Die Zahl der radikalen Prostatektomien nimmt stetig von Jahr zu Jahr zu und damit auch die Anzahl an Patienten, die an einer postoperativen Belastungsinkontinenz leiden. Die Inzidenz für eine Belastungsinkontinenz nach radikaler Prostatektomie liegt je nach Studie zwischen 0,8% und 87% und hängt ganz entscheidend vom Beobachter sowie der Definition von Inkontinenz ab [1, 2, 3, 4]. Das Risiko für eine postoperative Inkontinenz unterliegt dabei diversen Faktoren, u. a. der operativen Technik, der lokalen Tumorausdehnung, der Erfahrung des Chirurgen, dem Vorhandensein präoperativer Blasenentleerungsstörungen und dem Patientenalter. Dabei weisen Männer <50 Jahren eine signifikant bessere Kontinenzrate auf, als Männer >70 Jahren [5].

Die genaue Ätiologie der Belastungsinkontinenz nach radikaler Prostatektomie ist bisher nicht eindeutig geklärt. Eine Dysfunktion des Blasenhalses, intraoperative Läsionen insbesondere autonomer Nerven und des Sphinkters selber scheinen eine Rolle zu spielen [6, 7]. Hierbei kann eine Sphinkterverletzung durch eine direkte Muskelläsion oder auch durch die Schädigung der Innervation des Sphinkters resultieren. Ein zunehmendes Verständnis der Anatomie im männlichen Becken hat in den letzten Jahren zu Modifikationen der ursprünglichen Operationstechnik geführt [8]. Besonders wichtig war hierzu auch der Beitrag der Mailänder Arbeitsgruppe um Rocco [9]. Dank der sich immer mehr durchsetzenden nervschonenden radikalen Prostatektomie können nun der außerhalb des Levators verlaufende N. pudendus, welcher den Rhabdosphinkter retrograd innerviert und die den Rhabdosphinkter versorgende Arterie geschützt werden und somit die Kontinenzrate weiter verbessert werden. Dem Trend der insgesamt zunehmenden Patientenzahl mit postoperativer Belastungsinkontinenz aufgrund der steigenden Zahl von durchgeführten Prostatektomien konnte damit allerdings nicht entgegengewirkt werden.

Dem Rational der funktionellen retrourethralen Schlinge liegt die Beobachtung zugrunde, dass trotz perfekter Operationstechnik nach radikaler Prostatektomie eine Belastungsinkontinenz auftritt und die wesentliche Veränderung nach radikaler Prostatektomie offensichtlich anatomischer Natur ist.

Konservative Therapieversuche wie Beckenbodentraining, Elektrostimulation und „off label use“ von Duloxetin zählen zu den First-line-Therapien der Belastungsinkontinenz nach radikaler Prostatektomie. Bei geringgradiger Inkontinenz sind hiermit gute Besserungsraten zu erzielen. Bei Patienten mit einer höhergradigen Inkontinenz oder bei Versagen der konservativen Therapiemaßnahmen kommen diverse operative Verfahren, die z. T. erst in den letzten Jahren entwickelt wurden, zum Einsatz.

Bei mittelgradiger Inkontinenz werden verschiedene nicht adjustierbare fixe (z. B. Invance) und adjustierbare Schlingensysteme (z. B. Reemex, Argus) sowie das Pro-Act-Verfahren angewandt [10, 11, 12, 13]. All diese Verfahren wirken aufgrund des Prinzips einer Obstruktion der Urethra. Bei Versagen dieser Verfahren, aber auch bei drittgradiger Belastungsinkontinenz wird die Implantation eines artifiziellen Sphinkters empfohlen.

Die funktionelle retrourethrale Schlinge

Wirkmechanismus

Mit der funktionellen retrourethralen Schlinge ist seit 2006 ein innovatives Verfahren auf dem Markt, das als erstes eine funktionelle Behandlung der Belastungsinkontinenz des Mannes nach radikaler Prostatektomie ermöglicht (Abb. 1, Abb. 2). Diese Behandlungsform stellt einen Paradigmenwechsel in der operativen Behandlung der Belastungsinkontinenz nach radikaler Prostatektomie dar, da sie der Lockerung der Haltestrukturen des Sphinkters mit Prolaps der membranösen Urethra und dem nachfolgenden Versagen des integralen Systems als Ursache der postoperative Belastungsinkontinenz entgegenwirkt (Abb. 3).

