseph, Leopold Casper, Alexander von Lichtenberg bereits seit den 1970er Jahren in mehreren Wellen aufgearbeitet wurden und zumindest deren Schicksal durch Freitod oder Emigration auch lexikalisch erfasst wurde, finden sich zu Paul Rosenstein bisher, abgesehen von einem Beitrag von Voswinckel in der NDB [9, 10]Footnote 2, einer Erwähnung in der Geschichte des Jüdischen Krankenhauses in Berlin [11] sowie einer Arbeit von Rudolf Winau (1937–2006 [12]) zu Berliner Chirurgen leider nur spärliche Hinweise.

Daher soll nach einer erstmals ausführlich vorgestellten Biographie insbesondere seine Flucht und seine Haltung nach dem Zweiten Weltkrieg im folgenden Artikel herausgearbeitet werden.

Leben und wissenschaftliche Entwicklung

Paul Rosenstein wurde am 26. Juli 1875 in Graudenz (Abb. 1), heute Grudzidz, an der Weichsel gelegen, preußische Provinz Westpreußen, Regierungsbezirk Marienwerder, als Sohn des Rabbiners Michael Rosenstein (1834–1902 [13])Footnote 3 und seiner Frau Ernestine geb. Hahn geboren, wo er auch das humanistische Gymnasium besuchte.

Abb. 1
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Graudenz um 1900, Ansicht von der Weichsel aus, kolorierte Postkarte (Sammlung Moll, Repro Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Danach studierte er ab dem 26. April 1893 in Berlin (Matr. Nr. 2302/83) und später an der Albertina in Königsberg Medizin. An der Berliner Friedrich-Wilhlems-Universität hörte er bis 1896 u. a. Vorlesungen bei dem Zoologen Oscar Hertwig (1849–1922), dem Anatomen Wilhelm von Waldeyer-Hartz (1836–1921), dem Physiologen Emil Du Bois-Reymond (1818–1896) und dem Internisten Ernst von Leyden (1832–1910) und war unter der Adresse Neue Königstraße 10, Bezirk NO, gemeldetFootnote 4. In Berlin leistete er auch das erste halbe Jahr der einjährigen militärischen Dienstpflicht ab. Im April 1896 wechselte er an die Universität Königsberg und erhielt nach weiteren vier Semestern im Februar 1898 im Alter von 22 Jahren seine Approbation. Im Mai wurde er promoviert. In Königsberg hörte er u. a. Vorlesungen über topographische Anatomie bei dem Anatomen und Anthropologen Ludwig Stieda (1837–1918), dessen Sammlung etruskischer Körperteilvotive, die an der Universität Giessen in der Antikensammlung verwahrt wird, in Erinnerung geblieben ist [14]. Bei Max Jaffé (1841–1911), der in der Urologie aufgrund seiner Kreatininprobe als quantitative Nachweisreaktion bekannt ist, hörte er Pharmakologie. Hieran schloss sich in Graudenz ein weiteres halbes Jahr seiner einjährigen militärischen Dienstpflicht an.

Paul Rosenstein erhielt in Königsberg seine weitere postgraduale theoretische und operative Ausbildung bei dem Pathologen Ernst Neumann (1834–1918); dem Erstbeschreiber der lymphozytären Stammzellen des KnochenmarkEs; als „außeretatmäßiger Volontärarzt“ [15] und dem Gynäkologen Georg Winter (1856–1932), Doyen der deutschen Gynäkologie in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, in dessen Klinik er ein halbes Jahr lang tätig war.

Im Anschluss wechselte er zu dem Chirurgen Anton von Eiselsberg (1860–1939), der sein Ordinariat, von Utrecht kommend, 1896 in Königsberg angetreten hatte (Abb. 2). Sowohl in der Frauenklinik wie auch in der Chirurgischen Kliniken war Paul Rosenstein nach eigener Aussage der erste jüdische Assistenzarzt [15, 16]Footnote 5. Seine Mitassistenten waren zu dieser Zeit Rudolf Stich (1875–1960)Footnote 6, später Ordinarius in Göttingen sowie Paul Clairmont (1875–1942) später Nachfolger Ferdinand Sauerbruchs (1875–1951) in Zürich.

