Zusammenfassung
Die instabile Blase ist eine Volkskrankheit von vergleichbarem Ausmaß wie der Diabetes mellitus. Mit zunehmender Überalterung der Gesellschaft ist von einer Aggravierung des Problems auszugehen. Die Internationale Kontinenz-Gesellschaft (ICS) hat im Jahr 2002 die Terminologie der instabilen Blase überarbeitet und den symptomorientierten Begriff des Blasenüberaktivitätssyndroms geschaffen. Ätiologisch kommen dafür eine neurogene und nichtneurogene Detrusorhyperaktivität sowie die Detrusorhypersensitivität in Betracht.
Zerebrale Enthemmung, degenerative Neuropathien und komplette oder inkomplette Querschnittläsionen führen zur neurogenen Detrusorhyperaktivität, während Blasenalterung, subvesikale Obstruktion und chronische Blasenirritation (z. B. durch Harnwegsinfekte, Steine oder Tumoren) mögliche Ursachen einer nichtneurogenen Detrusorhyperaktivität darstellen. Epidemiologische Daten sind rar, da sich die meisten Studien mit der Dranginkontinenz beschäftigen, ohne die Prävalenz der Blasenüberaktivität ohne Inkontinenz zu berücksichtigen.
Zwei vorliegende multinationale epidemiologische Prävalenzstudien aus Europa und Asien zeigen methodologisch bedingt unterschiedlich hohe Häufigkeiten (Europa: 15,6% (Männer) bzw. 17,4% (Frauen); Asien: 53,1% (Frauen)), aber einheitlich eine steigende Prävalenz mit zunehmendem Lebensalter. Die kumulative Inzidenz steigt bei alternden Männern stärker als bei alternden Frauen. 2/3 der europäischen und 1/4 aller asiatischen Betroffenen sind in ihrer Lebensqualität eingeschränkt. 60% aller europäischen und 21% aller asiatischen Betroffenen haben bereits professionelle Hilfe in Anspruch genommen. Nur jeder 4. Europäer, der wegen einer Blasenüberaktivität einen Arzt aufgesucht hat, wird dauerhaft medikamentös behandelt. Eine Pharmakotherapie (z. B. mit Antimuskarinika) sollte wegen der hohen Behandlungskosten und der erheblichen Nebenwirkungen nicht ohne genaue diagnostische Abklärung erfolgen.
Abstract
Bladder overactivity (OAB) is a common disease with a socioeconomic impact comparable to diabetes mellitus. As life expectancy rises in industrialized countries the importance of OAB will further increase. The International Continence Society (ICS) recently reported a modified terminology for lower urinary tract function and established the symptom-based term OAB. The etiology of OAB comprises neurogenic and non-neurogenic detrusor hyperactivity as well as detrusor hypersensitivity. Neurogenic detrusor hyperactivity may be caused by insufficient cortical inhibition, degenerative neuropathies, and spinal cord lesions, whereas bladder aging, bladder outlet obstruction, and chronic bladder irritation (UTI, stones, tumors) are possible causes for non-neurogenic detrusor hyperactivity. Since most epidemiologic surveys focus on urge incontinence without considering urgency frequency without incontinence, epidemiologic data concerning OAB are rare. Two recently published multinational prevalence studies from Europe and Asia show different prevalence values [Europe: 15.6% (men), 17.4% (women); Asia: 53.1%(women)], which may be due to methodological differences. Both studies report an increase of OAB prevalence corresponding with age. The cumulative incidence of OAB is rising faster in aging males than in aging females. Two-thirds of the European and one-fourth of the Asian individuals affected by OAB complained about impaired quality of life, but only 60% of the European and 21% of the Asian sufferers have talked to a doctor or sought treatment. One out of four patients visiting their health care professional for OAB symptoms is currently under medication. To avoid high treatment costs and side effects, pharmacotherapy (e.g., antimuscarinics) should only be given after detailed diagnostic evaluation.
