Bereits vor 100 Jahren wurden Indikationen für die „Elektrotherapie“ der Harnblase beschrieben [70], aber erst 60 Jahre später von Caldwell im Lancet [9] wieder aufgegriffen. Seitdem wurden vorwiegend Studien zur Elektrostimulationstherapie der weiblichen Harninkontinenz publiziert [66, 74]. Sehr wenige Studien erfüllten jedoch die Kriterien einer evidenzbasierten Medizin.

Zur Behandlung der postoperativen Harninkontinenz des Mannes wurden die Studienergebnisse der Elektrostimulationstherapie bei genuiner Harninkontinenz der Frau oft unangepasst übernommen. Dabei wurde die unterschiedliche Ätiologie der Harninkontinenz nicht ausreichend beachtet.

Die komplexe Neurophysiologie des Kontinenzmechanismus des Mannes wird unverändert kontrovers diskutiert [18, 25, 29, 34, 43, 64]. Immer mehr physiologische und anatomische Untersuchungen weisen auf die besondere Bedeutung des externen urethralen Sphinkters hin [13, 14, 19, 30, 39, 44, 51, 59, 73]. Somit müssen auch die theoretischen Überlegungen zur optimalen Wirkung der Elektrostimulation angepasst werden.

Im Gegensatz zur Frau steht nicht die Beckenbodenmuskulatur im Mittelpunkt der Behandlungsbemühungen sondern vielmehr die Physiologie und Anatomie des externen urethralen Sphinkters. In tierexperimentellen Grundlagenarbeiten konnte die optimale Wirksamkeit einer niederfrequenten Dauertonisierung zur bestmöglichen Transformation von Fast-twitch- in Slow-twitch-Fasern bewiesen werden [62]. Darüber hinaus kann durch niederfrequente Ströme (10–30 Hz) eine gute Wirksamkeit bei der Behandlung der Urge-Symptomatik erreicht werden [45]. Die sensomotorische Urge wird in der Literatur sehr häufig als maßgeblicher Faktor für die persistierende postoperative Harninkontinenz beschrieben (5–50%), [6, 11, 23, 28, 33, 49, 50, 52]. Ein niederfrequenter Strom erscheint deshalb zur Behandlung der postoperativen Harninkontinenz des Mannes geeignet.

Eigene prospektiv randomisierte Studie

Aus den oben genannten Gründen wurden in einer 3-armigen prospektiv randomisierten Studie 180 Patienten aus unterschiedlichen Akutkliniken mit einer drittgradigen Harninkontinenz nach radikaler Prostatektomie anlässlich einer urologischen stationären Anschlussheilbehandlung in 3 Behandlungsgruppen randomisiert. Die Zuordnung der Patienten erfolgte mit einem computerunterstützten Randomisierungsverfahren:

Gruppe A:

perkutane Elektrostimulation und physiotherapeutisches Kontinenztraining,

Gruppe B:

anale Elektrostimulation und physiotherapeutisches Kontinenztraining,

Gruppe C:

alleiniges physiotherapeutisches Kontinenztraining.

Einschlusskriterien:

-:

radikal retropubisch prostatektomierte Patienten zwischen dem 12. und 35. postoperativen Tag,

-:

postoperativ persistierende drittgradige Harninkontinenz nach Stamey,

-:

Lebensalter 40–80 Jahre.

Ausschlusskriterien:

-:

Herzschrittmacher,

-:

urodynamisch wirksame subvesikale Obstruktion,

-:

Metallimplantate.

Dokumentationszeitpunkte waren der Tag 2 (t1) und Tag 27 (t2) der stationären Rehabilitationsmaßnahme sowie 3 Monate nach Beginn der stationären Rehabilitation (t3).

Die Dokumentation erfolgte mit klinikinternen medizinischen Standarddokumentationsbögen unter Verwendung des standardisierten 1-h-PAD-Tests, der Uroflowmetrie, sowie einer visuellen Analogskala zur Beurteilung der Harninkontinenz. Zusätzlich wurden Patientenfragebögen benutzt. Des Weiteren erfolgte bei Aufnahme (t1), bei Entlassung (t2) des Patienten und nach 3 Monaten (t3) die Befragung des Patienten mit dem EORTC-Lebensqualitätsfragebogen QLQ-C30 [1, 35, 58).