Abb. 2
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Anton von Eiselsberg, Schüler Theodor Billroths (1829–1894), war von 1901–1931 Direktor der I. Chirurgischen Universitätsklinik in Wien und blieb Rosenstein ein Leben lang wissenschaftliches und persönliches Vorbild. (Beilage Münchener Medizinische Wochenschrift, 1930, Lichtdruck, 8,5×12 cm, Lehmanns-Verlag, Galerie Berühmter Ärzte und Naturforscher, Archiv DGU, Repro Keyn)

Der offenkundige Antisemitismus in weiten Teilen der Studenten sowie der eher sublime Antisemitismus der Professorenschaft, der oftmals ein sozialer Boykott war, erwiesen sich oft als Hindernis für eine akademische Karriere, so dass sich die Mehrheit der jüdischen Wissenschaftler oftmals sog. „Randfächern“ widmete. Die klassische jüdische Karriere endete meist im Extraordinariat [17].

Nach dem Tode seines Vaters 1902 [15] wechselte Paul Rosenstein zu James Israel (1848–1926) für vier Jahre an das Jüdische Krankenhaus in Berlin (Abb. 3), zu dieser Zeit noch in der Augustastraße 14/15 in der Spandauer Vorstadt gelegen.

Abb. 3
figure 3

Ehemaliges Jüdisches Krankenhaus Berlin Mitte, Auguststraße 14/16, Zu DDR Zeiten befand sich hier eine Hilfsschule sowie die Max-Planck-Oberschule (Aufnahme aus dem Jahr 1980. Aus: [69], Repro Keyn, mit freundl. Genehmigung)

James Israel (Abb. 4) gehörte neben Richard von Volkmann (1830–1889) in Halle sowie Bernhard Bardenheuer (1839–1913) in Köln zu den frühen Pionieren der Antisepsis in Deutschland und trug darüber hinaus wesentlich zur Etablierung der Nierenchirurgie als wesentlichem Bestandteil einer modernen naturwissenschaftlichen operativen Urologie bei [18, 19, 20].

Abb. 4
figure 4

James Israel, undatiert, wohl nach 1900 (Museum und Archiv zur Geschichte der Urologie, Deutsche Gesellschaft für Urologie, Repro Keyn, mit freundl. Genehmigung)

1906 ließ sich Paul Rosenstein in eigener Praxis nieder. Im Berliner Adressbuch [21] war er mit der Berufsangabe „Chirurg und Frauenarzt“ N24, Oranienburger Str. 55 I 41/2–6 verzeichnet. Im Jahre 1904 finden wir ihn noch als „Assist. Arzt, N, Auguststraße 14–18“. Er hatte also seine Meldeadresse im Krankenhaus. Dies war für viele Ärzte der Zeit typisch, da ein Assistenzarztgehalt nur durch den Bezug einer Deputatwohnung einigermaßen auskömmlich war [21]. Zwischen 1910–1914 leitete er am Krankenhaus Berlin Hasenheide in Neukölln [23]Footnote 7 die chirurgische und gynäkologische Abteilung. Diese Kombination war bis zum Ersten Weltkrieg, gerade an kleineren Krankenhäusern, typisch. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Oberstabsarzt (EK I und II) teil (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Urkunde über die Verleihung des EK I an Paul Rosenstein (Brandenburgisches Hauptstaatsarchiv REP 36 A II 3/849 Bl 7 v)

1919 zum a. o. Professor berufen, leitete er ab 1918 zunächst die chirurgische Poliklinik des 1914 fertig gestellten Baues des Jüdischen Krankenhauses in Berlin Wedding, Exerzierstraße 1 (heute Iranische Straße), nachdem James Israel 1917 von der Leitung der Chirurgischen Abteilung des Jüdischen Krankenhauses zurückgetreten war. In der Position der Abteilungsleitung wurde der langjährige Oberarzt und Leiter der Poliklinik, Ferdinand Karewski (1858–1923), Israels Nachfolger (Abb. 6). Dieser hatte sich mit einem überregional bekannten Lehrbuch der „Chirurgischen Krankheiten des Kindesalters“ 1894 bei Ferdinand Enke in Stuttgart herausgegeben, wissenschaftliche Meriten erworben und sich wissenschaftlich besonders kinderurologisch beschäftigt. Paul Rosenstein (Abb. 7) konkurrierte hier bei der Besetzung der Poliklinik mit dem Sohn Wilhelm (1881–1959Footnote 8) seines Lehrers Israel um diese Position.

