Die Krankheitslast bezeichnet den Gesundheitsverlust, der in einer Bevölkerungsgruppe, einem Staat oder einer Weltregion durch bestimmte Gesundheitsprobleme entsteht. Sie wird häufig mit relativ abstrakten Indikatoren quantifiziert, wie z. B. anhand qualitäts- oder behinderungsadjustierter Lebensjahre (vgl. [63]). Im vorliegenden Beitrag werden für die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) hingegen drei Facetten von Krankheitslast mit unmittelbar praktischer Relevanz untersucht: Krankheitskosten (als Indikator von Behandlungsbedarf und Beeinträchtigung), erhöhte somatische Komorbidität (als zur BPS zusätzlich hinzukommender Gesundheitsverlust) sowie erhöhte Mortalität (Verlust an Lebenszeit).

Hintergrund

Schwere psychische Störungen („severe mental illness“, SMI) sind durch das Vorliegen einer psychischen Diagnose mit einer Dauer und/oder Behandlung über mindestens zwei Jahre und psychosozialen Beeinträchtigungen (verminderte Lebensqualität und Partizipationsstörungen) von gewisser quantifizierbarer Schwere sowie auch durch Übersterblichkeit („premature death“) definiert [9, 22, 59]. SMIs sind klinisch besonders bedeutsam, da sie oftmals mit komplexen Behandlungen und einer hohen Inanspruchnahme medizinischer, psychosozialer und finanzieller Hilfen verbunden sind.

Bisher wurde der Begriff der SMI meist auf psychotische Störungen, bipolare Störungen und schwere unipolare Depressionen angewandt, aber es kann aus klinischer wie auch aus epidemiologischer Perspektive argumentiert werden, hier auch weitere Diagnosen einzubeziehen [62]. Die BPS erscheint mit einer hohen Prävalenz im ambulanten und insbesondere im stationären Setting besonders versorgungsrelevant [12]. Die tiefgreifenden Muster von Instabilität im Selbstbild, in Affekten und zwischenmenschlichen Beziehungen sowie Impulsivität sind für die Betroffenen mit einem hohen Leidensdruck und eingeschränktem psychosozialem Funktionsniveau verbunden [37, 42]. Langzeitstudien zeigen, dass bei einem erheblichen Teil der Betroffenen in wiederkehrenden Episoden von Rezidiven und Remission akute Symptome wie emotionale Instabilität und Impulsivität im Laufe des Lebens zwar abklingen, eine eingeschränkte Lebensqualität und ein reduziertes psychosoziales Funktionsniveau aber bestehen bleiben [1, 55]. Somit ist eine Rechtfertigung der Einordnung der BPS als SMI anhand von Symptom- und Beeinträchtigungsschwere sowie Persistenz bereits hinreichend belegt.

Um die Perspektive über psychologische und psychiatrische Aspekte hinaus zu erweitern, möchten wir in Ergänzung hierzu die BPS auch mit ihren gesundheitsökonomischen Auswirkungen sowie ihrer erhöhten somatischen Komorbidität und Mortalität als SMI einordnen. Hierzu berichten wir eine aktuelle Literaturübersicht und die für die BPS spezifischen Ergebnisse der umfangreichen Analyse von Abrechnungsdaten der deutschen gesetzlichen Krankenkassen, die von Schneider, Erhart et al. [45] vorgenommen wurden.

Methoden

Identifikation und Selektion der Literaturübersichten

In der Literaturrecherche wurden ausschließlich publizierte Artikel eingeschlossen, welche sich mit folgenden Inhaltsbereichen der Krankheitslast von BPS beschäftigten:

  1. a)

    direkte und/oder indirekte Kosten,

  2. b)

    somatische Komorbidität und

  3. c)

    Mortalität (einschließlich vollendeter Suizide).

Eingeschlossen wurden englisch- und deutschsprachige Übersichtsartikel, welche im Zeitraum zwischen 2010 und 2020 publiziert wurden, sowie weitere neuere Originalarbeiten, die besondere zusätzliche Aspekte differenzieren. Einzelne relevante ältere Arbeiten wurden ergänzt, wenn diese in den Übersichtsarbeiten seit 2010 nicht berücksichtigt worden waren.