Abb. 1
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AdVance™-Schlinge

Abb. 2
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Positionierung der funktionellen retrourethralen Schlinge. (Quelle: eigene Zeichnung, Ricarda M. Bauer)

Abb. 3
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Anatomische Verhältnisse (1) vor radikaler Prostatektomie, (2) nach radikaler Prostatektomie: Lockerung der Haltestrukturen des Sphinkters mit Prolaps der membranösen Urethra. (3) Nach Einlage einer funktionellen retrourethralen Schlinge (blau): Repositionierung des Sphinkters. (Quelle: eigene Zeichnung, Christian Gozzi)

Grundlage für dieses Verfahren ist die Einsicht, dass es beim Mann, wie bei der Frau auch, eine Hypermobilität der Urethra und ein Deszensus existieren, die zur Belastungsinkontinenz führen können (Abb. 4). Ursache hierfür ist beim Mann eine durch die radikale Prostatektomie hervorgerufene Schwächung sämtlicher Haltestrukturen des Sphinkters ohne direkte Läsion des Sphinkters. Diese ist wiederum bedingt durch die Durchtrennung der puboprostatischen Ligamente, der endopelvinen Faszie und der Denonvillier-Faszie. Zusätzlich hat auch die Prostata selber durch ihr Volumen eine wichtige statische Funktion in der Sphinkterregion, die in Folge der operativen Entfernung verloren geht.

Durch die Anastomosierung der Urethra mit der Blase kann nicht immer eine ausreichende Stabilisierung des Sphinkters gewährleistet werden. Durch die Lockerung des Halteapparats wird also eine intrinsische Sphinkterdefizienz vorgetäuscht. Dies kann endoskopisch durch den Nachweis einer Sphinkterkontraktion, die sich bei manueller Perinealelevation deutlich verstärkt, nachgewiesen werden. Die funktionelle retrourethrale Schlinge ermöglicht ein „Trimming“ des integralen Systems, d. h. eine Unterstützung der Haltestrukturen des Sphinkters in Form einer retrourethralen Suspension. Die Sphinkterdisslokation wird dadurch korrigiert, es kommt es zu einer Längenzunahme der sphinkterischen Urethra und die Kontinenz kann wieder erlangt werden (Abb. 5).

Abb. 4
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Zystogramm 14 Monate nach radikaler Prostatektomie mit bestehendem Descensus vesicae

Abb. 5
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MRT vor und nach Einlage einer funktionellen retrourethralen Schlinge. Die rote Linie stellt das Ausmaß der Elevation nach Einlage der Schlinge dar

Voraussetzung für den Erfolg dieses Operationsverfahrens ist, wie bereits erwähnt, eine Restfunktion des Sphinkters. Im Rahmen einer flexiblen Zystoskopie inklusive aktivem und passivem Sphinktertest sollte präoperativ die Sphinkterfunktion evaluiert werden. Limitiert ist der Erfolg dieser Operationsmethode bei Patienten mit großem segmentalen Sphinkterdefekt oder ausgeprägter Fibrosierung, insbesondere einer Strahlenfibrose, da es bei dieser zusätzlich zu einer myogenen und neurogenen Schädigung kommt. Zusätzlich sollten präoperativ bestehende Harnröhren- oder Anastomosenstrikturen, sowie urodynamisch Detrusorinstabilitäten diagnostiziert werden.

Operative Technik

Über eine perineale Inzision erfolgt die Eröffnung des M. bulbospongiosus und hierauf eine komplette Mobilisation des Bulbus. Der Introducer kann anschließend 15 mm kaudal und lateral der Insertion der Sehne des Adductor longus links und rechts eingebracht werden. Anschließend kann die Schlinge, ein Polypropylene-Mesh, auf dem proximalsten Teil des Bulbus spongiosum positioniert werden.

Zum Abschluss wird die Schlinge um den Deszensus der membranösen Urethra zu korrigieren mittels Zug in die korrekte Position gebracht. Hierzu wird die Schlinge retrourethral parallel zur Urethra angezogen ohne dabei eine Kompression der Urethra zu verursachen (Abb. 6). Durch die Lage der retrourethralen Schlinge kann eine Erosion der Urethra, wie sie von den obstruierenden suburethralen Verfahren her bekannt ist, verhindert werden. Um eine Dislokation der Schlinge zu vermeiden, erfolgt eine abschließende Fixation der Schlinge am Bulbus mittels resorbierbaren Nähten.

Abb. 6
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Eingelegte funktionelle retrourethrale Schlinge vor und nach Positionierung mittels Zug an den beiden Ärmchen link und rechts

Postoperative Verhaltensregeln

Postoperativ sollten die Patienten ihre körperlichen Aktivitäten temporär reduzieren, sowie Radfahren, Gymnastik und Grätschbewegungen der Beine meiden. In den ersten 4 Wochen sollte beim Treppensteigen ein Bein nach dem anderen auf die nächste Stufe gesetzt werden. Zusätzlich sollte in den ersten 6 Wochen eine maximale Gewichtsbelastung von 4 kg beachtet werden, in den weiteren Wochen kann dann die Gewichtsbelastung langsam bis zur 12. postoperativen Woche gesteigert werden. Geschlechtsverkehr sollte für 8 Wochen und Vollbäder, Schwimmbäder, Sauna oder Whirlpool für 6 Wochen gemieden werden. Nach 3 Monaten ist keinerlei Einschränkung der körperlichen Aktivität mehr notwendig. Ein Beckenbodentraining ist postoperativ nicht mehr indiziert.