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Die Blaseninstabilität ist ein Problem mit wachsendem gesellschaftspolitischem Gewicht und wird bei der zu erwartenden demographischen Entwicklung in Kenntnis der mit steigendem Lebensalter zunehmenden Inzidenz noch weiter an Bedeutung gewinnen. 1995 beliefen sich die Gesamtkosten der Harninkontinenz in den USA auf 26,3 Mrd. US-$, was einem Pro-Kopf-Aufwand von 3.565 US-$ für jeden der über 65-jährigen Inkontinenten entspricht [18], von denen die Mehrheit unter Dranginkontinenz oder einem Pollakisurie-/Nykturie-Syndrom leidet [17]. Gesundheitspolitische Reformzwänge angesichts zunehmender Ressourcenknappheit zwingen zur Bündelung und Ökonomisierung aller gesundheitsfürsorglichen Kräfte. Voraussetzung dafür ist allerdings die genaue Kenntnis der aktuellen alterspezifischen Inzidenz und Prävalenz der instabilen Blase und ihres Einflusses auf die Lebensqualität der Betroffenen.
Epidemiologische Untersuchungen der Vergangenheit näherten sich dem Problem der instabilen Blase fast ausnahmslos über die verallgemeinernde Betrachtung als Subgruppe der Harninkontinenz. Demzufolge finden sich in der Literatur zwar Daten zur Inzidenz und Prävalenz der Harninkontinenz, zwischen Belastungsinkontinenz (Stressinkontinenz), Dranginkontinenz und gemischter Inkontinenz wurde aus untersuchungsmethodologischen Gründen jedoch meist nicht unterschieden (die meisten Erhebungen basieren ausschließlich auf nicht validierten Fragebögen, welche die Inkontinenzuntergruppen nicht mit hinreichender Sicherheit unterscheiden können, um daraus verlässliche epidemiologische Schlussfolgerungen ziehen zu können) [3].
Die Metaanalyse der vorhandenen Daten wird überdies durch eine Vielzahl verwendeter Definitionen der Harninkontinenz und ihrer Untergruppen verkompliziert. Selbst wenn die verwendeten Definitionen in den jeweiligen Publikationen angegeben wurden, was bei weitem nicht immer der Fall ist, sind die Untersuchungsergebnisse aufgrund der definitionsabhängig veränderlichen Prävalenzen kaum vergleichbar [10].
Definitionen und Terminologie
Prinzipiell lassen sich bei der Blaseninstabilität im Besonderen und der Harninkontinenz im Allgemeinen subjektive von objektiven Krankheitsaspekten unterscheiden. Während der individuelle Leidensdruck des Patienten nur schwer zu quantifizieren ist, aber als subjektives Inkontinenzkriterium sowohl für den initialen Behandlungswunsch als auch für den in Therapiestudien der Dranginkontinenz immer wieder beobachteten hohen Placeboeffekt [13] verantwortlich ist, eignen sich objektive Kriterien wie Häufigkeit der Inkontinenz/Miktion und Schweregrad des einzelnen Inkontinenzereignisses zwar gut zur Verlaufsbeobachtung und Einschätzung eines Therapieerfolgs, sind aber in ihrer Erhebung aufwendig (mindestens Miktionstagebuch) und reflektieren oft den Leidensdruck der Patienten nur ungenügend. Pharmakologische Therapiestudien bewegen sich daher bei der Blaseninstabilität wie bei kaum einer anderen Erkrankung in einem ständigen Spannungsfeld zwischen statistischer Signifikanz und klinischer Relevanz des Behandlungserfolgs.
Die folgende unvollständige Auflistung von Inkontinenzdefinitionen aus epidemiologischen Publikationen veranschaulicht die Variabilität der Berücksichtigung subjektiver und objektiver Krankheitskriterien:
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1.
Jeglicher unkontrollierte Urinverlust in den letzten 12 Monaten (Diokno et al. [4])
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2.
Jeglicher unkontrollierte Urinverlust mit einer Frequenz von mehr als 2-mal pro Monat (Thomas et al. [16])
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3.
Jeglicher unwillkürliche Urinverlust, welcher ein soziales oder hygienisches Problem darstellt und objektivierbar ist (ICS [15])
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4.
Jeglicher beklagte unwillkürliche Urinverlust (ICS [2])
Während die ersten beiden Definitionen das objektive Kriterium Inkontinenzhäufigkeit prüfen (bei Diokno: >0 pro Jahr, bei Thomas: >2 pro Monat), fokussieren die beiden Definitionen der ICS-(International-Continence-Society) auf den subjektiven Leidensdruck des Patienten. Die 1976 von der Internationalen Kontinenzgesellschaft noch geforderte Objektivierbarkeit der Inkontinenz hätte jeder epidemiologischen Studie, die sich der ICS-Definition bediente, eine zusätzliche körperliche Untersuchung zur Validisierung und Objektivierung von Fragebogenergebnissen abverlangt, was zur Folge hatte, dass nur sehr wenige epidemiologische Studien die ICS-Definition verwendeten [10] und in der Terminologie-Novellierung der ICS im Jahr 2002 jeglicher beklagte (also mit Leidensdruck vergesellschaftete) Harnverlust ungeachtet von Frequenz oder Schweregrad als Inkontinenz definiert wurde.