Therapiegruppen

Physiotherapeutisches Kontinenztraining

In allen Gruppen wurde ein speziell entwickeltes physiotherapeutisches Kontinenztraining mit verhaltensmodulatorischen Aspekten unter Anwendung osteopathischer Behandlungsmethoden und Einflüssen der Feldenkrais-Lehre durchgeführt [16, 37, 38, 60].

Neben 3-mal täglich eigenen physiotherapeutischen Übungen nach initialer Anweisung erfolgte bei jedem Patienten während des stationären Aufenthalts eine täglich halbstündige Gruppenphysiotherapie sowie 3-mal wöchentlich eine Einzelphysiotherapie über 30 min. Nach Abschluss der stationären Rehabilitation wurden alle Patienten aufgefordert die erlernten Übungen 3-mal täglich eigenständig fortzusetzen.

Elektrostimulation

In den 2 Elektrostimulationsbehandlungsgruppen wurde das Gerät Mikrostim® eingesetzt.

Stimulationsparameter

Stimulationszeit 20 min, ein Zyklus 7 s, Ramp-up 2 s, Ramp-down 1 s, Aus-Zyklus 20 s, maximale Amplitude 70 mA, Pulsbreite 250 mS, Frequenz 14 Hz, Zwischenpuls 100 mS, Pulsform biphasisch.

Die Mikrostim-Geräte verfügten über einen Mikrostim-Data-Manager®, der die Benutzung in Stunden und Tagen sowie die maximale und durchschnittlich genutzte Stromstärke sowie eine Fehlerliste über die regelrechte Anwendung, Elektrodenkabelprobleme, Batterieentladung und vorzeitige Abschaltung aufzeichnete. Bei der analen Elektrostimulation wurde eine Analsonde, bei der perinealen Elektrostimulation eine suprasymphysäre rechteckige Referenzelektrode sowie eine schmetterlingsförmige Perinealelektrode (PALS-Modell perineal®) benutzt.

Bei Patienten mit einer analen oder perinealen Elektrostimulationstherapie wurde die Elektrostimulation bei Erreichen einer nächtlichen Kontinenz beendet [15]. Es konnten 180 Therapieverläufe ausgewertet werden (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Studienalgorithmus einer 3-armigen prospektiv randomisierten Studie zur Behandlung einer drittgradigen Harninkontinenz nach radikaler Prostatektomie

Ergebnisse

62% der Patienten wiesen ein Prostatakarzinom im Stadium T2, 28% T3 und 5% ein Stadium T4 auf. Das Durchschnittsalter betrug 65 Jahre. 40% der Patienten waren tagsüber zu keiner Spontanmiktion fähig. Durchschnittlich wurden 6 Vorlagen am Tag und 2 in der Nacht benötigt. Im prätherapeutischen 1-h-PAD-Test wurde ein unwillkürlicher Urinverlust von durchschnittlich 135 ml dokumentiert. In der visuellen Analogskala wurde ein durchschnittlicher Wert von 7,5 erhoben. Bei der Aufnahme zur stationären Rehabilitation fand sich die im QLQC-30-Fragebogen erfasste Lebensqualität in den 3 Therapiegruppen nur geringfügig unterschiedlich ausgeprägt.

Medizinische Dokumentation

Neun Patienten der analen und 11 Patienten der perinealen Stimulationsgruppe erreichten einen Therapiefortschritt während der stationären Rehabilitation, die gemäß Studienprotokoll zum Absetzen der Elektrostimulation führte. 22 Patienten der analen und 4 Patienten der perinealen Stimulationsgruppe brachen die Elektrostimulationstherapie ab. Gründe für den Abbruch waren bei der analen Elektrostimulationstherapie anale Missempfindungen durch den Reizstrom (n=9), analer Juckreiz oder Brennen (n=7), Schmerzen des Beckenbodens (n=4) sowie eine Zunahme der Harninkontinenz (n=2). Bei der perinealen Elektrostimulationstherapie brachen 2 Patienten aufgrund unangenehmer Stromempfindungen, 1 Patient aufgrund einer Hautreizung sowie 1 Patient aufgrund einer Zunahme der Harninkontinenz die Therapie ab.

