Zusammenfassung
Hintergrund
Das maligne neuroleptische Syndrom (MNS) ist eine insgesamt seltene unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) einer psychopharmakologischen Behandlung. Die Letalität ist in den Jahren seit der Erstbeschreibung deutlich gesunken. Die Kenntnis des MNS ist für den klinisch tätigen Arzt wichtig, da es eine rasche Diagnosestellung und Therapieeinleitung erfordert.
Ziel der Arbeit
Im folgenden Aufsatz wird die aktuelle Studienlage zusammengefasst und kritisch gewürdigt. Die sich ergebenden diagnostischen und therapeutischen Empfehlungen werden insbesondere unter dem klinischen Blickwinkel dargestellt.
Material und Methoden
Es wurde eine Literaturübersicht mit den Begriffen „neuroleptic malignant syndrome“ und „malignes neuroleptisches Syndrom“ sowie verschiedenen Psychopharmaka in PubMed durchgeführt. Weiterhin wurde die Datenbank der Arbeitsgemeinschaft für Arzneimitteltherapie bei psychiatrischen Erkrankungen (AGATE) hinsichtlich der gemeldeten UAW „malignes neuroleptisches Syndrom“ ausgewertet.
Ergebnisse
Entgegen der Erstbeschreibungen, die auch zur Namensgebung führten, finden sich mittlerweile zunehmend Fallberichte, die klinisch wie ein MNS imponieren, jedoch offensichtlich von unterschiedlichen Gruppen von Psychopharmaka, nicht nur von Antipsychotika (deutsche Bezeichnung: Neuroleptika), ausgelöst werden. Es existieren Therapieempfehlungen, wobei deren Wirksamkeit nicht durchgehend wissenschaftlich untermauert werden kann. Unbestritten bleibt jedoch, dass eine rasche Therapieeinleitung große Bedeutung hat.
Diskussion
Hinsichtlich der Klassifikation schlagen wir eine Erweiterung der bisherigen Einteilungen vor. Die therapeutischen Maßnahmen bedürfen weiterer wissenschaftlicher Untermauerung, um als Leitlinien empfohlen werden zu können.
Abstract
Background
Neuroleptic malignant syndrome (NMS) is a rare but severe undesired complication of psychopharmacological treatment. The mortality has shown a significant decrease since its first description. Knowledge of NMS is important for every clinician because of the need for rapid diagnosis and treatment.
Objective
This article presents a review and critical appraisal of the current study situation for NMS. Recommendations for diagnostics, differential diagnostics and treatment are presented particularly from a clinical perspective.
Material and methods
A literature review with the keywords “neuroleptic malignant syndrome”, “Malignes neuroleptisches Syndrom” and various psychotropic drugs was performed in PubMed. The database of the Working Group for Pharmaceutical Treatment of Psychiatric Diseases (Arbeitsgemeinschaft für Arzneimitteltherapie bei psychiatrischen Erkrankungen, AGATE) was analyzed with respect to registered cases of the undesired side effect NMS.
Results
In contrast to the first description, which also led to the name, there are now case reports of clinical conditions similar to NMS, which were obviously triggered by several groups of psychotropic drugs not just antipsychotic agents (German: Neuroleptika). Treatment recommendations exist whereby the effectiveness cannot always be scientifically substantiated; however, it is still undisputed that a rapid initiation of treatment is of great importance.
Discussion
The psychiatrist must be familiar with the symptoms of NMS, its differential diagnosis and the therapeutic options for a rapid and effective treatment. Further studies are urgently needed for scientific substantiation of the pathophysiology of NMS and to develop evidence-based guidelines for treatment.
Avoid common mistakes on your manuscript.
Die Bezeichnung „malignes neuroleptisches Syndrom“ – im deutschen Sprachraum im Allgemeinen mit „MNS“ abgekürzt, im Englischen als „neuroleptic malignant syndrome“ bezeichnet und mit „NMS“ abgekürzt – ist ein klinisches Zustandsbild mit den Leitsymptomen Hyperthermie, Rigor, quantitative Bewusstseinsveränderung und vegetative Dysregulation. Seine Bezeichnung geht darauf zurück, dass es zunächst nur unter der Therapie mit Antipsychotika (deutsche Bezeichnung: „Neuroleptika“) beobachtet wurde [1, 2]. In den letzten Jahrzehnten mehrten sich jedoch die Berichte über dem MNS klinisch ähnliche Bilder unter der Therapie auch mit anderen Pharmaka wie Lithium [3, 4], Antidementiva [5, 6] und Antiepileptika [7,8,9,10]. Die Kenntnis des MNS ist für alle mit Psychopharmaka arbeitenden Ärzte unabdingbar, da sie diese potenziell letal verlaufende unerwünschte Arzneimittelwirkung rechtzeitig erkennen und behandeln können müssen.
Epidemiologie und AGATE-UAW-Datenbank
Das MNS tritt unabhängig von Geographie und Alter auf. Das Risiko, unter einer Antipsychotikabehandlung ein MNS zu entwickeln, liegt bei 0,2–3,2 % aller mit einem Antipsychotikum behandelten Patienten [11]. Nichtkaukasische Ethnien sind laut der skandinavischen Studie von Su et al. doppelt so häufig von einem MNS betroffen als Weiße [11]. Außerdem weisen „CYP2D6-poor metabolizer“ ein höheres Risiko auf, an einem MNS zu erkranken, was erklären kann, warum Kaukasier ein niedrigeres Risiko für die Entstehung eines MNS tragen: Sie haben mehr normal funktionierende CYP2D6-Allele als Asiaten oder Afrikaner. Diese Zahlen spiegeln jedoch lediglich die eindeutig als MNS zu erkennenden und damit auch diagnostizierten Fälle wider. Legt man zugrunde, dass das MNS wahrscheinlich viel häufiger abortiv verläuft und somit im klinischen Alltag nicht als solches erkannt und behandelt wird, so muss von einer nicht unerheblich höheren Inzidenz ausgegangen werden [12].
In Studien wird von einem Überwiegen des männlichen Geschlechts berichtet [13,14,15], was auch zuletzt Gurrera et al. in einer 2017 publizierten Arbeit, in der sie die veröffentlichten Berichte über MNS im Zeitraum von 1998 bis 2014 analysierten, bestätigen konnten [16]. In der UAW (unerwünschte Arzneimittelwirkung) -Datenbank des intensivierten Spontanerfassungssystems der Arbeitsgemeinschaft Arzneimitteltherapie bei psychiatrischen Erkrankungen e. V. (AGATE) finden sich im Zeitraum zwischen 1993 und 2017 insgesamt 30 Fälle eines MNS, bei denen die Geschlechter im Gegensatz zu der eben erwähnten Literatur nahezu gleich verteilt sind, mit 17 weiblichen und 13 männlichen Patienten sogar eher mit einem leichten Überwiegen des weiblichen Geschlechtes.