Epidemiologische Studien stehen vor dem Dilemma, repräsentative Bevölkerungsquerschnitte von ausreichender Größe und damit statistischer Macht (Power) für ihre Untersuchungen zu benötigen, ohne aus zeit- und personalökonomischen Gründen die aufwändigen objektiven Krankheitskriterien an jedem Individuum der Studienkohorte evaluieren zu können. Daher tendieren solche Studien zu Definitionen mit möglichst wenig objektiven oder objektivierbaren Kriterien, was aber in der Regel zu einer Überschätzung der tatsächlichen Prävalenzen führt. So haben etwa Elving et al. bereits 1989 eindrucksvoll belegt, dass sich die Harninkontinenzprävalenzen einer Dänischen Frauenpopulation in Abhängigkeit von der verwendeten Definition deutlich unterschieden (Abb. 1) [7].
Bei der instabilen Blase und ihrer epidemiologischen Untersuchung sind analoge Tendenzen zu registrieren. So wurde in den letzten Jahren von der Internationalen Kontinenzgesellschaft unter Führung von P. Abrams und A. Wein mit großer Energie die Etablierung des Blasenüberaktivitätssyndroms (engl.: "overactive bladder syndrome", "OAB syndrome") betrieben. Hierbei handelt es sich um eine symptomatisch orientierte Umschreibung eines Zustands, welcher durch mindestens zwei der Kardinalsymptome Harndrang, Pollakisurie, Nykturie und Dranginkontinenz charakterisiert sein muss, wenn gleichzeitig eine lokale Harnwegspathologie (Harnwegsinfekt, Tumor, Steine, metabolische oder hormonelle Entgleisungen) ausgeschlossen wurde.
Da die Definition der überaktiven Blase nur auf Symptomen basiert, ist sie nicht zwangsläufig mit einer urodynamisch nachweisbaren Detrusorinstabilität/überaktivität identisch (sie umfasst vielmehr auch die sensorische Drangsymptomatik nach alter Nomenklatur). Um die Diagnose eines Blasenüberaktivitätssyndroms zu stellen und eine probatorische Initialbehandlung zu beginnen, sind keine urodynamischen Untersuchungen notwendig, was zwar den Kreis der potenziellen Patienten und Therapeuten deutlich vergrößert, aber im Sinne der eingangs erwähnten Ökonomisierung und Kräftebündelung kontraproduktiv wirkt (Antimuskarinika als bevorzugte Initialtherapeutika wirken z. B. bei sensorischer Drangsymptomatik nicht), da eine minimalistische Diagnostik nur kurzfristig Kosten spart, über eine steigende Zahl fehlindizierter und kostenintensiver Pharmakotherapien letztendlich aber teurer ist.
Neben der Einführung des Blasenüberaktivitätssyndroms wurden noch eine Reihe anderer etablierter Fachtermini verändert (Tabelle 1), was bei der Kommunikation zwischen Krankenhäusern und Niedergelassenen mitunter für Verwirrung sorgt, aber mittelfristig der Harmonisierung mit den Publikationen der Weltgesundheitsorganisation und dem Code der internationalen Krankheitenklassifikation (ICD-10) dienen soll [8].
Ätiologie
Bei der Beleuchtung der Ätiologie und Pathophysiologie der instabilen Blase ist es sinnvoll, vom rein symptomatisch definierten und damit ätiologisch vieldeutigen Begriff der Blasenüberaktivität zur auf urodynamischen Messungen basierenden Detrusorhyperaktivität zu wechseln. Die Detrusorhyperaktivität ("detrusor overactivity") ist als urodynamischer Befund unwillkürlicher spontaner oder provozierter Detrusorkontraktionen während der Füllungsphase der Zystometrie definiert [2]. In der neuen Terminologie der ICS wurde möglichen pathophysiologischen Ursachen der Detrusorhyperaktivität dadurch Rechnung getragen, dass die neurologisch verursachte Variante eindeutig als neurogene Detrusorhyperaktivität und nicht mehr als Detrusorhyperreflexie bezeichnet wird. Der Begriff der Detrusorinstabilität als Beschreibung einer nichtneurologisch bedingten Detrusorhyperaktivität wird zukünftig zugunsten der klareren Formulierung "Idiopathische Detrusorüberaktivität" aufgegeben, wobei allerdings zu bedenken gegeben werden muss, dass auch nichtneurogene Detrusorüberaktivitäten existieren, deren Ursachen eindeutig identifizierbar sind, weshalb sie genaugenommen nicht als idiopathische Detrusorüberaktivität bezeichnet werden dürfen (s. unten).