Studienergebnisse

In der ersten Studie zur funktionellen retrourethralen Schlinge konnten an 4 Kadavern und 20 Männern mit Belastungsinkontinenz (15-mal Zustand nach radikaler Prostatektomie, 3-mal Zustand nach TUR-P, einmal Zustand nach Zystektomie, einmal Zustand nach TUNA) die ersten positiven Ergebnisse gezeigt werden. Es wurde eine Verbesserung des urethralen Verschlussdruckes von 13,2 auf 86,4 cmH2O, sowie eine Längenzunahme der membranösen Urethra auf ein Mittel von 17,2 mm nachgewiesen. 40% der Patienten waren postoperativ wieder völlig kontinent (definiert als keine Vorlage) und bei 30% der Patienten konnte die Inkontinenz deutlich verbessert werden (maximal 1–2 Vorlagen/Tag) [14].

In einer neueren Untersuchung mit 67 konsekutiven Patienten konnten diese erfolgversprechenden ersten Ergebnisse bestätigt werden [15]. Bei allen Patienten lag nach radikaler Prostatektomie eine Belastungsinkontinenz von maximal Grad II vor. Präoperativ hatten 56 Patienten bereits einen konservativen Therapieversuch in Form von Beckenbodentraining und/oder medikamentöser Therapie erhalten. Bei 5 Patienten war bereits eine operative Therapie in Form von „bulking agents“ oder anderen Schlingenoperationen erfolgt. 10 Patienten hatten sich einer Stammzellentherapie unterzogen.

Nach Einlage der funktionellen retrourethralen Schlinge waren 52% der Patienten völlig kontinent, d. h. sie benötigten keine Vorlagen mehr. 38% zeigten eine deutliche Verbesserung der Inkontinenz mit einem maximalen postoperativen Vorlagenverbrauch von 2 Vorlagen/Tag. Der Vorlagenverbrauch konnte im Mittel von 4,42 Vorlagen präoperativ auf 1,09 Vorlagen postoperativ und im weiteren Verlauf auf 1,0 Vorlagen 3 Monate nach der Operation gesenkt werden (Tab. 1).

Tab. 1 Veränderter Vorlagenverbrauch vor und nach Einlage einer funktionellen retrourethralen Schlinge [15]

Fünf Patienten erhielten aufgrund einer persistierenden Belastungsinkontinenz im weiteren Verlauf eine 2. funktionelle retrourethrale Schlinge. Ein Patient benötigte bei bestehender überaktiver Blase eine Botox-Injektion in den Detrusor vesicae und 3 Patienten erhielten weiterhin zusätzlich eine medikamentöse Therapie, um den postoperativen Erfolg zu verbessern. Zwei Patienten wurde im weiteren Verlauf ein artifizieller Sphinkter implantiert (der eine dieser Patienten hatte 1, der andere 2 funktionelle retrourethrale Schlingen erhalten).

Die mittlere Katheterzeit lag bei 2 (1–7) Tagen. Allerdings trat nach Katheterentfernung bei 11 Patienten ein akuter Harnverhalt auf. Bei diesen Patienten erfolgte eine temporäre suprapubische Kathetereinlage für maximal 4 Wochen. Bei keinem der 67 Patienten kam es zu schwerwiegenden Komplikationen (z. B. starke Blutungen, Verletzung von Nerven oder Infektionen).

Fazit für die Praxis

Die vorliegenden Daten zeigen, dass es sich bei der funktionellen retrourethralen Schlinge um ein sicheres minimal-invasives Verfahren zur Behandlung der Belastungsinkontinenz nach radikaler Prostatektomie mit reproduzierbaren Ergebnissen handelt. Sowohl die postoperative Kontinenzrate als auch die Verbesserung der Kontinenz sind signifikant.

Unserer Meinung nach handelt es sich bei der funktionellen retrourethralen Schlinge um eine erfolgreiche innovative Neuentwicklung im Bereich der operativen Behandlung der männlichen Stressinkontinenz. Erstmalig steht zur Behandlung der Belastungsinkontinenz nach radikaler Prostatektomie ein minimal-invasives Verfahren zur Verfügung, das nicht durch eine Obstruktion der Urethra, sondern durch die Wiederherstellung der ursprünglichen Anatomie wirkt.

Aktuell werden in großen weltweiten Multicenterstudien die Langzeitergebnisse untersucht und der Erfolg auch bei Patienten mit Belastungsinkontinenz nach TUR-P und Neoblase überprüft.