Abb. 6
figure 6

Ferdinand Karewski (18514–1923). (Aus [70], Repro Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Abb. 7
figure 7

Paul Rosenstein 1875–1964 (Foto undatiert, Archiv Deutsche Gesellschaft für Urologie Düsseldorf, Repro Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Nach dem Tode Karewskis 1923 trat Rosenstein dann endlich das Amt seines verehrten Lehrers, James Israel an, das er bis zum Jahre 1938 innehatte.

Das Jüdische Krankenhaus in Berlin (Abb. 8) war in Kooperation mit der Charité eine der führenden Forschungsinstitutionen Klinischer Medizin in den 1920er JahrenFootnote 9. Neben Paul Rosenstein beförderte bereits ab1910 der Internist Hermann Strauß (1868–1944) die überregionale Reputation dieser Berliner Gesundheitseinrichtung [11, 24].

Abb. 8
figure 8

Jüdisches Krankenhaus im Wedding, Exerzierstraße, Ansicht ca. 1920er Jahre (Jüdisches Museum Berlin, Repro Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Wissenschaftliches Werk

Durch die wissenschaftliche Prägung James Israels war Rosensteins wissenschaftliches Oevre nicht rein urologisch ausgerichtet [25, 26, 27, 28], sondern umfasste auch allgemeinchirurgische [29], infektiologische [30] und onkologische [31] und in seiner Frühzeit ebenfalls auch pathologische [32] Themen. Auch war die Fachdifferenzierung der Urologie zu diesem Zeitpunkt keineswegs abgeschlossen.

Im 5-bändigen Handbuch der Urologie, das bei Julius Springer zwischen 1923–1927 erschien und bis in die 1950er Jahre das Fach bestimmte, verfasste er im 4. Band, Spezielle Urologie II, das Kapitel Aktinomykose der Harn- und Geschlechtsorgane in Anlehnung an das Forschungsgebiet seines Lehrers James Israel [33]. Im Handbuch der Urologie, Band XIII [35], wird eine Publikation von 1923 im Kapitel „Operations on the kidneys“ noch zitiert [34]. Eine Gesamtbiobibliographie ist bisher ein Forschungsdesiderat.

Operationstechnisch ist besonders der „funktioneller Lumbalschnitt“ ohne Muskulaturdurchtrennung hervorzuheben, den Paul Rosenstein 1925 in der „Zeitschrift für Urologische Chirurgie“ publizierte. Eine de facto nahezu identische Schnittführung publizierte Hans Lurz 1956 [36]. Hierbei erwähnt er zwar Hans Rosenstein in seinem Beitrag in der Zenkerschen Operationslehre kurz [37]. Hans Boeminghaus (1893–1979) stellt den Schnitt ebenfalls in seinem Generationen von Urologen prägenden Lehrbuch Urologie – Operative Therapie – Indikation – Klinik [38] vor, das seit 1950 vier Auflagen erlebte. Boeminghaus zitiert aber über anderthalb Seiten, die hier im Gegensatz zu anderen Kapiteln mit besonderen Spezialabbildungen versehen sind, wörtlich Leonhard Lurz (1895) mit seiner Originalpublikation. Somit blieb diese besonders elegante Schnittführung bis heute mit dem Namen von Lurz in Verbindung, der Name von Paul Rosenstein geriet in Vergessenheit [39]Footnote 10. Die von Boeminghaus als Unterscheidung angegebene persönliche Haltung der Autoren Rosenstein und Lurz zur Rippenresektion unterscheidet gerade nicht die Schnittführung, sondern charakterisiert eher die unterschiedlichen Temperamente der jeweiligen Operateure, die unterschiedlichen Schulen entstammten.