Aus der Krankengymnastikgruppe wünschten 5 Patienten bei ausbleibendem Therapieerfolg nach der 4. Behandlungswoche den zusätzlichen Einsatz einer Elektrostimulationstherapie. In der retrospektiven Betrachtung wies diese Gruppe statistisch signifikant schlechtere Ausgangsbedingungen in den Parametern des Miktionsvolumens und des Maximalflows zum Aufnahmezeitpunkt auf und wurde aus der Gesamtwertung ausgeschlossen.

Während der 4 stationären Behandlungswochen konnte der Stressgrad nach Stamey in der Krankengymnastik(KG-)gruppe bei 66%, in der analen Elektrostimulationsgruppe bei 67% und in der perinealen Elektrostimulationsgruppe bei 72% der Patienten zumindest um 1 Stressgrad verringert werden. Eine Verminderung der Vorlagenanzahl am Tag wurde bei 69% KG-, 75% anal und 64% perinealer Therapiepatienten erreicht. Die nächtliche Vorlagenanzahl sank bei 68% der KG-, 54% der analen Stimulations- und 67% der perinealen Stimulationsgruppe.

Lebensqualitätsskalen

Während der stationären Rehabilitation ist eine hochsignifikante Verbesserung der Gesamtlebensqualität bzw. des globalen Gesundheitszustands (GH) für alle 3 Behandlungsgruppen nachweisbar.

Die größten Verbesserungen im stationären Rehabilitationsverlauf zeigt die Gruppe mit perinealer Elektrostimulationstherapie in den Funktionsskalen „körperlicher funktioneller Status“ (PF), „körperliche Rollenfunktion/Arbeitsfähigkeit“ (RF), „emotionale Belastung“ (EF) und „kognitive Beeinträchtigung“ (CF). Sie erreicht die einzige signifikante Verbesserung im PF. Die Verbesserung im RF, in GH und „soziale Beeinträchtigung“ (SF) sind in allen Gruppen signifikant.

Zum Entlassungszeitpunkt aus der stationären Rehabilitation weist die KG-Gruppe in 5 von 6 Skalen die besten Mittelwerte auf. Die geringsten Verbesserungen finden sich in der KG-Gruppe für GH, RF und EF, SF und CF. In SF findet sich nur in der KG-Gruppe keine Signifikanz für eine langfristige Verbesserung. Für PF zeigt die KG-Gruppe die stärkste Verbesserung, die signifikant wird. Nur bei analer Elektrostimulationstherapie trat während der stationären Rehabilitation eine nichtsignifikante Verschlechterung des PF ein. Die Gruppe mit analer Stimulation zeigt die größten Verbesserungen in GH und SF, die geringsten Verbesserungen in PF (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Auswertung der Funktions- und Symptomparameter des QLQ-C30 zum Zeitpunkt t1 (2a), t2 (2b) und t3 (2c), (GH globaler Gesundheitszustand, PF körperlicher funktioneller Status, RF körperliche Rollenfunktion, EF emotionale Belastung, CF kognitive Beeinträchtigung, SF soziale Beeinträchtigung)

In den Symptomskalen „Schmerz“ (PA), „Übelkeit“ (NV) und „Fatigue“ (FA) und den 6 Einzelitems „Dyspnoe, Insomnia, Appetite loss, Constipation, Diarrhea, Financial difficulties“ kann lediglich für den Zeitraum der stationären Behandlung (t1–t2) eine signifikante Verbesserung nachgewiesen werden, die sich in den Behandlungsgruppenvergleichen nicht wesentlich unterscheidet.