Eine inkomplette Rückenmarkläsion (nicht nur traumatisch, sondern auch im Rahmen einer degenerativen Neuropathie wie der Encephalomyelitis disseminata oder bei Meningomyelozele) sowie eine insuffiziente kortikal-inhibitorische Kontrolle sind mögliche Ursachen einer neurogen enthemmten Blase. Es wird zwar ein Harndrang verspürt, aber die Kontrolle der konsekutiven Detrusorkontraktion gelingt nicht. Eine komplette suprasakrale Rückenmarkläsion hat eine Reflexblase zur Folge, bei der die unwillkürlichen Detrusorkontraktionen vom Patienten unbemerkt ablaufen, also auch nicht mit Drang vergesellschaftet sind. Liegt die Rückenmarkläsion unterhalb des pontinen Miktionszentrums, so ist die reflektorische Blasenentleerung durch eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie gekennzeichnet, während bei einer Störung oberhalb des pontinen Miktionszentrums der Synergismus zwischen Schließmuskel und Detrusor erhalten bleibt [12].
Die nichtneurogene, nichtidiopathische Detrusorhyperaktivität kann auf dem Boden einer Blasenauslassobstruktion entstehen. BPH-Patienten weisen zu einem hohen Prozentsatz irritative Miktionsstörungen (Pollakisurie, Nykturie) auf, welche oft einen viel höheren Leidensdruck als die obstruktiven Symptome (Restharngefühl, Harnstrahlabschwächung) erzeugen und in der Regel den Grund für die Konsultation eines Urologen darstellen. Eine direkte und proportionale Beziehung zwischen Obstruktionsgrad und irritativen Beschwerden lässt sich jedoch nicht nachweisen.
Eine Blasenhalsschwäche kann unter Umständen ebenfalls zu einer nichtneurogenen, nichtidiopatischen Detrusorhyperaktivität führen, indem bei abdominaler Belastung vorzeitig in die proximale Harnröhre eintretender Urin eine unwillkürliche Detrusorkontraktion triggert. Nur bei dieser Sonderform der Detrusorhyperaktivität verspricht eine normalerweise bei Drangpatientinnen kontraindizierte Kolposuspensionsoperation zur Unterstützung des Blasenhalsverschlusses eine erfolgreiche Therapie.
Auch eine suffiziente inhibitorische Detrusorkontrolle des Großhirns kann bei überschießenden sensorischen Signalen afferenter Blasennerven im Rahmen einer Blasenirritation überfordert sein, woraus wiederum eine nichtneurogene Detrusorhyperaktivität—die klassische "Reizblase"—entstehen kann. Akute Blasenentzündungen, Steine oder Tumoren sind typische irritative Faktoren, welche es im Rahmen einer Detrusorhyperaktivitätsabklärung auszuschließen oder zu bestätigen gilt.
Unter dem Begriff der idiopathischen Detrusorhyperaktivität werden alle Formen des überaktiven Detrusors subsummiert, bei denen keine eindeutige Ursache zu identifizieren ist. Psychische Probleme werden hier oft angeführt, aber auch strukturelle Veränderungen der alternden Blase (schleichende Denervierung, Bindegewebsveränderungen, Rezeptorveränderungen, gesteigerte physikochemische Interzellularverkoppelung, lokale Hormondefizite oder Ischämie) kommen als Ursachen—einzeln oder in Kombination—in Betracht [5, 9].
Lässt sich bei einem harndranggeplagten Patienten urodynamisch keine Detrusorhyperaktivität nachweisen, wird eine Detrusorhypersensitivität angenommen und von einer "sensorischen Drangsymptomatik" gesprochen. Pathophysiologisch wird eine unwillkürliche und nicht belastungsassoziierte Urethralrelaxation mit vorzeitigem Harneintritt in die proximale Harnröhre und konsekutiver Miktionstriggerung vermutet, weshalb nach der neuen ICS-Nomenklatur die vertraute sensorische Dranginkontinenz durch den Begriff der "Urethral-Relaxierungs-Inkontinenz mit Harndrang" ersetzt wurde (Tabelle 1) [19].