Für Nicht-Urologen wird eine Würdigung durch den Umstand erschwert, dass im Handbuch von Lichtenberg, Voelcker und Wildbolz der Autor des Kapitels zur allgemeinen Operationstechnik an der Niere, der Düsseldorfer Peter Janssen (1874–1947), die verschiedenen Schnittführungen nur kursorisch beschreibt und kein Literaturverzeichnis angibt. Martin Kirschner (1879–1942), Heidelberg, erwähnt in der ersten Auflage seiner Operationslehre 1937 zwar jüdische Autoren wie von Lichtenberg im Band 5, Teil 2, aber erläutert ebenfalls besondere Schnittführungen aus seiner allgemeinchirurgischen Sicht nicht näher [40]. Auch im Bd. 13, Operative Urologie I, des Handbuches von 1961 [41], gehen die Autoren auf die lumbodorsale, muskelschonende Schnittführung nicht ein.

Paul Rosensteins Verfahren der operativen Behandlung von Thrombosen [42] fand Eingang die chirurgische Operationslehren, wurde aber nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr mit seinem Namen verbunden (Abb. 9; [11]).

Abb. 9
figure 9

Paul Rosenstein im Kreis seiner Mitarbeiter Anfang der 1930er Jahre: Das gerade für die operativen Fächer typische Hierarchie- und Führerprinzip, welches ebenfalls ein wichtiges Charakteristikum und Promotor der Anfälligkeit für die NS-Ideologie war, wird tragischerweise auch in diesem Gruppenfoto deutlich. Die Berufssozialisation ist oft stärker als religiöse Bindung. (Aus [11], Repro Keyn, mit freundl. Genehmigung)

Seine 1921 angegebene Pneumoradiographie [43] der Niere und der Blase, stets nur mit strenger Indikation angewandt, wurde durch das rasche Fortschreiten der Röntgenentwicklung in der Urologie mit Angabe der Ausscheidungsurographie 1929 durch Moses Swick (1900–1985) sowie Alexander von Lichtenberg schon in den 1930er Jahren obsolet [44, 45]. Auch der Begriff „Rosenstein- (Sitkovskiy-)Zeichen“ bei Appendizitis ist heute außer Gebrauch [46]Footnote 11.

Auf fachpolitischem Gebiet war er neben der Deutschen Gesellschaft für Urologie in der Berliner Urologischen Gesellschaft tätig und trat hier die Nachfolge Alexander von Lichtenbergs an. Von diesem Posten resignierte er bereits Ende 1932 [47]!

Im Berliner Adressbuch von 1932 war er mit der Bezeichnung „Facharzt für Chirurgie“, W 35, Ulmenstr. 1, T. W2 5658“ [48] verzeichnet, während Leopold Casper als „Dr. med., Geh. R.“ eingetragen ist. Somit können die Berufsbezeichnungen dieser Eintragungen nur als Hinweis auf das berufliche Selbstverständnis als Urologe gewertet werden.

Zu Zeitgenossen von Paul Rosenstein s. Infobox 1.

Exodus und Auswanderung nach Brasilien

Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 7. April 1933 (RGBL I S. 175) sowie die weitere antijüdische Gesetzgebung wie der Entzug der Kassenzulassung am 22. April 1933 („Verordnung über die Kassenzulassung“ [49]Footnote 12 des Reichsarbeitsministeriums) oder die stattgehabte Ausschaltung der jüdischen Mitglieder aus Ärzteverbänden (ab 24.03.1933 [50]) waren zunächst für die Ärzte des Jüdischen Krankenhauses in Berlin im Gegensatz zu den Kollegen an staatlichen oder konfessionellen Einrichtungen ohne einschneidende Bedeutung. Sie konnten in ihren Positionen und Ämtern bleiben. Alle, die in der Zeit von 1933 bis 1938/1939 im Jüdischen Krankenhaus gelebt und gearbeitet haben, erinnern sich an das Gefühl, zu den wenigen zu gehören, die noch eine relativ gesicherte Existenz und eine Zuflucht besaßen [11]. Die Arbeitsbelastung und das Patientenaufkommen stiegen, da die staatlichen und konfessionellen Krankenhäuser zunehmend keine jüdischen Patienten mehr behandelten. Somit wird sich der Entzug der Kassenzulassung finanziell hier ausnahmsweise nicht mit der gleichen Härte ausgewirkt haben. Paul Rosenstein nahm weiter an Internationalen Kongresse wie dem Kongress der Internationalen Gesellschaft für Urologie 1933 in London, dem Italienischen Urologenkongress 1934 in Rom oder auf Einladung der Panamerikanischen Gesellschaft auf dem Brasilianischen Urologenkongress 1935 in Rio de Janeiro zusammen mit Alexander von Lichtenberg teil [15]. Auch war er noch international konsiliarisch z. B. 1936 in London, tätig [15].