Patientenfragebögen

In den Fragebögen der Elektrostimulationspatienten empfanden 70% der analen und 92% der perinealen Stimulationspatienten die Anwendung zumutbar. Zumutbar, aber unangenehm, antworteten 23% der analen und 4% der perinealen Stimulationsgruppe. Unangenehm antworteten 7% der analen und 3% der perinealen Gruppe [prozentuale Verteilung nach 3 Monaten (anal/perineal): zumutbar 80/100, unangenehm aber zumutbar 16/0 unangenehm 4/0]. Als beeinträchtigende Nebenwirkungen wurden zum Entlassungszeitpunkt Missempfindungen aufgrund des Reizstroms von 22% anal, 15% perineal, Haut- und Schleimhautreizungen 10% anal, 2% perineal, unangenehmes Anlegen bzw. Entfernen 7% anal, 2% perineal sowie eine Zunahme der Inkontinenz bei 5% anal und 8% perineal angegeben [Angaben nach 3 Monaten (%, anal/perineal): Reizstrom 16/7, Haut/Schleimhaut 4/0, Anlegen/Entfernen 8/2, Zunahme der Inkontinenz 0/5)]. Nach subjektiver Einschätzung hatte sich bei 64% der analen Stimulationsgruppe und bei 65% der perinealen Stimulationsgruppe die Harnkontinenz verbessert. Nach 3 Monaten berichteten 85% der analen Stimulationsgruppe und 69% der perinealen Stimulationsgruppe über eine subjektive Verbesserung.

Über einen unwillkürlichen Urinverlust bei körperlicher Belastung berichteten 50% der oberflächlichen Stimulationsgruppe und 40% der analen Stimulationsgruppe. Bei Bewegungen des täglichen Lebens beschrieben lediglich 35% der perinealen Stimulationsgruppe jedoch 52% der analen Stimulationsgruppe einen unwillkürlichen Urinverlust. 50% der analen sowie 40% der oberflächlichen Stimulationspatienten nutzten nach 3 Monaten mindestens 2 Inkontinenzvorlagen in 24 h. Im Vergleich zur alleinigen KG-Gruppe ist der Vorlagenverbrauch in beiden Elektrostimulationsgruppen statistisch signifikant geringer. Die Differenz zwischen den Elektrostimulationsmethoden weist einen Vorteil der Oberflächenstimulationsgruppe auf, ist jedoch nicht statistisch signifikant. Im Elektrostimulationstherapiefragebogen wird bei Zusammenfassung der Anwendungszufriedenheit ein statistisches Signifikanzniveau (p=0,019) zu Gunsten der perinealen Stimulationstherapie erreicht. Eine Symptomverbesserung ist nur während der stationären Rehabilitationsphase nachweisbar.

Gerätedaten

Die Auswertung der Microstim®-Daten ergab ein ernüchterndes Ergebnis. Im 1. Monat wurde die anale Stimulationstherapie durchschnittlich an 21 Tagen (n=32) genutzt, die perineale Stimulation an 23 Tagen (n=37). Im Patientenfragebogen berichteten 70% (anal) bzw. 80% (perineal) die Elektrostimulationsgeräte täglich zu nutzen. Auch die Gerätenutzung nach 3 Monaten, die von den verbliebenen Therapiepatienten mit täglich 75% (anal) und 80% (perineal) angegeben wurden, differierten erheblich von der Datenaufzeichnung. Im 2. und 3. Monat wurden nur noch 17 (anal, n=19) sowie 21 Therapietage (perineal, n=24) erreicht. Die nutzenden Patienten hielten sich dabei an die Anweisungen zur täglichen Nutzungsdauer, sodass im 1. Monat durchschnittlich 22 Therapieminuten/Tag und im 2. und 3. Monat 43 Therapieminuten/Tag erzielt wurden. Es bestand eine Zunahme der Stromstärke in Abhängigkeit von der Anzahl der Nutzungstage sowohl bei perineal als auch bei anal stimulierten Patienten. Nach 1 Monat war die durchschnittliche Stromstärke perineal 25 mA, anal 21 mA, im 2. und 3. Monat perineal 32 und anal 27 mA.