Das durchschnittliche Alter liegt in den AGATE-Fällen bei 48 Jahren (23 bis 74 Jahren; Tab. 1). Dem widerspricht die Studie von Guerrera et al., in der das MNS häufiger in der Adoleszenz auftrat [16]. Bei etwas mehr als der Hälfte der Patienten wurde das MNS als lebensbedrohlich eingestuft und die Patienten auf eine Intensivstation verlegt, bei 9 Patienten verlängerte sich der stationäre Aufenthalt wegen des MNS und bei 4 Patienten trat das MNS im ambulanten Bereich auf und führte zur stationären Aufnahme (Tab. 2). Nur bei einem Patienten blieb ein Schaden zurück, bei allen anderen klang es folgenlos wieder ab (Tab. 3). Die betroffenen Patienten litten mit 80 % überwiegend an Psychosen, die üblicherweise mit Dopamin-D2-Antagonisten (Antipsychotika) behandelt wurden (Tab. 4).
Dementsprechend viele Substanzen aus dieser Wirkstoffklasse finden sich unter den Medikationen der MNS-Kasuistiken: Bei 5 Patienten trat das MNS unter Monotherapie mit Haloperidol (n = 2), Clozapin (n = 2) und Benperidol (n = 1) auf, der Kausalzusammenhang war von der zentralen Fallkonferenz der AGATE einmal als „sicher“ (n = 1) und viermal als „wahrscheinlich“ eingestuft worden. Bei 24 der 25 Patienten, bei denen ein MNS unter Polymedikation berichtet worden war, war ein Antipsychotikum mitverordnet, der Kausalzusammenhang war entweder alleine oder in Kombination mit anderen Wirkstoffen als „wahrscheinlich“ eingestuft worden. Die eine Kasuistik ohne Beteiligung eines Antipsychotikums trat unter Alkoholentzug auf. Die meisten Patienten, bei denen ein MNS aufgetreten war, standen unter einer Medikation mit Haloperidol (n = 12), Lorazepam (n = 12), Olanzapin (n = 10), Risperidon (n = 8), Biperiden (n = 7), Clozapin (n = 7) und Lithiumsalzen (n = 7). In einer detaillierten Auswertung der gemeldeten Fälle wurde kein Trend hinsichtlich irgendeiner Gruppeneinteilung der Antipsychotika erkennbar.
Symptomatik
Die Diagnose eines MNS wird ausschließlich klinisch gestellt. Der typische MNS-Patient ist blass, benommen, still und wortkarg [17]. Als Leitsymptome gelten Rigor, Hyperthermie, quantitative Bewusstseinsänderung und vegetative Dysregulation (z. B. Tachykardie, Hyperhidrosis) im Rahmen einer Therapie mit Psychopharmaka. Eine deutliche Erhöhung der Kreatinkinase (CK) stellt einen diagnosestützenden Laborparameter dar, hat für sich alleine genommen ohne Vorliegen der typischen klinischen Symptomatik keine Relevanz.
Klassifikationen
DSM-5
Formal müssen für die Diagnose eines MNS nach dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5 (DSM-5) folgende Kriterien erfüllt sein [18]:
-
1.
Die Symptome treten unter Therapie mit Dopaminantagonisten auf, wobei diese in einem Zeitraum von 72 h vor den ersten MNS-Symptomen verabreicht wurden.
-
2.
Symptome:
-
a.
Rigor
-
b.
Hyperthermie
-
c.
Diaphorese
-
d.
Dysphagie
-
e.
Tremor
-
f.
Inkontinenz
-
g.
Bewusstseinsveränderungen
-
h.
Mutismus
-
i.
Tachykardie
-
j.
Erhöhter oder schwankender Blutdruck
-
k.
Leukozytose
-
l.
Laborhinweise auf eine Muskelschädigung (CK-Erhöhung)
-
a.
-
3.
Die Symptome sind nicht Folge einer substanzinduzierten Störung, einer neurologischen oder internistischen Erkrankung.
-
4.
Die Symptome können nicht besser durch eine andere psychiatrische Erkrankung erklärt werden (Ausschlussdiagnose).
ICD-10
Im International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems 10 (ICD-10) hingegen wird die Diagnose MNS nicht explizit genannt: Das MNS findet sich unter G21.x als sekundäres Parkinson-Syndrom, zu dem ein beliebiges auslösendes Medikament kodiert werden kann. Dies passt zum einen zu der klinischen Beobachtung, dass das MNS nicht ausschließlich unter einer Therapie mit Dopaminantagonisten auftritt, was seinen Ausdruck auch seit Jahren in einer immer weiter steigenden Zahl an Veröffentlichungen in der wissenschaftlichen Literatur [4, 6,7,8, 10, 19,20,21,22,23,24] findet. Die ICD-10 betont aber die Bedeutung der extrapyramidal-motorischen Symptomatik im klinischen Bild.
MNS-Zustandsbilder
Verlässt man die offiziellen Diagnosenkataloge und wendet sich der Diskussion der Diagnosekriterien in der wissenschaftlichen Literatur zu (Übersicht bei [25]), so findet sich z. B. die von Adityanjee et al. [26] vorgeschlagene Einteilung, die auch Tab. 5 zugrunde liegt und ursprünglich vier MNS-„Typen“ differenzierte, die von uns jetzt aber als Zustandsbilder bezeichnet werden, die klinisch wie ein MNS imponieren:
Neben dem klassischen MNS (Typ I nach Adityanjee et al.), das durch Dopaminantagonisten ausgelöst wird und mit der klassischen Symptomatik einhergeht, wurde eine „atypische“ Verlaufsform definiert (Typ II nach Adityanjee et al.). Der einzige Unterschied zum MNS-Typ I besteht darin, dass diese Verlaufsform durch sog. „atypische“ Antipsychotika ausgelöst wird. Neben der klassischen Form wird eine abortive Verlaufsform beschrieben (Typ II in Tab. 5, Typ III nach Adityanjee et al.), die ein beginnendes MNS darstellt, das aber häufig aufgrund der starren Diagnosekriterien des DSM nicht als solches erkannt und diagnostiziert wird. Und auch Typ III in Tab. 5 (entspricht Typ IV nach Adityanjee et al.) ist klinisch von großer Bedeutung als eine Kategorie für MNS-ähnliche klinische Zustandsbilder, die unter der Therapie mit Pharmaka auftreten, die keinen primär antidopaminergen Wirkmechanismus aufweisen. In diese Kategorie fallen Drogen und Medikamente, die die Katecholaminspeicher entleeren, Antidementiva oder nichtserotonerg wirkende Antidepressiva. Typ IV der MNS-ähnlichen Zustandsbilder in Tab. 5 fasst alle anderen klinischen Bilder mit ähnlicher Symptomatik, aber nach heutigem Stand unterschiedlicher Pathophysiologie zusammen.