Zur Identifikation der Publikationen wurde von Oktober bis Dezember 2020 eine systematische Literaturrecherche in der Datenbank Web of Science und ergänzend durch PubMed durchgeführt (Abb. 1). Die Recherche wurde mit dem Begriff „borderline personality“ in Kombination mit folgenden Suchwörtern für die Publikationsart „Review“ durchgeführt: a) für Kosten: „cost*“, „economic*“, „burden“, b) für somatische Komorbidität: „comorbid*“, „illness*“, „physical“, „somatic“, „health“; c) für Mortalität: „mortality“, „life expect*“, „death*“, „suicid*“.

Abb. 1
figure 1

Identifikation der Publikationen zur Krankheitslast (Krankheitskosten, somatische Komorbidität, Mortalität) der Borderline-Persönlichkeitsstörung

Die Titel und Zusammenfassungen der auf diese Weise identifizierten 466 Artikel (darunter 27 Übersichtsarbeiten) sowie 22 zusätzliche Quellen wurden durch zwei der Autorinnen gesichtet und auf ihre Relevanz geprüft. So wurden z. B. Artikel ausgeschlossen, die sich mit Suizidalität, aber nicht mit vollendetem Suizid beschäftigt hatten, sowie solche, die lediglich kleine oder sehr spezifische Stichproben untersucht hatten. Über den endgültigen Einschluss der hier präsentierten Studien (n = 45, darunter 15 Übersichtsarbeiten) wurde im Konsens aller Autorinnen und Autoren entschieden.

Ermittlung erhöhter somatischer Komorbidität und Mortalität

Die hier präsentierten deutschen administrativen Ergebnisse für die komorbiden somatischen Diagnosen (einschließlich von im Versorgungsgeschehen codierten Risikofaktoren für somatische Erkrankungen wie z. B. Substanzkonsumstörungen oder Übergewicht) und für die Übersterblichkeit wurden der Studie von Schneider, Erhart et al. [45] nach Einholung der entsprechenden Genehmigung entnommen und fokussiert auf die BPS neu aufbereitet. Dort wurde eine Datenbank des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung der Bundesrepublik Deutschland (Zi) genutzt, die aus Abrechnungsdaten (§ 295 Sozialgesetzbuch V) aller gesetzlich krankenversicherten Erwachsenen in Deutschland mit Kontakt zu Allgemein- oder Fachärztinnen und Fachärzten oder psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten besteht, die für die Abrechnung mit den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) akkreditiert sind. Administrative 12-Monats-Prävalenzen der BPS (codiert als F60.3x als Haupt- oder Nebendiagnose) sowie zusätzliche Diagnosen, welche somatisch relevante Risikofaktoren (z. B. Selbstbeschädigung oder Drogenkonsum) bzw. somatische Komorbiditäten darstellen, wurden mit Querschnittsdaten aus dem Jahr 2016 ermittelt (Alter ≥ 18; n = 59.561.310). Assoziationen der Komorbidität (im Sinne einer erhöhten Chance, das Merkmal bei vorliegender BPS-Diagnose vs. ohne BPS-Diagnose aufzuweisen) wurden mittels logistischer Regression als Odds Ratios (OR) und zugehörigen 95 %-Konfidenzintervallen (KI) adjustiert nach Alter und Geschlecht berechnet. In der vorliegenden Arbeit werden nicht alle signifikanten Assoziationen, sondern besonders aussagekräftige (OR > 2) berichtet.