Dies sind aber nur Teilaspekte. Im Alltag unterlagen jüdische Ärzte wie alle Juden den Bestimmungen von über 200 antijüdischen Verordnungen, die während des NS Regimes erlassen wurden und die die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in Deutschland unterbanden (Abb. 10, Abb. 11).

Abb. 10
figure 10

Urkunde der Verleihung des „Ehrenkreuzes für Frontkämpfer“ an Paul Rosenstein, Mai 1935 (Brandenburgisches Hauptstaatsarchiv REP 36 A II 3/849 Bl 8, mit freundl. Genehmigung)

Abb. 11
figure 11

Urkunde des Berechtigungsausweises für Paul Rosenstein vom Mai 1935 (Brandenburgisches Hauptstaatsarchiv REP 36 A II/ 3/849 Bl 9, mit freundl. Genehmigung)

Zum 1. Januar 1938 entzog die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands den jüdischen Ärzten, unabhängig, ob sie noch zu den gesetzlichen Kassen zugelassen waren, die Zulassung zu den Ersatzkassen [51].

Erst das Erlöschen der „Bestallung“ (4. Verordnung RBG 25.07.1938 [52]Footnote 13, http://www.de.wikipedia.org/wiki/Reichsb%C3%BCrgergesetz – cite_note-1) zum 30. September 1938, das auch den Ausschluss aus den Ärzteversicherungen zur Folge hatte, sowie stattgehabte Devisenprozesse, in denen jeweils seine Unschuld juristisch festgestellt wurde, aber zum Verlust des Reisepasses führte [15]Footnote 14, war ausschlaggebend dafür, die Auswanderung, die eigentlich eine Flucht unter den Verhältnissen der Judenverfolgung war, ins Auge zu fassen. Wie aus Akten, die heute in der Wellcome Library, London, verwahrt werden, hervorgeht, hatte Rosenstein wohl schon 1936 in London sondiert, sich niederzulassen.Footnote 15

Der Druck, Deutschland zu verlassen, war bis zu Beginn der Vernichtungspolitik 1941 das zentrale Element der Judenverdrängung durch den Nationalsozialismus [53]. Damit waren innerhalb von 5 Jahren neun Zehntel aller jüdischen Ärzte“ ausgeschaltet. Das Jahr 1938 bildete einen Höhepunkt des beruflichen Aschhaltungsprozesses jüdischer Ärzte und eine Zäsur im Leben der betroffenen [54].

Nach den Pogromen vom 7. bis 13. November 1938 entschloss sich Rosenstein dann endlich kurzfristig zur Auswanderung. Das massiv gestiegenen Verhaftungsrisikos mit Deportationen von 2000 männlichen Juden nach Sachsenhausen, Buchenwald oder Dachau traf insbesondere vermögende Juden und damit neben Gewerbetreibenden besonders Ärzte. Paul Rosenstein konnte noch einen „Auslandspass“ durch Bestechung eines Beamten erhalten [55].Footnote 16

Im Berliner Adressbuch von 1938, das generell nur noch die Haushaltsvorstände erfasste, war er zuletzt unter „Prof. Dr. Chirurg, Lietzenburgerstr. 16,T.“ eingetragen [56].

An der deutsch holländischen Grenze bei Bentheim wurde er gezwungen 1000 RM „zu zahlen“ [15, 57]. Bereits seit Juli 1938 mussten Juden „Kennkarten“ bei sich tragen, seit dem 17. August 1938 die Zweitnamen „Israel“ (Männer) oder „Sara“ (Frauen) annehmen und seit dem 5. Oktober 1938 ihre Sonderausweise mit einem roten J abstempeln lassen. Diese Kennzeichen ermöglichten eine schnelle Verhaftung, Deportation oder Abschiebung der jüdischen Bevölkerung, besonders in Großstädten.