Die Unterteilung in Tab. 5 verlässt die starren Grenzen des DSM-5 und ICD-10 und setzt stärker auf einen dimensionalen Ansatz: Auch drohende, abortive und atypische MNS werden erfasst und können dadurch intensiver hinsichtlich ihrer Ätiologie erforscht werden.
Zu überlegen ist weiterhin, ob nicht weitere Krankheitsbilder mit sich klinisch deutlich überlappenden Erscheinungsbildern, sich ähnelnden vermuteten Pathomechanismen und mit ähnlichen Wirkmechanismen der Medikamente, die zur Therapie der genannten Syndrome eingesetzt werden, in einer eigenen klinischen Kategorie der MNS-Klassifikation angeschlossen werden sollten [28].
International Consensus Diagnostic Criteria
Gurrera et al. schlugen 2011 die International Consensus Diagnostic Criteria for Neuroleptic Malignant Syndrome [29] vor (Tab. 6), die sie unlängst erstmalig im Vergleich mit den Diagnosenkriterien des DSM-IV-TR validierten [30]: 85 % der Fälle wurden richtig diagnostiziert, Werte >74 korrelierten am besten mit den Kriterien der DSM-IV-TR.
Differenzialdiagnosen
Die Differenzialdiagnosen orientieren sich im psychiatrisch-neurologischen Kontext an den Leitsymptomen „Katatonie“ und „quantitative Bewusstseinsstörung“, im internistischen Kontext an den Leitsymptomen „Fieber“ und „CK-Erhöhung“. Im Folgenden soll vorrangig auf die psychiatrisch-neurologischen Differenzialdiagnosen eingegangen werden.
Perniziöse Katatonie
Als „katatones Dilemma“ wird die Abgrenzung des MNS zur perniziösen Katatonie bezeichnet. Bei der perniziösen Katatonie treten neben den typisch katatonen Symptomen hohes Fieber ohne nachweisbaren Fokus, Kreislaufstörungen und Exsikkose auf. Gefürchtet ist diese Verlaufsform der Schizophrenien aufgrund ihrer hohen Letalität. Ätiologisch wird bei der Katatonie u. a. eine Dysfunktionalität der GABA(„γ-aminobutyric acid“)A-Rezeptoren in den Netzwerken des Frontallappens, insbesondere des orbitofrontalen Kortex, vermutet, die zu einer subkortikalen dopaminergen Unterfunktion führt [31].
In einem Review aus dem Jahr 2015 [32] wurde untersucht, ob eine Unterscheidung der beiden Syndrome einzig aufgrund der Klinik möglich ist. Hierzu wurden Fallberichte ausgewertet. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine Unterscheidung prinzipiell möglich, jedoch aufgrund der hohen symptomatischen Überlappung schwierig sei. Allenfalls können differenzialdiagnostische Hinweise aus der Anamnese und bestimmten psychopathologischen Feinheiten gewonnen werden.
Das „Dilemma“ des Klinikers besteht darin, dass das MNS das sofortige Absetzen, die perniziöse Katatonie eine Fortsetzung der Behandlung mit Antipsychotika erfordert. Pragmatisch bietet sich in der Notfallsituation die Gabe von (kurzwirksamen) Benzodiazepinen an, die zunächst unspezifisch zu Sedierung und Abnahme des Muskeltonus führen.
Zentrales anticholinerges und zentrales Serotoninsyndrom
Die Abgrenzung eines zentralen anticholinergen Syndroms und eines zentralen Serotoninsyndroms sollte bei ausgeprägtem Bild keine größeren Probleme bereiten:
Bei Erstem kommt es durch eine Inhibition des Parasympathikus zu Hyperthermie, Mydriasis, Mundtrockenheit, trockener, geröteter Haut, Tachykardie, Obstipation, Harnverhalt und Bewusstseinsstörung. Die Therapie besteht im sofortigen Absetzen aller anticholinerg wirkender Medikamente und – wenn dies nicht zur Remission der Symptomatik führt – in der intravenösen Gabe von Physostigmin unter intensivmedizinischer Überwachung.
Bei Zweitem kommt es aufgrund einer massiven Erhöhung des Neurotransmitters Serotonin zu einer neuromuskulären Übererregbarkeit mit Hyperreflexie, Kloni, Tremor, psychomotorischer Unruhe, Akathisie, Koordinationsstörungen und epileptischen Anfällen. Bewusstseinsstörungen sind möglich. Die Therapie besteht im sofortigen Absetzen aller serotonerg wirkenden Medikamente (auch serotonerger Opiate (z. B. Fentanyl®)!).
Weitere Differenzialdiagnosen
Weiter müssen Intoxikationen mit Kokain und Amphetaminen ausgeschlossen werden, die zu einem MNS-ähnlichen Syndrom führen können. Bei Parkinson-Patienten kann es durch eine Wirkungsabschwächung oder einen Wirkungsverlust der dopaminergen Medikation zu einer akinetischen Krise kommen, die sich mit einer ausgeprägten Minderung der Beweglichkeit, Dysphagie, Hyperthermie und vegetativen Dysregulation manifestiert. Sie hat eine Mortalität von bis zu 15 % [33, 34]. Die Therapie besteht in der intravenösen Gabe von Amantadin oder der subkutanen Dauerinfusion von Apomorphin. Das maligne Dopaminentzugssyndrom beim M. Parkinson hat eine hohe Symptomüberlappung mit dem MNS und tritt nach dem abrupten Absetzen dopaminerger Medikamente auf. Es erfordert eine Therapie wie bei der akinetischen Krise. Die Abgrenzung zur malignen Hyperthermie stellt kein Problem dar, da es sich hierbei um einen anästhesiologischen Zwischenfall handelt.
Hinsichtlich weiterer neurologischer Erkrankung sei hier lediglich auf infektiöse Erkrankungen des Zentralnervensystems (ZNS), den nonkonvulsiven Status epilepticus, Intoxikation mit Stimulanzien sowie andere Ursachen der Rhabdomyolyse und des Fiebers hingewiesen (Tab. 7).
