Hintergrund und Fragestellung

Die Restharnbildung beim Mann stellt ein komplexes urologisches Problem dar und ist häufig Resultat einer gutartigen Vergrößerung der Prostata. Weitere mögliche Ursachen sind Prostatakarzinome (PCA), Harnröhrenstrikturen, Harnwegsinfektionen (HWI), Verletzungen, Medikamente, neurogene Harnblasenentleerungsstörungen oder vorangegangene chirurgische Therapien [1]. Es existieren umfangreiche Daten in der Literatur, die den Versuch dokumentieren, Risiken für eine inkomplette Harnblasenentleerung zu definieren sowie Präventionsstrategien und Therapiealgorithmen zu entwickeln [2]. Mögliche Folgen einer Blasenauslassstörung mit Restharnbildung sind HWI, Blasensteinbildung, Blasenwanddistension bis hin zur Niereninsuffizienz infolge aszendierender Infektionen oder Harnstauungsnieren [1]. Es existieren verschiedene Definitionen, oberhalb welchen Grenzwertes die Restharnbildung ein klinisches Problem impliziert. Seit der Grundlagenarbeit von Abrams et al. [3] aus dem Jahr 1978 wurde ein Grenzwert von ≥300 ml weitgehend akzeptiert. Ist diese Definition jedoch auch aktuell noch gültig, und impliziert dieser Grenzwert therapeutische Konsequenzen?

In einer aktuellen Publikation werteten Truzzi et al. [4] 196 Männer (mittleres Alter: 66 Jahre) ohne klinischen Hinweis auf einen HWI und ohne vorangegangene antibiotische Therapie hinsichtlich der Assoziation von Restharnvolumen und eines in der Urinkultur (Kriterium: signifikante Bakteriurie) nachweisbaren HWI aus. Für einen Grenzwert von 180 ml ermittelten die Autoren durch ROC-Analyse („receiver operator characteristic“) die höchste prädiktive Genauigkeit bezüglich eines mikrobiologischen Nachweises eines HWI mit einer Sensitivität und Spezifität von 87% respektive 98,5%.

In der vorliegenden Untersuchung überprüften wir die Ergebnisse von Truzzi et al. [4] bezüglich der hohen Korrelation von Restharn (RH) und dem Vorliegen eines HWI anhand einer Studiengruppe von 225 asymptomatischen Patienten mit identischen Einschlusskriterien, die sich in unserer Ambulanz zur urologischen Tumorvorsorge vorstellten.

Material und Methode

In die vorliegende Untersuchung wurden 225 männliche Patienten eingeschlossen, bei denen in der Ambulanz der urologischen Klinik des CTK Cottbus im Zeitraum 12/2003–9/2004 eine transrektale ultraschallgestützte Multibiopsie (TRUS-MB) der Prostata erfolgte. Die Indikationen zur TRUS-MB wurden wie folgt definiert: PSA-Wert ≥4 ng/ml unabhängig vom Befund der digital-rektalen Untersuchung (DRU) oder tumorsuspekte DRU bei einem PSA-Wert <4 ng/ml. Patienten mit akutem Harnverhalt, liegendem Dauerkatheter, intermittierendem Katheterismus der Harnblase, bekannter neurogener Harnblasenentleerungsstörung, Symptomen einer akuten HWI oder laufender Antibiotikatherapie wurden von der Untersuchung ausgeschlossen [5]. Die Studiengruppe wies ein mittleres Alter von 65,9 (33–92; Median: 66) Jahren auf.