Dem genannten Datensatz aus dem Jahre 2016 fehlen Informationen über die Mortalität. Unter Verwendung der neuesten hierzu verfügbaren Daten wurde die 2‑Jahres-Mortalität für die Jahre 2013 bis 2014 im Längsschnitt anhand einer Teilstichprobe (2012: n = 15.590.107) berechnet. Sterblichkeitsraten für 2013 bis 2014 wurden als Rohprozentsatz für Patientinnen und Patienten mit und ohne F60.3x-Diagnose im Jahre 2012 ermittelt. Aufgrund der geringen Prävalenz der Sterblichkeitsraten ähneln die OR relativen Risiken (RR). Lebenszeitverluste wurden anhand statistischer Sterbetafeln für die allgemeine deutsche Bevölkerung im Jahr 2014 ermittelt; Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen der Gesamtbevölkerung und BPS-Patientinnen und -Patienten wurden als Indikator für verlorene Lebensjahre herangezogen. (Für weitere Details siehe Originalstudie von Schneider, Erhart et al. [45].)

Ergebnisse

Befunde zu Krankheitskosten

Die Ergebnisse der Literaturrecherche zu direkten und indirekten Kosten weisen für die BPS ein ausgeprägtes Hilfesuchverhalten im Gesundheitssystem (direkte Kosten) bei gleichzeitig bedeutsam reduziertem Funktionsniveau (indirekte Kosten) aus. Summiert ergeben sich pro Fall und Jahr Kostenschätzungen im niedrigen bis mittleren fünfstelligen Bereich. Kostensenkungen scheinen durch (psychotherapeutische) Interventionen möglich, obgleich die Evidenz hierzu bislang nicht hinreichend eindeutig ist (Tab. 1).

Tab. 1 Krankheitslast der Borderline-Persönlichkeitsstörung: direkte und indirekte Krankheitskosten

Befunde zur somatischen Komorbidität

Personen mit BPS leiden häufiger als die Allgemeinbevölkerung bzw. Personen mit anderen psychischen Störungen an somatischen Komorbiditäten. Die Ergebnisse der Literaturrecherche zeigen vor allem eine erhöhte Prävalenz kardiovaskulärer Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, gastrointestinaler Erkrankungen, aber auch Schmerzstörungen (Tab. 2).

Tab. 2 Krankheitslast der Borderline-Persönlichkeitsstörung: erhöhte somatische Komorbidität und Mortalität

Einen Überblick über das Vorliegen somatischer Erkrankungen sowie Risikofaktoren für somatische Erkrankungen bei Personen mit im Vergleich zu ohne BPS-Diagnose in Deutschland liefert zudem Tab. 3 (administrative Daten aus [45]). Hierbei sind neben den dort genannten Erkrankungen vor allem risikohohes Verhalten für somatische Komorbiditäten wie vorsätzliche Selbstbeschädigung (OR = 56,22; 95 %-KI [52,76; 59,90]), Störungen durch Alkohol (OR = 12,23; 95 %-KI [06,12; 12,40]), psychotrope Substanzen (OR = 5,28; 95 %-KI [5,22; 5,33]) und äußere Ursachen einschließlich Unfällen (OR = 4,29; 95 %-KI [4,12; 4,46]) für Personen mit BPS bedeutsam erhöht.

Tab. 3 Somatische Komorbidität und Risikofaktoren für somatische Erkrankungen bei erwachsenen Patientinnen und Patienten mit vs. ohne Borderline-Persönlichkeitsstörunga

Mortalität

Wie ebenfalls in Tab. 2 der Literaturübersicht aufgeführt, ist die Mortalität durch Suizide und durch somatische Komorbidität bei Personen mit BPS in aktuellen internationalen Studien bedeutsam erhöht, auch gegenüber vielen anderen psychischen Störungen.

Die Bedeutsamkeit der Mortalität speist sich auch aus der Prävalenz der BPS, die anhand der administrativen Abrechnungsdaten aus Schneider, Erhart et al. [45] für Deutschland 0,341 % beträgt (12-Monats-Prävalenz; entspricht über 200.000 Fällen im Jahr 2016). Die Prävalenz ist höher in der weiblichen Bevölkerung (0,448 % vs. 0,210 %) und nimmt mit dem Alter allgemein ab (Tab. 4). Die 2‑Jahres-Sterblichkeitsrate von Personen mit BPS ist im Vergleich zu Fällen ohne BPS um das 2,3-Fache erhöht (95 %-KI [2,08; 2,54], Tab. 4); Personen mit BPS weisen unabhängig von der altersbedingten Mortalitätsrate der Allgemeinbevölkerung über die gesamte Lebensdauer ein erhöhtes Sterberisiko auf.