Zusammenfassend bilden Detrusorhyperaktivität und Detrusorhypersensitivität mit ihren verschiedenen pathophysiologischen Entstehungskonzepten die ätiologische Basis der instabilen Blase und des Blasenüberaktivitätssyndroms.
Epidemiologie
Bis vor kurzen war man bei der Eruierung von Inzidenz und Prävalenz der instabilen Blase bzw. des Blasenüberaktivitätssyndroms auf extrapolierende Schätzungen angewiesen, da fast alle epidemiologischen Studien sich lediglich mit (Drang-)Inkontinenz beschäftigten. Unter der Annahme, dass etwa jeder 3. Patient mit instabiler Blase auch eine Dranginkontinenz beklagt, galt die Faustregel, die alters- und regionalspezifischen Prävalenzdaten der Dranginkontinenz zu verdreifachen, um eine Vorstellung von der Häufigkeit des Blasenüberaktivitätssyndroms zu bekommen [19].
Auf der Basis einer Metaanalyse der verfügbaren Literatur zur Harninkontinenz lassen sich je nach Definition stark variierende Prävalenzen für Frauen (14–40,5%, ICS-Definition: 23,5%) und Männer (4,6–15%) angeben. Die relativen Anteile der gemischten Inkontinenz und der Dranginkontinenz überwiegen bei beiden Geschlechtern den Anteil der Belastungsinkontinenz (Abb. 2) [10].
Im Jahr 2001 wurden 2 große multinationale epidemiologische Studien zur überaktiven Blase veröffentlicht, eine aus Europa [14] und eine aus Asien [11].
Die europäische Studie wurde vom schwedischen Meinungsforschungsinstitut SIFO (Svenska Institutet for Opinionsundersokingar) und dem Gallup-Network in Frankreich, Deutschland, Italien Spanien, Schweden und Großbritannien durchgeführt. Insgesamt wurden 16.776 repräsentativ ausgewählte Personen in den Teilnehmerländern nach ihren Miktionsgewohnheiten befragt (Telefoninterviews oder Direktbefragung; Abb. 3). Individuen mit rezidivierenden Harnwegsinfekten als einzigem Symptom wurden primär aus der Studie ausgeschlossen. Eine Pollakisurie wurde bei einer Miktionsfrequenz von >8 pro 24 h angenommen, eine Nykturie bestand bei mindestens 2-maliger nächtlicher Miktion. Der unwillkürliche Urinverlust bei plötzlich einsetzendem Harndrang und der Unmöglichkeit, die Toilette rechtzeitig zu erreichen, wurde als Dranginkontinenz von der Belastungsinkontinenz (Urinverlust bei körperlicher Anstrengung, Husten oder Niesen) unterschieden.
Die Diagnose eines Blasenüberaktivitätssyndroms setzte das Vorhandensein von mindestens einem der Symptome Pollakisurie, Harndrang, Nykturie oder Dranginkontinenz voraus. Gab es darüber hinaus Anhaltspunkte für eine Blasenauslassobstruktion (etwa bei BPH) oder eine Stressinkontinenz, führte das zu einem Ausschluss aus der Studie. Die untere Altersgrenze für den Studieneinschluss lag bei 40 Jahren.
Die Studienergebnisse zeigen eine altersunabhängige mittlere Blasenüberaktivitätsprävalenz von 16,6% (15,6% Männer, 17,4% Frauen). Die Ergebnisse variieren zwischen den einzelnen Teilnehmerländern (Abb. 4), wobei auffälligerweise die Prävalenzdaten in Spanien, dem einzigen Land mit Direktinterviews, am höchsten ausfielen. Offenbar spielte die Interviewtechnik (anonymes Telephoninterview oder persönliche Direktbefragung mit Augenkontakt) dahingehend eine Rolle, dass die offene Atmosphäre eines persönlichen Gesprächs die Befragten eher ermutigte, über ihre Blasenprobleme zu sprechen.