Während im 1. Monat bei 60% der Anwender der analen Stimulation eine vorzeitige Abschaltung aufgrund von Elektrodenproblemen nachgewiesen wurde, war dies nur bei 20% der perineal stimulierten Patienten der Fall. Batterieprobleme traten bei 19% bzw. 14% der Patienten auf. Im 2. und 3. Monat wurden erheblich erhöhte Fehlermeldungsquoten der Elektrode 65%/50%, Batterie 21%/18% und vorzeitiges manuelles Abschalten 62%/73% registriert. Signifikante Unterschiede zwischen den Stimulationsarten bestanden lediglich hinsichtlich der Elektrodenfehlerquote im 1. Therapiemonat.

Bei der Analyse der PAD-Ergebnisse in Abhängigkeit von der Elektrostimulationstherapie im 1. Monat deutet sich eine negative Korrelationsveränderung an (Abb. 3). Tendenziell wird der Rückgang des Urinverlusts umso größer, je größer die Nutzungsstundenzahl im 1. Monat war.

Abb. 3
figure 3

Änderung des PAD-Tests (t1–t2) in Abhängigkeit der Anwendungsdauer der Elektrostimulationstherapie [h]. Scatter-Plot mit Spearmann-Rang-Korrelationskoeffizienten (rho=−0,285, Änderung 1-h-PAD Test in [ml], Nutzungsdauer Elektrostimulation [h])

Diskussion

Nach Etablierung der radikalen Prostatektomie zur Therapie des lokal begrenzten Prostatakarzinoms wurde bei der Suche zur Therapie der postoperativen Harninkontinenz die bislang bei Frauen eingesetzten Verfahren zur Elektrotherapie übernommen [72]. Bislang wurden im Cochrane-Review lediglich 6 randomisierte kontrollierte Studien zum Thema postoperative Harninkontinenztherapie nach radikaler Prostatektomie genannt [56]. Dem gegenüber steht die inzwischen weit verbreitete Anwendung diverser Elektrostimulationsverfahren mit immer wieder neuen Variationen der Stimulationsparameter sowie der „Hardware“. Dabei werden auch unterschiedliche Elektrodenplatzierungen beschrieben: anale Elektrostimulation, suprasymphysäre Elektrostimulation und perineale Elektrostimulationsverfahren kommen zur Anwendung [2, 7, 20, 21, 55, 67, 69, 73, 74].

Die Wirkungsweise der elektrischen Stimulation ist noch nicht endgültig geklärt [10, 31]. Die Muskulatur des Menschen ist aufgrund ihrer Zusammensetzung aus verschiedenen Fasertypen ein sehr heterogenes Gewebe. Sie verfügt jedoch über eine hohe Adaptationsfähigkeit. Unter dem Einfluss unterschiedlicher neuromuskulärer Aktivitäten ist eine Umwandlung dieser Muskelphänotypen möglich. So kann durch eine niederfrequente Stimulation eine Transformation von „Fast-twitch-Fasern“ (Typ 2b) in langsamere Typ-2d- und Typ-2a- und sogar schließlich in langsame Typ-1-Fasern erreicht werden [5].

Die Fasertypübergänge beruhen auf Veränderung der Expression von Proteinisoformen myofibrillärer und sarkomerischer Proteine und der damit zusammen hängenden Veränderungen anaerober und aerober Stoffwechselwege. Diese Transformation führt zu einer Veränderung schneller, rasch ermüdbarer Muskeln in langsame, ermüdungsresistente Muskeln—ein für die männliche Harnkontinenz besonders wichtiger Faktor [62].

Eine Hypertrophie der stimulierten Muskulatur wird durch eine Umkehr der Stimulationsreihenfolge unterschiedlicher Muskelfasertypen erklärt [12]. Üblicherweise werden bei einer Muskelaktivität zunächst langsame Fasern aktiviert und erst bei zunehmendem Kraftaufwand auf „Fast-twitch-Fasern“ [32] zurückgegriffen. Dafür ist eine willkürliche Kontraktion über 6–8 s erforderlich (Astrand, Rodahl: persönliche Mitteilung durch K. Boe [3, 63]).