Tab. 4 Administrative Prävalenzen (2016) der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach Alter und Geschlecht und erhöhte 2‑Jahres-Sterblichkeitsraten bei Fällen mit vs. ohne Borderline-Persönlichkeitsstörung nach Alter und Geschlecht. (Mod. nach [45])

Der geschätzte Lebenszeitverlust für Personen mit BPS variiert in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht zwischen 5,0 und 9,2 Jahren, mit höheren Verlusten bei Jüngeren und bei Männern (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Geschätzter Verlust an Lebensjahren (nach Alter und Geschlecht) bei Borderline-Persönlichkeitsstörung (Mod. nach [45]). (Daten der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland [Teilstichprobe aus 2012 mit Daten zur Sterblichkeit, n = 15.590.107; Todesfälle in der Teilstichprobe 2013–2014, n = 288.503]. Vergleichsgruppen: F60.3x Diagnose vorhanden vs. nichtvorhanden)

Diskussion

In unserer internationalen Literaturrecherche sowie auch in der störungsspezifischen Darstellung der Analysen von Schneider et al. [45] anhand deutscher Abrechnungsdaten wurde deutlich, dass Personen mit einer diagnostizierten Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) eine hohe Krankheitslast im Sinne hoher Krankheitskosten sowie deutlich erhöhte Prävalenzen somatischer Komorbiditäten und Risikofaktoren aufweisen. Auch die (2-Jahres‑)Sterblichkeitsrate ist erhöht, mit einem deutlichen Lebenszeitverlust in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht. Die in der vorliegenden Arbeit zusammengestellten Befunde zur Krankheitslast der BPS erweitern die existierende Befundlage zur Schwere der psychischen Symptomatik um gesundheitsökonomische und somatische Aspekte und legen nahe, diese Diagnose bei den „schweren psychischen Störungen“ (SMI; vgl. [9]) mit zu verorten.

Direkte und indirekte Krankheitskosten

Auch wenn unsere Literaturrecherche eine große Variabilität der Kostenschätzungen aufzeigt, wird deutlich, dass die BPS mit im Vergleich zu anderen Erkrankungen hohen materiellen und immateriellen Krankheitskosten verbunden ist. Ein großer Anteil der direkten Kosten scheint dabei durch somatische Gesundheitsleistungen zu entstehen, was mit der hohen Rate an somatischen Komorbiditäten assoziiert ist [17]. Indirekte Kosten insbesondere durch Partizipationsstörungen (vgl. [32]) sind in erheblichem Umfang an den Gesamtkosten beteiligt [24, 25, 42].

Eine adäquate Behandlung der BPS kann die Krankheitskosten senken

Die individuellen und gesellschaftlichen Kosten werden aber auch – nicht einfach monetär bezifferbar – in der erheblich beeinträchtigten Lebensqualität, dem persönlichen Leiden und der Symptomlast sowie der Benachteiligung durch Stigmatisierung deutlich [20, 25, 31, 33]. Eine adäquate Behandlung der BPS kann die Krankheitskosten senken [4, 35, 64]. Wichtig ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine oft langjährig persistierende Diagnose handelt, die trotz vieler effektiver Behandlungsansätze und selbst nach Remission eine gewisse Symptomlast und Funktionseinschränkungen aufweisen kann. Dies legt nahe, das individuelle Funktionsniveau vor und während jeder Behandlung zu erheben, um auch den Aspekt der Krankheitskosten explizit bei den Behandlungsmaßnahmen einzubeziehen.