Insgesamt schafften es ca. 2000 jüdische Ärzte, Deutschland bis 1938 zu verlassen. In besonders krassen Fällen konnten Juden nicht mehr genügend Finanzen für ihre Auswanderung aufbringen. Die Voraussetzung für den Entzug der privaten Vermögenswerte bildete die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ (RGBl I S. 414) vom 26. April 1938, wenn es im Inn- und Ausland 5000 RM überstieg (Abb. 12).

Abb. 12
figure 12

ac Dokumente im Zusammenhang mit der Ausbürgerung und zum Verkauf von persönlichem Eigentum von Paul Rosenstein (Brandenburgisches Hauptstaatsarchiv REP 36 A II 3/849)

Der Ankauf der noch vorhandenen Vermögenswerte im Auftrag des Fiskus (fiskalische Arisierung) wurde war für weite Kreise der Bevölkerung profitabel und vorteilhaft. Neben zivilen Luftkriegsopfern, die Wohnraum und meist kostenlos Möbel und Hausrat der deportierten Juden zur Verfügung gestellt bekamen, gab es öffentliche Versteigerungen von sog. „nichtarischen Vermögen“. Diese entwickelten sich zu regelrechten Schnäppchenjagden, an denen nicht zuletzt ein ganzes Heer von Veranstaltern, Gutachtern, Spediteuren und Lagerverwaltern gut verdiente. Die Finanzverwaltung agierte also nicht als abgekapseltes System, sondern war mit der Gesellschaft vielfach verklammert [71]. Auch in der Urologie bekannte Firmen beteiligten sich.

Über Amsterdam und London reiste Paul Rosenstein mit dem Dampfer „Dresden“Footnote 17 in die USA mit einem Touristenvisum ein. Eine Arbeitserlaubnis als Arzt konnte er nicht erhalten, da die New Yorker Behörden ab 1936 Einschränkungen für Ärzte, die vor 1914 approbiert waren, einführten und später den Approbationsentzug von 1938 des NS Systems voll anerkannten [15]!

Die USA waren ein Land, in dem der Berufszugang für Ärzte erheblich erschwert war, da die „American Medical Association“ die Zulassungsmöglichkeiten für ausländische Ärzte erheblich eingeschränkt hatte. Hierzu kam ein manifester Antisemitismus, der auch amerikanische Ärzte betraf, besonders wenn sie im Ausland studiert hatten.

Über das Ausmaß des amerikanischen Antisemitismus zu dieser Zeit gibt eine Umfrage der „Roper Organization“ aus dem Jahre 1939 Aufschluss. Danach erklärten 53% der Befragten: „Jews are different and should be restricted“ („Juden sind andersartig und sollten abgegrenzt werden“), 10% befürworteten sogar eine Deportation [58]. Der bestimmte der „US Immigration Act“ (1924–1965) die Einwanderung während der Zeit des Holocaust. Während zwischen 1938 und 1939 9780 Flüchtlinge nach England gelangen konnten, konnten nur 6507 Menschen in die USA einwandern [11].

Die „State Medical Boards“ schlossen in 20 der 48 Staaten eine Zulassung aus. Für die Lizenzerteilung wurde in 10 Staaten ein vollständiges Studium an einer US-Fakultät vorgeschrieben, 13 Staaten forderten ein unbezahltes Internship mit Schlussexamen an einer dafür zugelassenen Klinik. Der hierzu notwendige Erwerb der US Bürgerschaft dauerte in der Regel 5 JahreFootnote 18. Nur 4 Staaten wie Ohio, Kalifornien, Illinois und New York erkannten bis 1936 ausländische Examen problemlos an [59, 60, 61]. Das traf Ärzte mit langjähriger Berufserfahrung und mit hoher technisch-manueller Spezialisierung wie Chirurgen und Urologen besonders hart, da sie besonders darauf angewiesen waren, durch praktische Berufsarbeit trainiert zu bleiben.