Bei der elektrischen Stimulation wird die Reihenfolge der Aktivierung umgekehrt. Hier werden nunmehr zunächst die ansonsten eher selten aktivierten „Fast-twitch-Fasern“ regelmäßig stimuliert, bevor „Slow-twitch-Fasern“ aktiviert werden [68]. Die unterschiedlichen Wirkungsweisen der Elektrostimulation können durch die Wahl der Stimulationsparameter beeinflusst werden: eine reflektorische Sphinkteraktivierung durch Stimulation der efferenten Anteile des N. pudendus mit reflektorischer Anspannung der quergestreiften Muskulatur und eine Detrusorhemmung mit einer sympathomimetischen Stimulation durch die Afferenzen des N. pudendus durch eine zentrale parasympathomimetische Hemmung und der Reflexauslösung über den N. hypogastricus [22]. So bewirkt eine Rechteckspannung eine optimale Aktivierung von peripheren Nervenfasern, eine bipolare oder alternierende Spannung verhindert eine Schädigung der Nervenstrukturen (tissue damage). Darüber hinaus kann eine intermittierende Stimulation zu einer Reduktion der Ermüdung der Muskelfasern beitragen.

Einen wesentlichen Einfluss hat die Stimulationsfrequenz. Bei einer Frequenz von 20–60 Hz werden tetanische Kontraktionen der Muskelfasern ausgelöst. Dabei tritt eine rasche Ermüdung der Muskulatur auf. Eine niederfrequente Stimulation hingegen führt zu einer ermüdungsresistenten Dauerkontraktion. Die höchste intraurethrale Drucksteigerung konnte während der Stimulation bei Frequenzen zwischen 20 und 50 Hz nachgewiesen werden.

In 13 randomisierten Studien zur konservativen Harninkontinenztherapie nach radikaler Prostatektomie werden sowohl der Effekt eines „Beckenbodentrainings“ aber auch Therapieergebnisse nach Biofeedback und Elektrostimulation untersucht. Weder die Form des physiotherapeutischen Kontinenztrainings noch die Behandlungsmodalitäten der apparativen Methoden sind in diesen Studien auch nur annähernd vergleichbar. Die geringe Zahl von zusammen nur ca. 600 Patienten in allen 13 Untersuchungen verdeutlicht die unsichere Datenlage.

In mehreren Studien konnte die Effektivität einer „Beckenbodengymnastik“ bewiesen werden [8, 42, 46, 54, 57, 61, 71]. Eine schnellere Kontinenzentwicklung könnte durch zusätzliche apparative Methoden erreicht werden (Elektrostimulation [36, 57, 65]; Biofeedback [4, 8, 26, 27, 40, 53]; TENS: [48]). Die abgeleiteten therapeutischen Vorteile waren jedoch unter Beachtung des aus der Inkontinenztherapie der Frau bekannten Placeboeffekts von bis zu 25% [48, 66] und der spontanen Kontinenzverbesserung im Verlauf eines Jahres [17, 24, 41] nicht zwingend auf die apparativen Therapien zurückzuführen.

In der eigenen Erhebung zeigten die Items (Stressgrad nach Stamey, Abb. 4): „Miktionsfrequenz nachts“, „Vorlagen Tag“, „Vorlagen Nacht“ sowie „maximaler und mittlerer Flow“ eine statistisch signifikante Verbesserung in allen 3 Therapiegruppen im Verlauf der 4-wöchigen stationären Rehabilitationsmaßnahme.

Abb. 4a, b
figure 4

Veränderung der Inkontinenzparameter t1–t2: Beispiel Stressgrad nach Stamey

Signifikante Differenzen durch eine zusätzliche perineale oder anale Elektrostimulation waren zunächst nicht nachweisbar, wenn auch eine Tendenz zugunsten der Elektrostimulationstherapien in einzelnen untersuchten Items bestand. Die bereits durch ein alleiniges Kontinenztraining erzielten signifikanten Verbesserungen erschwerten den Nachweis der Effektivität zusätzlicher Behandlungsmodalitäten.