Erhöhte somatische Risikofaktoren und Komorbiditäten

Die Analyse der Krankenkassendaten bildet ab, dass die BPS mit besonders hohem Risikoverhalten für somatische Komorbidität einhergeht. An erster Stelle stehen die Selbstbeschädigung, die als ein mögliches BPS-Diagnosekriterium zu erwarten ist, sowie die bekannte Komorbidität zu substanzbezogenen Störungen. Diese Verhaltensweisen dienen oft der Emotionsregulation und stehen in enger Wechselwirkung (z. B. impulsive Einnahme einer Überdosis an Medikamenten bei emotionaler Anspannung mit der Folge eines Leberschadens). So könnte das erhöhte Risiko für Hepatitiden bzw. Asthma und COPD („chronic obstructive pulmonary disease“) mit Alkohol- bzw. Nikotinabusus im Zusammenhang stehen. Impulsivität und erhöhte Aggression als weitere typische Symptome der BPS können wiederum zu Risikoverhalten wie unvorsichtigem Autofahren, ungeschütztem Geschlechtsverkehr oder körperlichen Auseinandersetzungen führen, mit entsprechenden somatischen Folgen wie Unfallverletzungen oder Infektionserkrankungen.

Stigmatisierung trägt zu einer unzureichenden Prävention und Versorgung bei

Hohes Risikoverhalten und ungünstiger Lebensstil (einschließlich Übergewicht) sind vermutlich mitursächlich für die erhöhte somatische Komorbidität. Nicht zu vernachlässigen sind aber auch iatrogene Faktoren, wie psychotrope (Poly)pharmazie, unzureichende Aufmerksamkeit auf somatische Komorbiditäten und mangelnde Vermittlung von Gesundheitskompetenz für Betroffene; diese sind möglicherweise behandlerseitig mit bedingt durch die eigene Überforderung, Frustration und fehlende Kenntnisse [7, 11]. Die Stigmatisierungen der BPS auf gesellschaftlicher, ärztlicher und individueller Ebene (Selbststigmatisierung) tragen zu einer inadäquaten Prävention und (somatischen) Versorgung bei [43].

Weiterhin spielen insbesondere bei schwerer BPS-Symptomausprägung (neuro-)biologische Faktoren, wie maladaptive neuronale und endokrinologische Stressregulation, Dysregulation von Zytokinen, aber auch genetische Faktoren ätiologisch eine wichtige Rolle in der Entstehung somatischer Komorbiditäten [7, 27, 51]. Umso wichtiger sind umfassende, interdisziplinäre und multiprofessionelle Versorgungskonzepte, die auch für stark Betroffene zugänglich sind.

Entgegen den Ergebnissen der Literaturrecherche (siehe z. B. [10]) sind in der vorliegenden Analyse der deutschen Krankenkassendaten kardiovaskuläre und gastrointestinale Erkrankungen, Diabetes mellitus und Schmerzstörungen zwar erhöht, zählen aber nicht zu den häufigsten somatischen Komorbiditäten [45]. Erklärend dafür könnten Unterschiede in Studiendesigns und hier genannte Besonderheiten der Datenbasis sein (Codierung im Versorgungsalltag sowie der Einbezug aller erwachsenen gesetzlich Krankenversicherten und aller denkbaren codierbaren Diagnosen).

Zusammenfassend lässt sich hierzu festhalten, dass Menschen mit einer BPS in besonderem Maße ein erhöhtes Risiko für somatische Komorbiditäten haben und dies in einem komplexen Gefüge aus ungünstigem Lebensstil und Risikoverhalten, psychiatrischen Komorbiditäten, iatrogenen und strukturellen Faktoren sowie neurobiologischen Mechanismen zu stehen scheint. Eine differenzierte individuelle Prüfung dieser Faktoren sollte daher bei jeder Patientin und jedem Patienten erfolgen. Die Ergebnisse unterstreichen die Dringlichkeit einer verbesserten somatischen Prävention und Versorgung, der Veränderung der Gesundheitskompetenz und der Förderung adäquaten Inanspruchnahmeverhaltens von Betroffenen.