Einen Tag vor Durchführung der TRUS-MB wurden neben den persönlichen Patientendaten folgende klinische Daten prospektiv aufgezeichnet bzw. bestimmt: PSA, Prostatavolumen, semiquantitativer Urinschnelltest, quantitative Mikrobiologie, internationaler Prostatasymptomenscore (I-PSS), maximaler Uroflow (miktioniertes Urinvolumen stets ≥150 ml) und sonographisch ermittelter RH. Die sonographische RH-Ermittlung erfolgte durch zwei DEGUM-zertifizierte Urologen (M.M., B.H.) unmittelbar postmiktionell durch Messung von Länge, Breite und Tiefe der Harnblase im Sagittal- und Horizontalschnitt (Formel: VRestharn = Länge x Breite x Tiefe x 0,5; [6]). Die Urinkultur wurde mit steril aufgefangenem Mittelstrahlurin nach Inkubation bei 37°C (24 h) durchgeführt; ein positiver Befund wurde definiert als Nachweis einer Keimzahl von ≥100.000/ml. Zur Durchführung des semiquantitativen Urinschnelltests (Combur-Test®M, Fa. Roche Diagnostics GmbH, Mannheim) wurde ebenfalls steril aufgefangener Mittelstrahlurin verwendet und das Testergebnis nach 1–2 min abgelesen. Ein positiver Befund bestand in einem Nachweis von Nitrit ≥11µmol/l (Griess-Probe) und/oder Nachweis von Leukozyten >25/µl (2+). Zirka 4 h vor Durchführung der TRUS-MB wurden einmalig 500 mg Levofloxacin oral verabreicht.

In der statistischen Auswertung wurde mittels Student-t-Test (kontinuierliche Faktoren) bzw. χ2-Test (kategoriale Faktoren) der Zusammenhang zwischen den Variablen geprüft. Mit einer logistischen Regressionsanalyse wurde getestet, welche der Variablen einen unabhängigen Einfluss auf die Ausbildung eines HWI aufweisen. Mittels ROC-Analyse wurde der RH-Grenzwert diskriminiert, aus dessen Assoziation mit einem HWI (Urinkultur oder Urinschnelltest) der höchste AUC-Wert („area under curve“) resultierte. Es wurden zudem die Grenzwerte von Truzzi et al. ([4], 180 ml) und Abrams et al. ([3], 300 ml) validiert. Ein p-Wert <0,05 wurde als statistisch signifikant definiert.

Ergebnisse

Patientencharakteristiken und deskriptive Statistik sind in Tab. 1 dargestellt. Der mittlere RH betrug 63 (0–440) ml; 60% der Männer (n=134) konnten ihre Harnblase restharnfrei entleeren (≤10 ml). Patienten mit einem in der Urinkultur (113 vs. 41 ml) oder im Urinschnelltest (190 vs. 36 ml) nachweisbaren HWI wiesen ein signifikant höheres RH-Volumen auf im Vergleich zu Patienten ohne HWI (jeweils p<0,001). Es bestand eine signifikant positive Korrelation zwischen einem HWI-Nachweis in der Urinkultur (n=69; 31%) und im Urinschnelltest (n=39; 17%; ρ=0,485; p<0,001). Bei 31 von 39 Patienten (80%) mit positivem Urinschnelltest zeigte sich in der Urinkultur eine signifikante Bakteriurie. Hingegen fiel bei 38 der 69 Männer (55%) mit positiver Urinkultur der Urinschnelltest negativ aus. Escherichia coli wurde bei 59 der 69 Männer (86%) mit positiver Urinkultur identifiziert.

Tab. 1 Deskriptive Patientencharakteristiken und Verteilung der Variablen bezogen auf das Vorliegen eines HWI (Urinkultur oder Urinschnelltest)

Männer mit nachweisbarem HWI (Urinkultur oder Urinschnelltest) wiesen einen signifikant höheren I-PSS (S und LQ) und einen signifikant geringeren maximalen Uroflow auf im Vergleich zu Männern ohne HWI (Tab. 1). Der mediane PSA-Wert war in der gesamten Studiengruppe 5 ng/ml und unterschied sich nicht signifikant zwischen Männern mit und ohne HWI. Das Vorliegen eines HWI war nicht mit dem Nachweis eines PCA assoziiert, das bei 24% der Studiengruppe (n=54) nachgewiesen wurde (Tab. 1). Die mittlere Restharnbildung unterschied sich nicht signifikant zwischen Patienten mit und ohne PCA (47 vs. 68 ml; p=0,270).

Einen RH≥180 ml wiesen 29 Männer (13%) auf. Sensitivität, Spezifität, positiv-prädiktiver Wert (PPW), negativ-prädiktiver Wert (NPW) und Korrektheit hinsichtlich eines HWI-Nachweises betrugen für diesen Grenzwert 28%, 94%, 66%, 74% und 73% (Urinkultur) bzw. 46%, 94%, 62%, 89% und 86% (Urinschnelltest; Tab. 2). Ein RH-Volumen ≥300 ml wurde bei 26 Männern (12%) festgestellt. Sensitivität, Spezifität, PPW, NPW und Korrektheit betrugen für diesen Grenzwert 26%, 95%, 69%, 74% und 74% (Urinkultur) bzw. 46%, 96%, 69%, 89% und 87% (Urinschnelltest; Tab. 2).