Eine Subgruppenanalyse der Patienten mit hoher Compliance bei der Anwendung der Elektrostimulation bestätigte den Trend. Hierbei zeigen sich im Vergleich zur Gesamtgruppe statistisch signifikante Vorteile für „Vorlagenanzahl Tag“, „Vorlagenanzahl Nacht“, „Miktionsvolumen“ und „Analogskala“ in der perinealen Stimulationsgruppe, jedoch bei der analen Stimulationsgruppe nur bei „Vorlagenanzahl Tag“ (Abb. 5). Signifikante Unterschiede zwischen analer und perinealer Gruppe konnten aufgrund der niedrigen Fallzahl nicht erreicht werden.

Abb. 5
figure 5

Auswertung Elektrostimulationstherapiepatienten mit hoher Compliance am Beispiel Stressgrad nach Stamey (gelb: alle El.-Stim.-Patienten, blau: gute Compliance, gC)

Obwohl die Patienten der Studie über die geplante Geräteauswertung informiert wurden, konnten selbst in der stationär begleiteten Rehabilitation durchschnittlich nur 21 Therapietage (anal) und 22 Therapietage (perineal) dokumentiert werden. Im ambulanten Therapieverlauf sanken die Therapietage/Monat sogar auf 9 (anal) und 11 (perineal) ab. Erst die statistische Analyse der Subgruppe mit täglich eingehaltener Elektrostimulationstherapiezeit von 20 min (1. Monat stationär) sowie 40 min (2. und 3. Monat ambulant) ergab den Nachweis einer deutlichen Überlegenheit zur alleinigen krankengymnastischen Therapie in nahezu allen relevanten Items.

Ein derartiger direkter Zusammenhang zwischen Gerätecompliance und Therapieerfolg wurde bislang nicht publiziert. Die bisherigen Analysen haben vermutlich oftmals fälschlich eine fehlende Wirkung der Elektrostimulation beschrieben, da in Wirklichkeit das Elektrostimulationsgerät gar nicht genutzt wurde.

Fazit für die Praxis

Die Studie kann eine signifikante Wirksamkeit der Elektrostimulationstherapie aber auch der in der Klinik Quellental verwandten speziellen Physiotherapie bei drittgradig harninkontinenten Männern nach radikaler Prostatektomie nachweisen.

Die kombinierte Therapie der postoperativen Harninkontinenz mit perinealer oder analer Elektrostimulation führt zu einer signifikanten Verbesserung der Harninkontinenz und der Lebensqualität. Die extrem hohe Fehlerquote und mangelhafte Compliance bei häuslicher Anwendung der Elektrostimulationstherapien erfordern eine intensive ambulante Therapiebegleitung und Kontrolle der Gerätenutzung. Die perineale Elektrostimulationstherapie weist im Vergleich zur analen Stimulationstherapie eine deutlich höhere Akzeptanz und geringere Nebenwirkungsrate auf.

Bei konsequenter Anwendung ist die perineale Elektrostimulationstherapie der analen Elektrostimulationstherapie bei den objektivierbaren Inkontinenzparametern überlegen. Die Subgruppe mit sehr guter Geräteanwendungscompliance erreichte mit der Elektrostimulation den besten Therapieerfolg. Statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Stimulationsmethoden konnten wegen der in den Subgruppen geringen Patientenzahlen erwartungsgemäß nicht erreicht werden.

Verbesserungen der Lebensqualitätsscores werden im Wesentlichen nur während der 4-wöchigen stationären Rehabilitationsmaßnahme erzielt. Die Verbesserung der Lebensqualitätsitems wird durch den zusätzlichen Einsatz der Elektrostimulation nicht verändert.

Die Elektrostimulation stellt eine sinnvolle Therapie zur Behandlung der drittgradigen postoperativen Harninkontinenz dar, allerdings nur bei guter Patientencompliance. Insbesondere in den Zeiten verminderter finanzieller Ressourcen sollten die nicht unerheblichen Therapiekosten bedacht werden und eine Kostenübernahme der hier belegten wirksamen Elektrostimulationstherapie nur bei Nachweis einer regelmäßigen Gerätenutzung erfolgen.