Bis 1941 gelang es Paul Rosenstein unter den aufgezeigten Bedingungen nicht, in New York praktisch ärztlich tätig zu werden. Er schlug sich mit einer unbezahlten Unterrichtstätigkeit in topographischer Anatomie am „Institute of Podiatry“ durch. Auch konnte er nicht das amerikanische Staatsexamen ablegen, da er keine hierzu notwendige Anstellung an einem ausgewiesenen Krankenhaus fand. Aufgrund dieser veränderten Aussichten und ohne Möglichkeit, im erlernten Beruf zu arbeiten, entschloss sich Paul Rosenstein 1940, nach Brasilien zu emigrieren (Abb. 13, Abb. 14). Dieses Land kannte er bereits seit seinem Kongressaufenthalt 1935 und er hegte die Hoffnung, noch einmal ärztlich tätig zu werden. Auch hier erhielt er – trotz vielfacher Eingaben sowie Fürsprachen von Kollegen sowie Einheimischen – keine Möglichkeit, praktisch urologisch zu arbeiten. Sicherlich wird auch ein Grund gewesen sein, dass er zu diesem Zeitpunkt älter als 65 Jahre alt war. Glücklicherweise gelang es ihm, seine Frau Johanna, geb. Levy (bis 1944) mit der er seit 1911 verheiratet war sowie seinen Sohn (Kurt Michael geb. 1914) und seine beiden Töchter (Elise Charlotte 1919–1980 sowie Hildegard) nach Brasilien zu holen.

Abb. 13
figure 13

Rio de Janeiro, Copacabana, ca. 1937. (Ansichtskarte, Sammlung Moll, Repro Keyn)

Abb. 14
figure 14

Während der Kriegszeit stand Paul Rosenstein mit der „British Cancer Campain“ in Briefwechsel wegen vermeintlicher Prioritätsansprüche bezüglich seiner Karzinomforschung Anfang der 1930er Jahre. Der Schriftwechsel, welcher heute im „Wellcome Institute London“ archiviert ist (SA/CRC/N.5:Box 82), zeigt die Schwierigkeiten und Missverständnisse, die sich einerseits aus Plagiatsvorwürfen gegen einen in Nairobi praktizierenden Briten andererseits aus dem Wunsche, ggf. eine Einreisemöglichkeit zu erhalten, ergeben

Am 25. November 1941 erging die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz (RGBl I, S. 722). Nach dieser verloren alle deutschen Juden, die sich im Ausland aufhielten, auf einen Schlag ihre deutsche Staatsangehörigkeit und ihr gesamtes Vermögen, das an das Deutsche Reich fiel. Diese Bestimmung sollte das bisherige Ausbürgerungsverfahren für die deutschen Juden vereinfachen. Tatsächlich wurde die 11. Verordnung dann nicht nur auf die jüdischen Emigranten angewendet, sondern auch auf die seit Herbst 1941 deportierten deutschen Juden, die nach der behördlichen Terminologie „mit dem Überschreiten der Reichsgrenzen ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort ins Ausland verlegten (Verordnung vom 03.12.1941 [62]).

Später sollte in Rosensteins Entschädigungsverfahren ein spitzfindiger Diskussionspunkt werden, ob Rosenstein evtl. nach 1938 zunächst eine andere Staatsangehörigkeit angenommen hätte, bevor er nach Brasilien emigrierte.Footnote 19

Nachkriegszeit und Ehrung

Nach dem Krieg ermöglichte Rosenstein die aus Deutschland gezahlte Ausgleichsrente, ein finanziell gesicherten Lebensabend in Brasilien zu verbringen. Er wohnte in Rio de Janeiro, Rue de Acacias 90. Bis Ende der 1950er Jahre zogen sich die Entschädigungsverhandlungen mit den Behörden hin. Hier wird besonders deutlich, dass der Ablauf für den in Brasilien lebenden Rosenstein äußert aufwendig und bürokratischen Hürden belastet war.Footnote 20

1953 wurde er auf dem Deutschen Urologenkongress in Aachen unter der Präsidentschaft von Karl Heusch (1894–1986; [63, 64]) zum Ehrenmitglied der DGU ernannt. Seine eigene ambivalente Haltung zu NSDAP-Mitgliedern drückt sich in folgendem Schriftsatz aus: Obwohl er Heusch in einem Schreiben vom 13. Oktober 1953 für die Auszeichnung dankte, führt er weiter aus „… Aber ich sehe, die Tendenz zum Vergessen des Geschehenen ist bei so vielen anderen vorhanden, worunter ich auch Sie, sehr verehrter Herr College, rechnen moechte … Ich entsinne mich Ihrer noch durchaus und wuensche Ihnen einen verdienten Fortschritt und Anerkennung Ihrer wissenschaftlichen Arbeiten. Mit bestem Gruß Ihr ergebenster gez. Paul Rosenstein“.Footnote 21