Beginn und Dauer des MNS
Knapp 70 % der Fälle entwickeln sich binnen der 1. Woche nach Beginn oder Dosiserhöhung einer psychopharmakologischen Behandlung [36]. In der Literatur wird ein Zeitraum von 1 bis 44 Tage für das Auftreten des MNS angegeben [26]. In den Fällen der AGATE-Datenbank (1993 bis 2017) wird eine mittlere Dauer von 10,7 Tagen (2–34 Tage) angegeben [37]. Hinsichtlich der Zeit bis zum Auftreten sind dort keine Angaben vorhanden.
Klinische Ausprägung
Die klinische Ausprägung soll Unterschiede abhängig vom auslösenden Antipsychotikum aufweisen. In ihrem ausführlichen Review aus dem Jahr 2015 analysierten Muri et al. detailliert die bis dato publizierten MNS-Fälle hinsichtlich der beschriebenen Klinik und des auslösenden Antipsychotikums [38]: In dieser Analyse erscheint das MNS unter Wirkstoffen, die nach Clozapin zugelassen wurden, weniger schwer und seltener letal als unter der Therapie mit den älteren Wirkstoffen (Letalität: 3 % für die sog. „Atypika“ vs. 16,3 % für die sog. „Typika“) – leider wurde aber nicht nach einzelnen Wirkstoffen unterschieden oder pharmakologisch ähnliche Wirkstoffe, z. B. eher weniger oder stärker sedierende Wirkstoffe, gruppiert [15, 39].
Andere Autoren sehen beim Auftreten unter Clozapin [40, 41], Aripiprazol [41] und Amisulprid ([42]; die üblicherweise zu den sog. „Atypika“ gezählt werden) ein eher atypisches klinisches Bild, das durch weniger schwer ausgeprägte extrapyramidal-motorische Symptomatik, seltenere Hyperthermie und vegetative Dysregulation gekennzeichnet ist, während unter Quetiapin, Olanzapin, Risperidon, Paliperidon und Ziprasidon (die üblicherweise ebenfalls zu den sog. „Atypika“ gezählt werden) ein eher typisches klinisches Bild vorliege [38]. Die Autoren führen als Erklärung hierfür die unterschiedlichen Rezeptorprofile der untersuchten Antipsychotika an. So lässt sich vermuten, dass Amisulprid durch sein Rezeptorbindungsprofil mit einer selektiven Blockade von Dopamin-D2-Rezeptoren v. a. im tuberoinfundibulären und mesolimbischen, weniger jedoch im nigrostriatalen System, zu einem atypischen klinischen Bild führt. Für Aripiprazol ist ein partieller Agonismus an Dopamin-D2- und -D3-Rezeptoren beschrieben, was die mildere Ausprägung erklären könnte. Weniger nachvollziehbar erscheinen mit dieser Argumentation jedoch die klinischen Unterschiede der Symptomatik bei Verwendung von Clozapin, Quetiapin oder Olanzapin, die hinsichtlich der Dopamin-D2-Rezeptor-Blockade ein sehr ähnliches Rezeptorbindungsprofil aufweisen.
Sarkar et al. kamen in ihrer Studie aus dem Jahr 2017 zu ähnlichen Einschätzungen nach Auswertung der verfügbaren Daten: Ridigität, Tremor und Hyperthermie träten bei einem MNS ausgelöst durch sog. Atypika seltener auf als unter sog. Typika, jedoch schien die Diaphorese recht konstant aufzutreten [43].
Hinsichtlich der Frage, ob das MNS häufiger unter hoch-, mittel- oder niederpotenten Antipsychotika auftritt, lässt sich die Literatur dahingehend zusammenfassen, dass das MNS-Risiko bei der Verwendung hochpotenter Antipsychotika sowie bei einer Kombinationstherapie von hochpotenten Antipsychotika mit Lithium, Antidepressiva und Anticholinergika deutlich erhöht zu sein scheint. Darüber hinaus finden sich mittlerweile für alle gängigen Antipsychotika, ob hoch- oder niederpotent, ob sog. „Typika“ oder „Atypika“, Studien oder Case-Reports, die das Auftreten eines MNS schildern [14, 44,45,46,47,48,49].
Insgesamt tritt das MNS unter einer Therapie mit Haloperidol und Fluphenazin am häufigsten, am seltensten unter Clozapin [50] und Amisulprid [38] auf. Diese Daten finden ihre Entsprechung in der AGATE-Datenbank, in der von den gemeldeten 30 Fällen im Zeitraum 1993 bis 2017 12 unter Haloperidol auftraten (entsprechend 40 % aller gemeldeten Fälle), wobei ausgeschlossen wurde, dass dies an einer überzufällig häufigen Verordnung des Medikaments lag. Fluphenazin als auslösendes Agens fand sich nicht. Clozapin wurde in 7 Fällen eines MNS als auslösendes Agens angeschuldigt (entsprechend ca. 23 % aller gemeldeten Fälle).
Ob unter Depotantipsychotika häufiger MNS auftreten als unter oraler Medikation lässt sich anhand der aktuellen Studienlage nicht sagen. Die entsprechende Literatur besteht überwiegend aus Fallstudien, wobei v. a. die Verordnung von Haloperidoldecanoat [51] und Paliperidonpalmitat berichtet wird [52].
Risikofaktoren
Es wurden unterschiedliche Risikofaktoren für das Auftreten eines MNS beschrieben. Sie können entsprechend syndromaler Kriterien oder entsprechend der Spezifität zusammengefasst werden (Tab. 9). Zu den unspezifischen Risikofaktoren zählen Dehydratation, Agitation und Erschöpfung, zu den spezifischen Risikofaktoren der Gebrauch hochpotenter Antipsychotika, die Verordnung hoher kumulativer Dosen (wobei offen bleiben muss, ab wann von einer hohen Dosis gesprochen wird), die intramuskuläre oder intravenöse Gabe sowie eine positive Eigenanamnese für ein MNS und eine Katatonie. Eine schnelle Dosiserhöhung wurde in 38,5 % der Fälle eines MNS festgestellt [53]. Die Kombinationstherapien mit anderen Psychopharmaka (z. B. Lithium, Lamotrigin, Antidepressiva) stellt ebenfalls einen risikoerhöhenden Faktor dar. Zu den weniger gesicherten Risikofaktoren zählen das Vorliegen einer psychiatrischen und/oder internistischen Erkrankung allgemein, Hitze, Mangelernährung, Stress und eine erniedrigte Serumeisenkonzentration [54]. Kritisch bleibt anzumerken, dass diese Faktoren bisher nur schlecht bis gar nicht zur Vorhersage der Auftretenswahrscheinlichkeit eines MNS im individuellen Fall verwendet werden können.
Pathophysiologie
Es werden verschiedene Modelle diskutiert, von denen die wichtigsten im Folgenden für einen Überblick dargestellt werden sollen. Es ist weniger von einem gegenseitigen Ausschließen, als vielmehr von einer Koexistenz der Erklärungsversuche zur Pathophysiologie auszugehen. Zusammengefasst bleibt die Pathogenese bisher jedoch unklar.