Mit zunehmendem Lebensalter zeigt sich ein typischer Prävalenzanstieg der Blasenüberaktivität (Abb. 5) und erreicht in der Gruppe der über 75-jährigen Männer einen Spitzenwert von 41,9%. Die geschlechtsspezifischen Kurven der kumulativen Inzidenz kreuzen sich etwa ab dem 60. Lebensjahr—in jüngeren Altersgruppen ist die Blasenüberaktivität bei Frauen häufiger (postmenopausale Hormondefizienz), während das häufig mit irritativen Symptomen vergesellschaftete Prostatawachstum des alternden Mannes chronisch fortschreitet und im hohen Alter zu Prävalenzen führt, welche die weiblichen Werte übersteigen.
Monosymptomatische Blasenüberaktivität und Blasenüberaktivität mit sämtlichen Symptomen (Pollakisurie/Nykturie, Harndrang und Dranginkontinenz) kamen selten vor. Die häufigste genannte Symptomkombination war übermäßiger Harndrang und Pollakisurie (Abb. 6). 65% aller Männer und 67% aller Frauen gaben an, ihre Blasenüberaktivität beeinträchtige ihre Lebensqualität. Von diesen hatten aber 40% noch nie mit einem Doktor über ihr Problem gesprochen, und die, welche ärztliche Hilfe in Anspruch genommen haben, sind in ihrer Mehrheit ohne aktuelle Behandlung (Medikation) (Abb. 7).
Die asiatische Parallelstudie von Lapitan et al. [11] untersuchte die Blasenüberaktivitätsprävalenz bei 5502 asiatischen Frauen aus 11 Teilnehmernationen (Abb. 8). Neben der Beschränkung auf das weibliche Geschlecht existieren auch methodologische Unterschiede zur europäischen Studie von Milsom et al. [14]. Die Altersgrenze der repräsentativ ausgewählten Frauen für den Studieneinschluss (18 Jahre) lag deutlich niedriger als in Europa, die Datenerhebung erfolgte über einen Multiple-Choice-Fragebogen und das Symptom Pollakisurie wurde bereits bei einer täglichen Miktionsfrequenz von 8 und mehr als gegeben angesehen (in Europa 9 und mehr). Rezidivierende Harnwegsinfekte waren nicht nur kein Ausschlusskriterium, sondern wurden in dem Fragenbogen gar nicht berücksichtigt.
Bei der Analyse der Untersuchungsergebnisse überrascht die hohe Prävalenz der überaktiven Blase in jungen Altersgruppen (Abb. 9). Sie übersteigt mit 49% den höchsten bei europäischen Frauen gemessenen Wert (31,3%) bei weitem und widerspricht der pathophysiologischen Hypothese von der Östrogendefizienz als wichtigem ätiologischen Faktor bei der Entstehung der Blasenüberaktivität. Da die Inzidenz von blasenirritativen Harnwegsinfekten bei sexuell aktiven jungen Frauen nicht zu vernachlässigen ist, aber im Fragebogendesign unberücksichtigt blieb, muss von einer erheblichen Überschätzung der tatsächlichen Blasenüberaktivitätsprävalenz ausgegangen werden. Allerdings zeigt sich auch in der asiatischen Studie ein kontinuierlicher Prävalenzanstieg mit zunehmendem Lebensalter, was auf im Alter sinkende Blasenkapazität, veränderte neurologische Blasenkontrolle und strukturelle Bindegewebsveränderungen zurückgeführt werden kann [6].
Im Gegensatz zur europäischen Studie war die monosymptomatische Blasenüberaktivität häufiger als Symptomkombinationen (Abb. 6). Die Kategorie "Pollakisurie + Dranginkontinenz (ohne Drangsymptomatik)" existiert nur in der asiatischen Studie und wirft die Frage auf, ob eine Dranginkontinenz nicht a priori das Vorhandensein einer Drangsymptomatik per definitionem impliziert, mithin die 3,6% Prävalenz nicht der Kategorie "Drang + Pollakisurie + Dranginkontinenz" zugeschlagen werden müssten.
Fokussiert man auf den Leidensdruck der Frauen mit Blasenüberaktivität, so wird die klinisch-therapeutische Relevanz der hohen Prävalenzdaten deutlich relativiert. 75,4% verneinen jegliche Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität durch die überaktive Blase (Abb. 10), und lediglich 21,1% aller Betroffenen haben je professionelle Hilfe in Anspruch genommen.