Tab. 2 Sensitivität und Spezifität verschiedener Restharngrenzwerte bezüglich des Nachweises einer HWI (Urinkultur oder Urinschnelltest)

In der ROC-Analyse wurden bei kontinuierlichem Einschluss der Variable RH AUC-Werte für den Nachweis eines HWI von 0,582 (p=0,051, Urinkultur, Abb. 1) und 0,757 (p<0,001, Urinschnelltest, Abb. 2) errechnet. Die AUC-Werte für die einzelnen RH-Grenzwerte sind in Tab. 3 dargestellt. Ein RH-Grenzwert von 150 ml zeigte in der Diskriminationsanalyse die jeweils höchsten AUC-Werte (0,617 bzw. 0,709; Tab. 3).

Abb. 1
figure 1

ROC-Kurve mit Darstellung der Abhängigkeit von Restharnbildung (kontinuierlicher Einschluss) und positiver Urinkultur

Abb. 2
figure 2

ROC-Kurve mit Darstellung der Abhängigkeit von Restharnbildung (kontinuierlicher Einschluss) und positivem Urinschnelltest

Tab. 3 Darstellung der AUC-Werte (ROC-Analyse) für verschiedene RH-Grenzwerte als Korrelation mit dem Nachweis eines HWI (Urinkultur oder Urinschnelltest)

In einem multivariaten Regressionsmodell zeigte nur der RH (p=0,006) einen unabhängigen Einfluss auf die Ausbildung eines in der Urinkultur nachweisbaren HWI (Tab. 4). Andererseits hatten Prostatavolumen (p=0,020), I-PSS-QL (p=0,032) und RH (p<0,001) einen unabhängigen Einfluss auf die Ausbildung eines im Urinschnelltest nachweisbaren HWI (Tab. 4).

Tab. 4 Multiple logistische Regressionsanalyse zum Nachweis von Faktoren, die einen unabhängigen Einfluss auf die Ausbildung eines HWI (Modell 1: Urinkultur, Modell 2: Urinschnelltest) aufweisen

Diskussion

Die RH-Bildung kann Folge einer obstruktiven, myogenen, neurogenen oder kombinierten Blasenentleerungsstörung sein [1]. Es liegen gesicherte Daten vor, dass die RH-Bildung mit höherem Lebensalter, größerem Prostatavolumen, steigendem PSA-Wert, höherem Symptomenscore, einer Abnahme des maximalen Uroflows und mit dem Auftreten von HWI korreliert [1, 2, 3, 4, 5, 7]. In unserer Untersuchung zeigte sich keine signifikante Korrelation zwischen RH und Lebensalter (p=0,074), Prostatavolumen (p=0,427) und PSA-Wert (p=0,084). Dagegen existierte eine signifikant positive Korrelation zwischen RH und I-PSS (S und LQ) sowie dem Nachweis eines HWI (Urinkultur und Urinschnelltest) und eine signifikant negative Korrelation mit dem maximalen Uroflow (jeweils p<0,001; Ergebnisse nicht gezeigt).

Eine anerkannte Strategie zur Vermeidung bzw. Therapie von HWI bildet die Sicherstellung einer kompletten Blasenentleerung. So wird von verschiedenen Urologen das Vorhandensein von RH als entscheidendes Kriterium in der Indikationsstellung zur operativen Therapie einer BPH angesehen [8]. Andererseits gibt es jedoch zahlreiche asymptomatische Männer mit RH-Bildung. Zudem liegen Studien vor, die den Nachweis eines Zusammenhangs von RH und HWI schuldig blieben [9].

In einer aktuellen Studie werteten Truzzi et al. [4] 196 asymptomatische Männer ohne Dauerkatheter und vorangegangene antibiotische Therapie bezüglich der Korrelation von RH und HWI aus. Der RH wurde durch Katheterismus bestimmt, für den Nachweis eines HWI, der bei 27% ihrer Patienten nachgewiesen wurde, war eine positive Urinkultur mit signifikanter Bakteriurie (100.000 Bakterien/ml) erforderlich. Das mittlere RH-Volumen unterschied sich signifikant zwischen Männern mit und ohne positiver Urinkultur (257 vs. 74 ml; p<0,001). Für einen RH-Grenzwert von ≥180 ml berechneten Truzzi et al. [4] Sensitivität, Spezifität, PPW und NPW hinsichtlich eines HWI-Nachweises mit 87,0%, 98,5%, 87,0% und 95,0%.