Dysregulation des dopaminergen Systems
Diese Hypothese geht davon aus, dass es über den Antagonismus am Dopamin-D2-Rezeptor im Hypothalamus zur Sollwertverstellung der Körpertemperatur (Hyperthermie) kommt, über den Antagonismus am Dopamin-D2-Rezeptor im nigrostriatalen System zu einer Erhöhung des Muskeltonus (Rigor; [28, 55, 56]).
Hyperaktivität des Sympathikus
Hierbei steht die fast regelhaft vorhandene vegetative Dysregulation im Mittelpunkt. Gestützt wird dieses Modell durch die Beobachtung, dass während des MNS die Urin- und Plasmakonzentrationen der Katecholamine erhöht sind. Es wird vermutet, dass die tonische Inhibition sympathischer Neurone wegfällt, was eine vegetative Hyperaktivität bedingt [55].
Periphere muskuläre Wirkung
Da es durch die periphere Wirkung der Antipsychotika zu einer gesteigerten Kalziumfreisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum kommen kann, stellt ein weiteres Erklärungsmodell die Skelettmuskulatur in den Mittelpunkt der Pathophysiologie. Hierbei werden die Symptome Hyperthermie, Rigor und CK-Erhöhung durch die gesteigerte Kalziumfreisetzung erklärt. Mit diesem Modell wird auch eine Verbindung zur Pathogenese der malignen Hyperthermie hergestellt, bei der durch dysfunktionale Rezeptoren bei Verabreichung von Triggersubstanzen die Kalziumfreisetzung induziert wird [57].
Neuroimmunologische Hypothese
Hierbei wird auf die Ähnlichkeit zwischen laborchemischen und vegetativen Veränderungen während einer Akutphasereaktion und dem MNS verwiesen: Hyperthermie und Bewusstseinsveränderungen werden ebenso wie die möglichen Laborveränderungen (Leukozytose, Erhöhung von C‑reaktivem Protein, Leberenzymen und Kreatinkinase, Erniedrigung von Eisen) durch Zytokine erklärt. Als möglichen Auslöser für die Akutphasereaktion benennen die Autoren entweder die Produktion von Autoantikörpern gegen Neurotransmitterrezeptoren, die durch die Gabe eines Psychopharmakons im Sinne einer Triggersubstanz induziert wird (sie ziehen den Vergleich mit der heparininduzierten Thrombozytopenie) oder eine Medikamenten-Virus-Interaktion, wie sie beispielsweise beim Reye-Syndrom oder dem Ampicillin-Exanthem bei der Mononukleose auftritt [59].
Therapie
Den folgenden Ausführungen sei vorausgeschickt, dass das MNS nach Absetzen des auslösenden Medikaments und supportiver Therapie in der Regel binnen 7 bis 10 Tagen selbstlimitierend verläuft [57].
Strawn et al. [58] entwickelten einen Behandlungsalgorithmus, der sich an der Stadienteinteilung nach Woddburry et al. orientiert ([37]; Tab. 10).
Die Stadien I und II werden durch eine parkinsonoide Symptomatik und Katatonie ohne relevante vegetative Symptomatik charakterisiert. In diesen Stadien wird empfohlen, eine Dosisreduktion des Antipsychotikums vorzunehmen und mit dem Anticholinergikum Biperiden (Stadium I) bzw. dem Benzodiazepin Lorazepam (Stadium II) zu behandeln. Weiter wird empfohlen, auf ein anderes Antipsychotikum umzustellen. Die Umstellung auf ein Antipsychotikum mit einem anderen Rezeptorbindungsprofil als das bis dahin eingesetzte erscheint hierbei sinnvoll, wenngleich sich dieses Vorgehen nicht durch Studien untermauern lässt. Die beiden Stadien werden dem Schema von Woodbury et al. folgend noch nicht als MNS im engeren Sinne bezeichnet. Vielmehr kann diskutiert werden, ob es sich hierbei „lediglich“ um extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen unter antipsychotischer Pharmakotherapie handelt.
Treten zu der katatonen Symptomatik deutliche vegetative Symptome und quantative Bewusstseinsstörungen hinzu, sind die Stadien III bis V erreicht. Diese Stadien werden als MNS im eigentlichen Sinne bezeichnet. Beim Vorliegen einer solchen Symptomatik stellt das sofortige Absetzen der psychopharmakologischen Medikation, insbesondere jedoch der Antipsychotika, den wichtigsten Schritt dar. Es muss eine kontinuierliche Überwachung der Vitalparameter erfolgen. Als medikamentöse Maßnahmen werden in den Stadien III und IV die Gabe des Benzodiazepins Lorazepam und der Beginn einer Therapie mit dem Dopaminagonisten Bromocriptin oder dem NMDA(Methyl-D-Aspartat-Rezeptor)-Rezeptor-Antagonisten Amantadin [59] empfohlen. Bromocriptin ist ein Dopaminagonist mit einer hohen Affinität zu Dopamin-D2-Rezeptoren, der im nigrostriatalen System zur Stimulation der postsynaptischen Dopaminrezeptoren führt. Amantadin ist ein indirekter Antagonist am striatalen Dopaminrezeptor, der durch gesteigerte Freisetzung und Wiederaufnahmehemmung in die präsynaptischen Neurone zu einer Erhöhung der extrazellulären Dopaminkonzentration führt. Daneben kann es über eine antagonistische Wirkung am NMDA-Rezeptor die Freisetzung von Acetylcholin hemmen.
Die Effekte der medikamentösen Therapie sollten binnen weniger Tage sichtbar sein. Sollte diese medikamentöse Behandlung nicht zu einer Symptomreduktion führen, so stellt im Stadium IV die Elektrokrampftherapie (EKT) eine hochwirksame Therapiemaßnahme dar. Sicherlich wird ihr Einsatz außerhalb spezialisierter Zentren durch organisatorische Schwierigkeiten erschwert. 1991 kamen Davis et al. in einem Review von 734 publizierten Fällen eines MNS zu dem Schluss, dass die EKT zu einem „substantially better outcome“ führte als bei Verzicht auf eine spezifische Therapie. Die EKT wurde in den ausgewerteten Fällen entweder während oder zeitlich kurz nach einem MNS durchgeführt [60]. Wysokinski et al. [61] kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass die EKT eine adäquate Therapiemaßnahme bei ausbleibendem Ansprechen auf medikamentöse Interventionen darstellt.