In seiner Autobiographie bezeichnet er seine eigene Ernennung zum Ehremitglied mit besonderem Stolz, da vorher dergleichen noch nicht erfolgt sei [15]. Tatsächlich war aber Leopold Casper 1951 bereits zum Ehrenmitglied ernannt worden. Der Vorschlag zur Ernennung von Paul Rosenstein ging von Willibald Heyn (1890–1953), Chefarzt des Berliner Städtischen Oskar- Ziethen-Krankenhauses, aus. Heyn hatte von Alfred Rothschild [65]Footnote 22 am 14. 12. 1933 das Amt des Kassenführers der alten DGfU übernommen und den Kassenbestand von RM 36188,48 über die NS und Kriegszeit „gerettet“ [66]. Schon auf dem Kongress 1949 in München wurde der Frauenarzt Walter Stoeckel (1871–1961) als Begründer der Uro-Gynäkologie zum Ehrenmitglied ernannt. Diesen kennzeichneten bekanntermaßen ein uneindeutiges, pragmatisches angepasstes Verhalten wie so viele seiner Medizinkollegen: Zwar war er kein vehementer Verfechter der Nazi-Ideologie, wehrte sich jedoch nicht gegen die Gleichschaltung der Wissenschaften bzw. trat der Verdrängung jüdischer Fachkollegen aus Ämtern und Stellungen wie die meisten Kollegen nicht entgegen [67, 66]. Im Gegensatz zu Heusch war Stoeckel nicht Mitglied der NSDAP oder SS, nahm aber 1941 die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft an.

Am 28. Juli 1958 wurde Paul Rosenstein das Bundesverdienstkreuz verliehenFootnote 23. Über seine Entschädigungen nach 1945 urteilt Rosenstein differenziert.

Während der die Probleme der Firmenrestitution seines Schwiegervaters als ungerecht empfindet, sieht er in seiner Autobiographie seine eigenen Restitutionen nach der „fiskalischen Verfolgung“ eher positiv (Abb. 15, Abb. 16, Abb. 17; [15, 68]).

Abb. 15
figure 15

Buchcover der Autobiographie Paul Rosenstein (Kindler und Schiermeyer, 1954)

Abb. 16
figure 16

Paul Rosenstein 1961 kurz vor seinem Tode mit seiner Tochter Elise Charlotte (Quelle: Dagmar Hartung-Doetinchem (mit freundl. Genehmigung)

Abb. 17
figure 17

Brief des Sohnes Kurt Michael Rosenstein, geb. 1914, in dem die fehlende wissenschaftliche Analyse bereits 1989 thematisiert wird (freundl. Leihgabe Dagmar Hartung von Doetinchem, Berlin, die die Geschichte des Jüdischen Krankenhauses in Berlin vor mehr als 20 Jahren wissenschaftlich analysierte)

Fazit

Mit dem Verfolgungs- und Verdrängungsprozess während der NS-Diktatur wurde eine in der Urologie seit dem 19. Jahrhundert währende Tradition hochrangiger jüdischer Wissenschaft und Mediziner unwiederbringlich zerstört. Welche Rolle die nichtjüdische Ärzteschaft und Kollegen auch innerhalb der eigenen Fachgruppe bei der Diskriminierung und Ausgrenzung ihrer jüdischen Kollegen spielte, konnte an diesem Beispiel ansatzweise untersucht werden. Die Emigrationsgeschichte dieser Kollegen ist aber als immer als Leidengeschichte zu sehen, denn neben dem Verlust der Heimat waren Akkulturationen in einer fremden Umgebung notwendig. Nach dem Kriege standen diesen Kollegen in Deutschland oft auch nicht mehr ihre ehemaligen Positionen zur Verfügung, falls überhaupt eine Remigration ins Auge gefasst wurde. Weiterhin waren in den mühsam aus dem Ausland geführten Entschädigungsverhandlungen besondere Anstrengungen und Geduld notwendig.