Schlussfolgerungen
Die neue Nomenklatur der Internationalen Kontinenzgesellschaft und die Einführung des symptomorientierten Blasenüberaktivitätssyndroms bedingen in einer Übergangsphase kommunikative Konfusion, die bei allgemeiner Akzeptanz aber die einmalige Chance einer Vereinheitlichung von Definitionen und epidemiologischen Studienprotokollen beinhaltet. Die ohnehin dürftige Datenlage zur Epidemiologie der instabilen Blase wird durch unnötig divergierende Definitionen und unterschiedliche Erhebungsmethoden zusätzlich verwässert und undurchsichtig.
Prävalenzdaten unterschiedlicher Studien können noch so akkurat ermittelt und detailliert analysiert werden, unterschiedliche Untersuchungskonzepte und mangelnde Konsensusfähigkeit verhindern schließlich die vergleichende Beurteilung der existierenden Studien und schmälern dadurch ihren klinischen Wert. Die bloße Erkenntnis, dass die Prävalenz des Blasenüberaktivitätssyndroms bei Frauen in Europa 17% und in Asien 53% beträgt, hat ohne eine Information über den Leidensdruck und die Lebensqualitätseinschränkung keine therapeutische Relevanz.
Wenn 40% aller betroffenen Europäer und 80% aller Asiatinnen noch nie mit einem Arzt über ihr Problem gesprochen oder gar professionelle Hilfe in Anspruch genommen haben, so decken diese Zahlen erhebliche Informations- und Aufklärungsdefizite auf. Man sollte sich aber vor der Annahme hüten, dass jede Person mit Blasenüberaktivitätssyndrom—ausreichende Informiertheit vorausgesetzt—potenziell behandlungswillig oder -bedürftig ist.
Eine probatorische Therapie der instabilen Blase ohne vorherige diagnostische Ursachenforschung ist angesichts hoher Behandlungskosten nicht nur volkswirtschaftlich schädlich, sondern vielfach auch ineffektiv (Patienten mit Blasenüberaktivität ohne Detrusorüberaktivität—die sensorischen Drangpatienten—profitieren z. B. von Antimuskarinika nicht) und angesichts der z. T. erheblichen Nebenwirkungen auch ethisch höchst bedenklich.
Nichtsdestotrotz handelt es sich bei der instabilen Blase um eine häufige Erkrankung mit im Alter steigender Prävalenz. Bei zunehmender Überalterung der Gesellschaft in den Industrieländern wird das Problem noch an Gewicht gewinnen. Die Komorbidität (nächtliche Stürze und Frakturen, Depressionen, Harnwegs- und Hautinfektionen) der instabilen Blase trägt entscheidend zur Lebensqualitätseinschränkung bei [3].
2/3 der (europäischen) Betroffenen suchen Hilfe, aber eine professionelle und kompetente Behandlung setzt eine intime Kenntnis der Pathophysiologie und die individuelle diagnostische Abklärung und Information des Patienten voraus. Eine genauere Aufarbeitung des epidemiologischen Materials unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebensqualitätseinbussen von Blasenüberaktivitätsbetroffenen mit und ohne Dranginkontinenz sollte eines der vordringlichen Ziele zukünftiger Forschungstätigkeit auf diesem Gebiet sein.
Fazit für die Praxis
Die instabile Blase ist schon heute eine Volkskrankheit, welche mit zunehmender Überalterung der Gesellschaft noch stärkeres sozioökonomisches Gewicht bekommen wird. Zwei vorliegende multinationale epidemiologische Prävalenzstudien aus Europa und Asien zeigen eine steigende Prävalenz mit zunehmendem Lebensalter. Die kumulative Inzidenz steigt bei alternden Männern stärker als bei alternden Frauen. 2/3 der europäischen und 1/4 aller asiatischen Betroffenen sind in ihrer Lebensqualität eingeschränkt, wobei 60% aller europäischen und 21% aller asiatischen Betroffenen bereits professionelle Hilfe in Anspruch genommen haben. Nur jeder 4. Europäer, der wegen einer Blasenüberaktivität einen Arzt aufgesucht hat, wird dauerhaft medikamentös behandelt, weshalb eine Pharmakotherapie wegen der hohen Behandlungskosten und der erheblichen Nebenwirkungen nicht ohne genaue diagnostische Abklärung erfolgen sollte.
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Hampel, C., Gillitzer, R., Pahernik, S. et al. Epidemiologie und Ätiologie der instabilen Blase. Urologe [A] 42, 776–786 (2003). https://doi.org/10.1007/s00120-003-0360-1
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00120-003-0360-1