Im Stadium V wird der Einsatz von Dantrolen empfohlen. Das Hydantoinderivat wird bereits seit 1975 zur Behandlung der malignen Hyperthermie eingesetzt [62]. Der Wirkmechanismus beruht auf einer Entkopplung des Nervenreizes von der Kontraktion des Skelettmuskels und führt zu einer verminderten Freisetzung von Kalzium aus dem sarkoplasmatischen Retikulum [17, 63, 64]. Aufgrund der unzureichenden klinischen Datenlage ist es schwierig, eine Aussage über seinen Nutzen beim MNS im Einzelfall zu treffen, da sich das symptomatische Spektrum sowie Schweregrad und Verlauf eines MNS sehr divergent verhalten. Rosenberg und Green fanden einen Zusammenhang zwischen der Kombinationstherapie von Dantrolen und Bromocriptin mit einem besseren klinischen Ansprechen, während eine prospektive Fallstudie mit 24 Patienten keinen signifikanten Vorteil bezüglich der simultanen Applikation von Dantrolen mit Dopamin-D2-Rezeptor-Agonisten verzeichnen konnte [65, 66]. Eine Fall-Kontroll-Studie mit 734 Fällen kam zu dem Schluss, dass Dantrolen, Bromocriptin und Amantadin die effektivsten pharmakotherapeutischen Optionen in der Akutbehandlung des MNS darstellen [67].
Hinsichtlich der spezifischen medikamentösen Therapiemaßnahmen muss kritisch angemerkt werden, dass sie einzig aufgrund der sichtbaren klinischen Wirkung zur Anwendung kommen. In Studien wurden sowohl eine Verkürzung der Zeit bis zur Besserung („recovery“) als auch eine Senkung der Mortalität im Vergleich zu einer fehlenden Behandlung beschrieben – sowohl, wenn die Substanzen monotherapeutisch genutzt wurden, als auch als Add-on-Therapie [19]. Aufgrund der Studienlage muss es jedoch offenbleiben, ob der Einsatz von Dantrolen und dopaminagonistischer oder glutamatantagonistischer Medikamente einen günstigen Einfluss auf den Verlauf des MNS hat [65, 68].
Aufgrund des bereits erwähnten immer häufiger beschriebenen Auftretens eines MNS unter anderen Psychopharmaka als Antipsychotika scheint die Ergänzung des genannten Therapiealgorithmus dahingehend angebracht, dass nicht nur Antipsychotika, sondern alle verdächtigten Psychopharmaka unmittelbar abgesetzt werden sollten.
Unabhängig von den genannten spezifischeren Interventionen bleiben natürlich die allgemein-supportiven Maßnahmen von zentraler Bedeutung, wie Substitution von Flüssigkeit bei Dehydratation und Hyperthermie, die Senkung erhöhter Körpertemperatur und die Behandlung eines schwankenden Blutdrucks oder einer Tachykardie. Die Behandlung eines MNS als ein akuter, lebensbedrohlicher Notfall sollte auf einer (neurologischen) Intensivstation erfolgen.
Fortführung der antipsychotischen Therapie
Da die meisten Patienten, die unter einer antipsychotischen Therapie ein MNS entwickeln, aufgrund der Grunderkrankung nach dessen Abklingen auf eine Fortführung der antipsychotischen/psychopharmakologischen Behandlung angewiesen sind, stellt sich die Frage nach konkreten Empfehlungen hinsichtlich des Vorgehens nach einem stattgehabten MNS (Infobox 1). In der aktuellen Literatur finden sich jedoch nur wenige Reviews, die sich mit dieser grundsätzlichen Frage auseinandergesetzt haben, hingegen finden sich viele Fallberichte. So wird das Risiko, erneut ein MNS beim Einsatz eines Dopamin-D2-Antagonisten zu erleiden, auf ca. 30 % geschätzt. Es wird folgendes Vorgehen empfohlen, wenngleich offensichtlich ist, dass es sich dabei vornehmlich um Empfehlungen aus der klinischen Praxis handelt, für die die Evidenz nur gering ist:
-
Zunächst sollten alle Risikofaktoren soweit als möglich minimiert werden. Das neu anzusetzende Antipsychotikum sollte sich in seinem Rezeptorbindungsprofil von dem bisher eingesetzten (deutlich) unterscheiden. Von der Verwendung hochpotenter Antipsychotika sollte Abstand genommen werden.
-
Sowohl Ein- als auch Aufdosierung sollten langsam und unter engmaschiger Kontrolle hinsichtlich des erneuten Auftretens von MNS-typischen Symptomen erfolgen.
-
Auf Kombinationstherapien mit anderen Psychopharmaka, insbesondere mit Lithium oder Antidepressiva, sollte soweit möglich verzichtet werden.
-
Hinsichtlich des „freien Intervalls“ zwischen dem Abklingen der MNS-Symptome und des Neubeginns einer medikamentösen Therapie finden sich keine verlässlichen Angaben. So rangieren die Zeitangaben zwischen 5 Tagen [69] und mehreren Wochen.
-
Manche Autoren empfehlen Clozapin aufgrund seines Rezeptorbindungsprofils als „Medikament der 1. Wahl“ nach stattgehabtem MNS [28, 70, 71].
Infobox 1. Hinweise für den Wiederbeginn einer Therapie mit Antipsychotika nach einem stattgehabten MNS
-
Minimierung der Risikofaktoren
-
Einstellung auf ein AP mit einer anderen neurochemischen Struktur, einem anderen Rezeptorwirkprofil, bevorzugt auf Clozapin
-
Vermeiden hochpotenter AP
-
Dokumentation der Überlegungen zum geplanten AP
-
Dokumentation der Aufklärung des Patienten über den Neubeginn der AP-Therapie
-
Vermeiden einer Kombinationstherapie, insbesondere mit Lithium
-
„Wartezeit“ vor Neubeginn zwischen 5 Tagen und mehreren Wochen bei oralem AP, von ≥6 Wochen bei Depot-AP
-
Gabe einer niedrigen Testdosis des nun favorisierten AP
-
(Sehr) langsame Eindosierung des AP
-
Engmaschige klinische Überwachung hinsichtlich erneuter MNS-typischer Symptome
AP Antipsychotikum, MNS malignes neuroleptisches Syndrom
Prognose
Die Prognose hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab:
-
dem zeitlichen Abstand zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und dem Beginn der Therapie sowie
-
den potenziellen Komplikationen.
In einer Studie aus dem Jahr 2016 [72] werteten die Autoren Daten von 1346 Patienten aus den USA aus, die sich zwischen 2002 und 2011 wegen eines MNS in stationärer Behandlung befunden hatten. Dabei konnten sie folgende Komplikationen identifizieren:
-
Rhabdomyolyse (30,1 %),
-
akutes Lungenversagen (16,1 %)
-
akutes Nierenversagen („Crush-Niere“; 17,7 %),
-
Sepsis (6,2 %).
