In der vorliegenden Kasuistik berichten wir von einem 65-jährigen Patienten, der sich in unserer Klinik mit einer zweit- bis drittgradigen Belastungsinkontinenz (7 Vorlagen/Tag, 4 Vorlagen/Nacht) nach auswärtiger radikaler Zystoprostatovesikulektomie mit Anlage einer Ileumneoblase nach Hautmann (Juni 2006) vorstellte. Die histopathologische Untersuchung ergab ein Stadium pT2, pN0, R0, M0, GI. Die weitere Anamnese des Patienten war bis auf eine Aortenklappeninsuffizienz I. Grades, einen AV-Block I. Grades und eine Amyopie links unauffällig.

Bei dem Patienten waren vor der Indikationsstellung zur chirurgischen Therapie verschiedene konservative Therapiemaßnahmen wie Beckenbodentraining (Biofeedback, Verhaltenstraining etc.) über einen Zeitraum von >6 Monaten versucht worden, die jedoch keine wesentliche Verbesserung der Symptomatik erbrachten. Die Inkontinenzsymptomatik wurde daraufhin einer Sphinkterschwäche zugeordnet und mittels Unterspritzung auf Schließmuskelebene (Zuidex) behandelt (10/2007). Postoperativ berichtete der Patient jedoch über den gleichen Vorlagenverbrauch und stellte sich nun in unserer Klinik vor.

Diagnostik

Die orientierende klinische Untersuchung ergab altersentsprechende unauffällige Befunde. Die flexible Zystoskopie in unserem Haus zeigte eine unauffällige, normokapazitäre (ca. 400 ml) Neoblase, mit subtotalem Sphinkterschluss, der sich jedoch mittels manueller Perinealelevation gut aktivieren ließ. Während der urodynamischen Abklärung berichtete der Patient über einen ersten Harndrang bei 188 ml (es zeigten sich keine Instabilitäten während der Füllungsphase). Der Summenscore aus dem ICIQ-SF („international consultation of incontinence questionnaire short form“) ergab 21 Punkte.

Aufgrund der Untersuchungsbefunde und dem eindringlichen Wunsch des Patienten nach einer Verbesserung der Kontinenzsituation erfolgte im Januar 2008 die transobturatorische Einlage einer funktionellen retrourethralen Schlinge (AdVance, Fa. AMS).

Die operative Technik beinhaltete – entsprechend dem Vorgehen bei Patienten nach radikaler Prostatektomie – die perineale Inzision mit Eröffnung des Bulbus spongiosus und komplette Mobilisation dessen [1]. Anschließend wurde der Tunneler ca. 15 mm kaudal und lateral der Insertion der Sehne des M. adductor longus beidseits transobturatorisch eingebracht und die Schlinge auf den proximalsten Teil des Bulbus spongiosum positioniert. Die Feinpositionierung der Schlinge mit nachfolgender Korrektur des membranösen Urethraldeszensus erfolgte unter beidseitigem Zug der Schlingenenden, gefolgt von einer abschließende Fixation der Schlinge am Bulbus mittels resorbierbarer Nähte.

Nach Entfernung des Blasenkatheters (am 2. postoperativen Tag) wurde der Patient bei durchschnittlichen Restharnmengen von ca. 200 ml zum ISK angeleitet. Während der engmaschigen Nachkontrollen in unserer Ambulanz bis zum jetzigen Zeitpunkt (Follow-up 12 Monate) waren die Restharnmengen rückläufig (ca. 100 ml) und der Patient berichtete über eine deutliche subjektive Verbesserung der Lebensqualität (erhoben mittels standardisiertem ICIQ-SF, s. oben) trotz intermittierendem Einmalkatheterismus. Ein Tumorrezidiv konnte bislang ausgeschlossen werden.

Diskussion

Die Harninkontinenz stellt heutzutage ein wesentliches Gesundheitsproblem dar, das sich aufgrund der demographischen Entwicklung und der zunehmenden Inzidenz beckenchirurgischer Eingriffe (auch in immer jüngerem Lebensalter) noch verschärfen wird. Das Wiedererlangen der Kontinenz nach operativen Eingriffen stellt jedoch für den betroffenen Patienten neben dem onkologischen Aspekt möglicherweise den wichtigsten Punkt bezüglich der Lebensqualität dar [2].

So wird die Inzidenz einer Belastungsinkontinenz unterschiedlichen Grades nach radikaler Prostatovesikulektomie mit bis zu 33% angegeben [3, 4], die nach radikaler Zystektomie und Anlage einer Neoblase noch höher [5, 6], wobei hier insbesondere die nächtliche Inkontinenz überwiegt und trotz der Tatsache der Konstruktion von detubularisierten, großkapazitären Reservoiren mit 34–56% auftritt [7].

Die (nächtliche) Inkontinenz ist zum Einen auf einen verminderten Muskeltonus und urethralen Verschlusswiderstand während des Schlafes zurückzuführen, zum Anderen aber auch auf eine herabgesetzte Sensitivität der membranösen Harnröhre nach radikaler Zystektomie [8]. Sphinkterverletzungen durch eine direkte Muskelläsion oder auch durch Schädigung der autonomen Innervation (N. pudendus, neurovaskuläres Bündel) können additiv wirken. Gemäß der Integraltheorie spielen ein zerstörter Aufhängeapparat der Harnröhre mit Prolaps der membranösen Urethra, das Patientenalter und die Operationstechnik ebenfalls eine ganz wesentliche Rolle [9].