Mortalität: Suizide und Übersterblichkeit

In engem Zusammenhang zur somatischen Komorbidität steht eine erhöhte Mortalität [6, 29]. Neben hohen Raten vollendeter Suizide bei der BPS, die vergleichbar mit Suizidraten bei der Schizophrenie sind, werden in der internationalen Literatur deutlich erhöhte Raten vorzeitiger Sterblichkeit aufgrund natürlicher Ursachen und eine Reduktion der Lebenserwartung von bis zu 20 Jahren berichtet [5, 13, 15, 19, 38, 40, 50]. Im Vergleich zu anderen SMIs liegt bei Schneider, Erhart et al. [45] die Mortalität der BPS mit einer um das 2,3-Fache erhöhten 2‑Jahres-Sterblichkeit zwar unter der Sterblichkeitsrate psychotischer Störungen, aber deutlich über den affektiven Störungen, ähnlich wie bei den skandinavischen Daten von Nordentoft et al. [38]. Der geschätzte Verlust von bis zu 9 Lebensjahren, der sich aus der Analyse der deutschen Krankenkassendaten ergibt, liegt eher am unteren Ende der Befunde aus der internationalen Literatur. Hierfür könnten methodische Faktoren, wie der Einbezug auch weniger schwer Betroffener, die Betrachtung über alle Altersgruppen hinweg und hier beschriebene Besonderheiten der Datenbasis (einschließlich des für die Mortalitätsschätzungen genutzten relativ kurzen Beobachtungszeitraums) verantwortlich sein. Auch länderspezifische Faktoren in der Gesundheitsversorgung und eine mögliche protektive Wirkung durch den niederschwelligen Zugang zu einem guten Gesundheitssystem in Deutschland könnten die Datenlage beeinflussen.

Schneider, Erhart et al. [45] schätzen, dass pro Jahr 24 % der SMI-Übersterblichkeit auf Suizide und 76 % auf natürliche Ursachen (d. h. somatische Komorbidität) oder andere unnatürliche Ursachen (z. B. Unfälle) zurückzuführen sind; dies entspricht auch anderen internationalen Befunden [7, 44, 50]. Deutlich wird die höhere Sterblichkeitsrate bei Männern, bei denen es häufiger als bei Frauen zum vollendeten Suizid kommt; auch liegen häufiger substanzbezogene Komorbiditäten vor, und es wird seltener Hilfe und Behandlung in Anspruch genommen bzw. seltener überhaupt eine BPS diagnostiziert [10, 15, 23, 40, 47]. Auffällig ist auch der höhere Verlust an Lebensjahren bei Jüngeren (bei denen die Prävalenz bzw. Diagnosevergabe am höchsten ist). In den frühen adulten Jahren sind Symptome wie affektive Dysregulation, Impulsivität und Suizidalität dominant, die zu akuten Krisen und erhöhtem Risikoverhalten hinsichtlich somatischer Komorbiditäten führen können, und beim Todesfall in jungen Jahren ist der Verlust an Lebensjahren höher als im höheren Alter [55]. Auch sind stationäre Behandlungen häufiger, die im ersten Jahr nach Entlassung mit einem besonders hohen Mortalitätsrisiko assoziiert zu sein scheinen [38].

Die Sterblichkeitsrate ist bei Männern und Jüngeren deutlich erhöht

Die hier berichtete Übersterblichkeit bei der BPS verweist wieder auf die Dringlichkeit einer verbesserten Prävention und einer intensivierten somatischen Versorgung, insbesondere für Männer und junge Betroffene. Denn Verfügbarkeit und Qualität der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung allein haben nur einen begrenzten Effekt auf die somatische Gesundheit, wie skandinavische Studien nahelegen [38].

Stärken und Limitationen der Literaturrecherche und der administrativen Datenbasis

Die berichtete Literaturrecherche zu aktuellen (2010–2020) Übersichtsarbeiten zu Krankheitskosten, somatischer Komorbidität und Mortalität bei der BPS bildet aus unserer Sicht die Befundlage zufriedenstellend und ohne bedeutsame Lücken ab. Es handelt sich zwar nicht um einen systematischen Review, der vollständig entlang der PRISMA-Kriterien (vgl. prisma-statement.org) durchgeführt wurde; allerdings wurde im vorliegenden Beitrag zur Krankheitslast der BPS auch lediglich eine Zusammenstellung von Kernaussagen mit Hinweis auf die wichtigsten Quellen benötigt, ohne weitere Quantifizierungen vornehmen zu müssen und entsprechend systematisch einzelne Variablen zu extrahieren (z. B. Kostenfaktoren, Risikogrößen, Mortalitätsraten etc.), Risiken für Verzerrungen differenziell zu berücksichtigen, Effekte zu schätzen etc.