Sie beziffern die Mortalität auf 5,6 % aller Fälle eines diagnostizierten MNS, wobei sie als signifikante Risikofaktoren für einen letalen Verlauf hohes Alter, akutes Lungenversagen, akutes Nierenversagen, Sepsis und komorbide kongestive Herzinsuffizienz benennen. In früheren Studien wurden deutliche höhere Mortalitätsraten angegeben. Weshalb diese zwischenzeitlich so deutlich abgesunken sind, lässt sich nur mutmaßen: Als ein Faktor kann der umsichtigere, zurückhaltendere sowie niedrig dosiertere Umgang mit Antipsychotika genannt werden. Auch die zunehmende Aufmerksamkeit hinsichtlich des MNS und der Notwendigkeit rascher und entschlossener Maßnahmen sind mögliche Faktoren.
Fazit für die Praxis
-
Leitsymptome das MNS sind Rigor, quantitative Bewusstseinsveränderungen und vegetative Dysregulation, die während einer psychopharmakologischen Behandlung auftreten. Zunehmend werden aber auch „atypische“ Verläufe beobachtet.
-
Pathophysiologisch werden verschiedene, sehr wahrscheinlich interagierende zentrale und periphere Mechanismen vermutet, die jedoch der weiteren Erforschung bedürfen.
-
Die rasche und konsequente Behandlung eines MNS stellt prognostisch den wichtigsten Faktor zur Senkung der Letalität dar.
-
Neben supportiven Maßnahmen können verschiedene Medikamente (Benzodiazepine, Biperiden, Bromocriptin, Amantadin, Dantrolen) zur Anwendung kommen, wobei ihre spezifische Wirksamkeit bei MNS noch unzureichend erforscht ist.
-
Beim Versagen der medikamentösen Maßnahmen stellt die EKT ein hochwirksames Verfahren dar.
-
Nach Abklingen des MNS stellt sich die Frage nach dem erneuten Beginn einer psychopharmakologischen Behandlung. Als Antipsychotikum der 1. Wahl wird von den meisten Autoren Clozapin empfohlen.
Literatur
Ayd FJ Jr (1956) Fatal hyperpyrexia during chlorpromazine therapy. J Clin Exp Psychopathol 17(2):189–192
Delay J, Pichot P, Lemperiere T, Elissalde B, Peigne F (1960) A non-phenothiazine and non-reserpine major neuroleptic, haloperidol, in the treatment of psychoses. Ann Med Psychol (Paris) 118(1):145–152
Yang Y, Guo Y, Zhang A (2014) Neuroleptic malignant syndrome in a patient treated with lithium carbonate and haloperidol. Shanghai Arch Psychiatry 26(6):368–370
Argyriou AA, Drakoulogona O, Karanasios P, Kouliasa L, Leonidou L, Giannakopoulou F et al (2012) Lithium-induced fatal neuroleptic malignant syndrome in a patient not being concomitantly treated with commonly offending agents. J Pain Symptom Manage 44(6):e4–6
(2015) Donepezil: rhabdomyolysis and neuroleptic malignant syndrome. Prescrire Int. 24(166):295.
Matsumoto T, Kawanishi C, Isojima D, Iseki E, Kishida I, Kosaka K (2004) Neuroleptic malignant syndrome induced by donepezil. Int J Neuropsychopharmacol 7(1):101–103
Yildirim V, Direk MC, Gunes S, Okuyaz C, Toros F (2017) Neuroleptic malignant syndrome associated with valproate in an adolescent. Clin Psychopharmacol Neurosci 15(1):76–78
Ishioka M, Yasui-Furukori N, Hashimoto K, Sugawara N (2013) Neuroleptic malignant syndrome induced by lamotrigine. Clin Neuropharmacol 36(4):131–132
Motomura E, Tanii H, Usami A, Ohoyama K, Nakagawa M, Okada M (2012) Lamotrigine-induced neuroleptic malignant syndrome under risperidone treatment: a case report. J Neuropsychiatry Clin Neurosci 24(2):E38–9
Shin HW, Youn YC (2014) Neuroleptic malignant syndrome induced by phenytoin in a patient with drug-induced Parkinsonism. Neurol Sci 35(10):1641–1643
Su YP, Chang CK, Hayes RD, Harrison S, Lee W, Broadbent M et al (2014) Retrospective chart review on exposure to psychotropic medications associated with neuroleptic malignant syndrome. Acta Psychiatr Scand 130(1):52–60
Keck PE Jr., Pope HG Jr., McElroy SL (1991) Declining frequency of neuroleptic malignant syndrome in a hospital population. Am J Psychiatry 148(7):880–882
Addonizio G, Susman VL, Roth SD (1987) Neuroleptic malignant syndrome: review and analysis of 115 cases. Biol Psychiatry 22(8):1004–1020
Farver DK (2003) Neuroleptic malignant syndrome induced by atypical antipsychotics. Expert Opin Drug Saf 2(1):21–35
Trollor JN, Chen X, Chitty K, Sachdev PS (2012) Comparison of neuroleptic malignant syndrome induced by first- and second-generation antipsychotics. Br J Psychiatry 201(1):52–56
Gurrera RJ (2017) A systematic review of sex and age factors in neuroleptic malignant syndrome diagnosis frequency. Acta Psychiatr Scand 135(5):398–408
Assion HJVH (2004) Malignes neuroleptisches Syndrom. Afr J Med Med Sci 1:18
Association AP (2013) Diagnostic and statistical manual of mental disorders, 5. Aufl.