Die therapeutischen Optionen bei männlicher Belastungsinkontinenz nach beckenchirurgischen Eingriffen beinhalten medikamentöse Therapien („off label use“ von Duloxetin, [10]), Beckenbodentraining, endourethrale Injektionen mittels sog. „bulking agents“ (z. B. Zuidex, Macroplastique etc.) und operative Verfahren wie die Implantation von adjustierbaren/fixen Schlingen (z. B. Invance, Reemex, Argus) oder die Implantation eines artefiziellen Sphinkters, die je nach Schweregrad der Belastungsinkontinenz und der individuellen Patientenselektion ihre Berechtigung finden.

Grundlegendes Prinzip der oben genannten operativen Verfahren stellt die Obstruktion der Urethra dar. Im Gegensatz hierzu handelt es sich bei der in unserem Fall verwendeten retrourethralen Schlinge (AdVance) um ein funktionelles Verfahren, das eine Unterstützung der Haltestrukturen des Sphinkters in Form einer retrourethralen Suspension ermöglicht. Hierbei wird postuliert, dass insbesondere Hypermobilität und Deszensus der (membranösen) Urethra (vergleichbar der Frau), die durch Schwächung der Haltestrukturen des Sphinkters entstehen, für die Inkontinenz verantwortlich gemacht werden können. Die „Replatzierung“ des Sphinkters an seine ursprüngliche Stelle (und zwar in eine mehr kraniale und posteriore Position) führt somit zu einer Unterstützung der Haltestrukturen des Sphinkters mit nachfolgender Längenzunahme der membranösen Urethra und einer Verbesserung des urethralen Verschlussdruckes [1].

In vorangegangenen Publikationen wurde das AdVance-Verfahren schwerpunktmäßig bei Patienten nach radikaler Prostatektomie angewandt mit guten Ergebnissen [11]. Da die Belastungsinkontinenz bei Patienten mit Zustand nach Neoblasenanlage auch auf den Pathomechanismus defekter Haltestrukturen des Schließmuskels mit Prolaps der membranösen Urethra zurückzuführen ist, liegt es nahe, das Verfahren auch auf Patienten mit Neoblasenanlage zu übertragen. Über die Anwendung dieses Verfahrens gibt es bislang keine Berichte in der Literatur, die publizierten Daten erstrecken sich lediglich auf die Implantation sog. obstruktiver Schlingenverfahren (z. B. Invance [12]).

In der vorliegenden Arbeit präsentieren wir unsere erste Erfahrung mit der AdVance-Implantation bei einem Patienten nach Neoblasenanlage. Die Implantation des Polypropylene-Mesh auf den proximalsten Teil des Bulbus spongiosus erlaubt eine sichere Platzierung unterhalb der membranösen Harnröhre ohne Risiko der Gewebetraumatisierung oder Erosion der Urethra durch die retrourethrale Lage. Voraussetzung für den Erfolg dieses Verfahrens ist, wie bereits in früheren Publikationen erwähnt [1, 11], eine Restfunktion des Sphinkters, die im Rahmen einer flexiblen Zystoskopie inklusive aktivem und passivem Sphinktertest (sog. virtueller Sphinktertest) präoperativ evaluiert werden muss. Auch hier gilt, dass bei starker Inkontinenz und/oder einer vorangegangenen Bestrahlung der Beckenregion mit schlechteren postoperativen Ergebnissen zu rechnen ist, da hier zusätzlich eine myogene und neurogene Schädigung des Gewebes vorliegt.

Bei unserem Patienten kam es zu einer Verbesserung des urethralen Verschlussdruckes von 13,2 auf 79,4 cmH2O, sowie eine Längenzunahme der membranösen Urethra auf 18,3 mm. Die Hyperkontinenz im vorliegenden Fall zeigte nach einer durchschnittlichen Beobachtungszeit von 12 Monaten eine Reduktion auf >50%, die mittels intermittierendem Selbstkatheterismus (ISK) behandelt wird. Eine schwerwiegende Komplikation ist bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht aufgetreten, der Patient benötigt keinerlei Vorlagen.

Fazit für die Praxis

Die vorliegende Kasuistik zeigt, dass die funktionelle urethrale Schlinge ein sicheres, minimal-invasives Verfahren darstellt, deren Indikation auch auf Patienten mit Neoblasenanlage ausgeweitet werden kann. Durch die Wiederherstellung der ursprünglichen Anatomie der Urethra ist eine vergleichbar gute postoperative Kontinenzrate (wie bei prostatektomierten Patienten) zu erzielen.

Allerdings ist zu betonen, dass aufgrund der atonen (Neo)blase eine erhöhte Risikokonstellation im Sinne möglicher metabolischer Komplikationen vorliegt, die insbesondere innerhalb der ersten 6 Monate postoperativ einer engmaschigen Kontrolle des behandelnden Urologen bedarf. Größere Fallzahlen und Langzeitergebnisse, die aktuell in weltweiten Multicenterstudien untersucht werden, sind jedoch erforderlich, um diese Theorie zu bestätigen.