Die Ergebnisse von Truzzi et al. [4] konnten wir bei vergleichbaren Einschlusskriterien, identischem mittleren Patientenalters (jeweils 66 Jahre) und einer ähnlich häufig positiven Urinkultur (31% vs. 27%) anhand unserer aus einem größeren Kollektiv erhobenen Daten nicht nachvollziehen. Es ließ sich trotz einer signifikanten Korrelation von RH-Volumen und HWI-Nachweis kein RH-Grenzwert bestimmen, welcher in ausreichender Sensitivität und Spezifität zwischen Patienten mit und ohne HWI (Urinkultur oder Urinschnelltest) diskriminieren konnte. Für den von Truzzi et al. [4] definierten Grenzwert von 180 ml lagen in unserer Studiengruppe Sensitivität, Spezifität, positiver prädiktiver Wert (PPW) und negativer prädiktiver Wert (NPW) hinsichtlich einer signifikanten Bakteriurie bei 28%, 94%, 66% und 74% (AUC: 0,606; p=0,012; Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

ROC-Kurve mit Darstellung der Abhängigkeit von Restharnbildung (Grenzwert 180 ml) und positiver Urinkultur (UK) bzw. positivem Urinschnelltest (UST)

Limitierend muss berücksichtigt werden, dass die RH-Bestimmung bei allen Patienten unserer Untersuchung ausschließlich sonographisch erfolgte. Allerdings führten die Messungen zwei in dieser Methode ausgebildete und DEGUM-zertifizierte Urologen (M.M., B.H.) durch. Die sonographische RH-Bestimmung ist seit Jahren Standard und so auch in den Leitlinien empfohlen [10]. Es liegen ausreichend Daten darüber vor, dass die Sonographie eine exakte RH-Bestimmung ermöglicht [11]. Amole et al. [6] konnten in ihrer Studie an 52 Patienten mit BPH eine hohe Übereinstimmung zwischen durch Sonographie und durch Katheterismus ermitteltem RH-Volumen zeigen (220,51 vs. 220,76 ml) [11].

Kritisch muss auch angemerkt werden, dass die Patienten unserer Studie zwar asymptomatisch hinsichtlich einer HWI waren, jedoch andererseits ein selektives Patientengut darstellten, da bei allen Patienten die Indikation zur Prostatabiopsie bestand. Das RH kann zudem als variable Größe gelten und zu verschiedenen Zeitpunkten auch unterschiedliche Werte annehmen. Wie auch in der Studie von Truzzi et al. [4] erfolgte die RH-Bestimmung nur einmalig. Darüber hinaus lässt unsere prospektive Untersuchung keine Erkenntnisse hinsichtlich der Frage zu, wie viele der Patienten im weiteren Verlauf eine symptomatische Infektion ausbilden werden. Um wirklich beurteilen zu können, wie viele der Patienten mit RH von einer therapeutischen Intervention profitieren würden, sind longitudinale Verlaufsdaten zu fordern.

Fazit für die Praxis

Bei nahezu einem Drittel der asymptomatischen Männer unserer Studie (31%) wurde eine signifikante Bakteriurie nachgewiesen. Zudem zeigte sich eine signifikant positive Korrelation zwischen RH-Bildung und dem Nachweis eines HWI. Andererseits konnte jedoch kein RH-Grenzwert diskriminiert werden, der mit ausreichender Sensitivität und Spezifität das Vorliegen einer positiven Urinkultur wahrscheinlich macht. Die Beantwortung der Frage, ab welcher Restharnmenge bei asymptomatischen Männern eine medikamentöse oder operative Intervention sinnvoll ist, kann aus den Ergebnissen dieser Studie und den gegenwärtig in der Literatur verfügbaren Daten nicht sicher geschlussfolgert werden. Hierfür wären Longitudinalstudien, aus deren Daten multifaktorielle Nomogramme entstehen, notwendig.