Der Zugriff auf Abrechnungsdaten wie in der vorliegenden Publikation bietet die einzigartige Möglichkeit, das Versorgungsgeschehen in Deutschland mit fast 60 Mio. Datensätzen umfassend abzubilden. Spezifika der BPS wurden im vorliegenden Beitrag genauer betrachtet und eingeordnet, als es in der Originalarbeit [45] möglich war. Allerdings müssen auch Limitationen hinsichtlich der in dieser Datenbasis codierten Diagnosen berücksichtigt werden. Mit einer administrativen 12-Monats-Prävalenz von 0,341 % befinden sich die vorliegenden Daten eher am unteren Ende internationaler Befunde, entsprechen allerdings den auch andernorts berichteten Trends hinsichtlich Geschlechts- und Altersverteilung (vgl. [10, 12, 52, 55]). Krankenkassendaten bilden die Vergabe von Diagnosen im Gesundheitssystem ab und entsprechen nicht immer streng kriterienorientierter Diagnostik. Sie spiegeln damit auch mögliche diagnostische Verzerrungen, z. B. durch Fehldiagnosen und sich wandelnde Diagnosekulturen, Stigmatisierung, unzureichende Inanspruchnahme und Versorgung sowie auch regionale Unterschiede in Versorgungsangeboten (vgl. [21]). Allerdings sind solche potenziellen diagnostischen Verzerrungen, die möglicherweise zu Über- oder Unterschätzungen einzelner Prävalenzen führen, aus unserer Sicht kein Anlass für Zweifel hinsichtlich der berichteten Zusammenhänge zwischen der hier fokussierten Diagnose BPS und den assoziierten somatischen Diagnosen bzw. der Mortalität.

Schlussfolgerungen

Die Befunde unserer Literaturübersicht sowie der Analysen administrativer Daten unterstreichen, wie notwendig (neben der psychotherapeutischen und psychiatrischen) auch angemessene und verstärkte somatische Prävention und Versorgung für Menschen mit BPS sind. Neue interdisziplinäre und multiprofessionelle Versorgungsformen, wie etwa die Erprobung spezieller behandlerseitiger als auch patientenseitiger Unterstützungen, könnten die gesundheitliche Chancengerechtigkeit für diese Gruppe fördern (vgl. www.psy-komo.de). Zukünftige Forschung sollte die komplexen Zusammenhänge zwischen der BPS und Risikoverhalten, Lebensstil, psychiatrischen und somatischen Komorbiditäten sowie neurobiologischen Mechanismen nicht nur in epidemiologischen Beobachtungsstudien, sondern auch in Präventions- und Interventionsstudien weiter aufklären.

Fazit für die Praxis

Hilfreich für die – neben psychotherapeutischer und psychiatrischer Versorgung – notwendige Förderung somatischer Gesundheit und die Reduktion von Übersterblichkeit bei Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung sind:

  • Förderung der Gesundheitskompetenz hinsichtlich somatischer Komorbiditäten sowie Anleitung und Motivation zu präventiven Maßnahmen (z. B. Vereinbarung regelmäßiger Termine nicht nur in Notfallsituationen, Lebensstiländerungen, Entwöhnungsbehandlungen, Skillstraining, Stärkung der Eigenverantwortung), insbesondere bei jungen und männlichen Patienten

  • Reflexion der eigenen Haltung und des eigenen Verhaltens zum Abbau eigener Vorurteile, Überforderung und Frustration

  • kritische Prüfung des Einsatzes von Psychopharmaka (Reduktion ungünstiger iatrogener Effekte auf die somatische Gesundheit)

  • strukturelle Veränderungen (z. B. Finanzierung und Aufbau zugänglicher und kooperativer somatisch-psychiatrisch-psychotherapeutischer Versorgungsnetze)