Stevens DL (2008) Association between selective serotonin-reuptake inhibitors, second-generation antipsychotics, and neuroleptic malignant syndrome. Ann Pharmacother 42(9):1290–1297
Borovicka MC, Bond LC, Gaughan KM (2006) Ziprasidone- and lithium-induced neuroleptic malignant syndrome. Ann Pharmacother 40(1):139–142
Grace JB, Thompson P (2006) Neuroleptic malignant like syndrome in two patients on cholinesterase inhibitors. Int J Geriatr Psychiatry 21(2):193–194
Janati AB, Alghasab N, Osman A (2012) Neuroleptic malignant syndrome caused by a combination of carbamazepine and amitriptyline. Case Rep Neurol Med 2012:183252
Aydin N, Anac E, Caykoylu A, Akcay F (2000) Neuroleptic malignant syndrome due to citalopram overdose. Can J Psychiatry 45(10):941–942
Uguz F, Sonmez EO (2013) Neuroleptic malignant syndrome following combination of sertraline and paroxetine: a case report. Gen Hosp Psychiatry 35(3):327.e7–327.e8
Mathews T, Aderibigbe YA (1999) Proposed research diagnostic criteria for neuroleptic malignant syndrome. Int J Neuropsychopharmacol 2(2):129–144
Adityanjee AYA, Mathews T (1999) Epidemiology of neuroleptic malignant syndrome. Clin Neuropharmacol 22(3):151–158
Kasantikul D, Kanchanatawan B (2006) Neuroleptic malignant syndrome: a review and report of six cases. J Med Assoc Thai 89(12):2155–2160
Weller M, Kornhuber J (1992) Pathophysiology and therapy of malignant neuroleptic syndrome. Nervenarzt 63(11):645–655
Gurrera RJ, Caroff SN, Cohen A, Carroll BT, DeRoos F, Francis A et al (2011) An international consensus study of neuroleptic malignant syndrome diagnostic criteria using the Delphi method. J Clin Psychiatry 72(9):1222–1228
Gurrera RJ, Mortillaro G, Velamoor V, Caroff SN (2017) A validation study of the international consensus diagnostic criteria for neuroleptic malignant syndrome. J Clin Psychopharmacol 37(1):67–71
Northoff G (2002) What catatonia can tell us about “top-down modulation”: a neuropsychiatric hypothesis. Behav Brain Sci 25(5):555–577 (discussion 78–604)
Lang FU, Lang S, Becker T, Jager M (2015) Neuroleptic malignant syndrome or catatonia? Trying to solve the catatonic dilemma. Psychopharmacology (Berl) 232(1):1–5
Onofrj M, Thomas A (2005) Acute akinesia in Parkinson disease. Neurology 64(7):1162–1169
Takubo H, Harada T, Hashimoto T, Inaba Y, Kanazawa I, Kuno S et al (2003) A collaborative study on the malignant syndrome in Parkinson’s disease and related disorders. Parkinsonism Relat Disord 9(Suppl 1):S31–S41
Tse L, Barr AM, Scarapicchia V, Vila-Rodriguez F (2015) Neuroleptic malignant syndrome: a review from a clinically oriented perspective. Curr Neuropharmacol 13(3):395–406
Lazarus A (1989) Neuroleptic malignant syndrome. Hosp Community Psychiatry 40(12):1229–1230
Woodbury MM, Woodbury MA (1992) Neuroleptic-induced catatonia as a stage in the progression toward neuroleptic malignant syndrome. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 31(6):1161–1164
Belvederi Murri M, Guaglianone A, Bugliani M, Calcagno P, Respino M, Serafini G et al (2015) Second-generation antipsychotics and neuroleptic malignant syndrome: systematic review and case report analysis. Drugs R D 15(1):45–62
Nakamura M, Yasunaga H, Miyata H, Shimada T, Horiguchi H, Matsuda S (2012) Mortality of neuroleptic malignant syndrome induced by typical and atypical antipsychotic drugs: a propensity-matched analysis from the Japanese Diagnosis Procedure Combination database. J Clin Psychiatry 73(4):427–430
Kamis GZ, Ayhan Y, Basar K, Ozer S, Anil Yagcioglu AE (2014) A case of clozapine intoxication presenting with atypical NMS symptoms. Int J Neuropsychopharmacol 17(5):819–821
Tseng PT, Chang YC, Chang CH, Wang HY, Cheng YS, Wu CK et al (2015) Atypical neuroleptic malignant syndrome in patients treated with aripiprazole and clozapine: a case-series study and short review. Int J Psychiatry Med 49(1):35–43
Tu MC, Hsiao CC (2011) Amisulpride and neuroleptic malignant syndrome. Chang Gung Med J 34(5):536–540
Sarkar S, Gupta N (2017) Drug information update. Atypical antipsychotics and neuroleptic malignant syndrome: nuances and pragmatics of the association. BJPsych Bull 41(4):211–216
Leonardo QF, Juliana GR, Fernando CJ (2017) Atypical neuroleptic malignant syndrome associated with use of clozapine. Case Rep Emerg Med 2017:2174379
Buckley PF, Meltzer HY (1993) Clozapine and NMS. Br J Psychiatry 162:566
Ananth J, Parameswaran S, Gunatilake S, Burgoyne K, Sidhom T (2004) Neuroleptic malignant syndrome and atypical antipsychotic drugs. J Clin Psychiatry 65(4):464–470
Lopez Pardo P, Jimenez Rojas C, Ortiz PA, Garcia SA (2016) Neuroleptic malignant syndrome associated with quetiapine after withdrawal of olanzapine and donepezil, with EEG differential diagnosis of Creutzfeldt-Jakob disease. Rev Esp Geriatr Gerontol 51(5):301–302. https://doi.org/10.1016/j.regg.2016.01.005
Grohmann R, Strobel C, Ruther E, Dirschedl P, Helmchen H, Hippius H et al (1993) Adverse psychic reactions to psychotropic drugs—a report from the AMUP study. Pharmacopsychiatry 26(3):84–93
Khan FY, Qusad MJ (2006) Neuroleptic malignant syndrome. Neurosciences (Riyadh) 11(2):104–106
Anbalagan E, Ithman M, Lauriello J (2014) Rechallenging clozapine after neuroleptic malignant syndrome. Psychiatr Q 85(3):345–348
Konikoff F, Kuritzky A, Jerushalmi Y, Theodor E (1984) Neuroleptic malignant syndrome induced by a single injection of haloperidol. Br Med J (Clin Res Ed) 289(6453):1228–1229
Langley-DeGroot M, Joshi Y, Lehman D, Rao S (2016) Atypical neuroleptic malignant syndrome associated with paliperidone long-acting injection: a case report. J Clin Psychopharmacol 36(3):277–279
Langan J, Martin D, Shajahan P, Smith DJ (2012) Antipsychotic dose escalation as a trigger for neuroleptic malignant syndrome (NMS): literature review and case series report. BMC Psychiatry 12:214
Ananth J, Aduri K, Parameswaran S, Gunatilake S (2004) Neuroleptic malignant syndrome: risk factors, pathophysiology, and treatment. Acta Neuropsychiatr 16(4):219–228
Gurrera RJ (1999) Sympathoadrenal hyperactivity and the etiology of neuroleptic malignant syndrome. Am J Psychiatry 156(2):169–180
Henderson VW, Wooten GF (1981) Neuroleptic malignant syndrome: a pathogenetic role for dopamine receptor blockade? Neurology 31(2):132–137
Lopez JR, Sanchez V, Lopez MJ (1989) Sarcoplasmic ionic calcium concentration in neuroleptic malignant syndrome. Cell Calcium 10(4):223–233
Strawn JR, Keck PE Jr., Caroff SN (2007) Neuroleptic malignant syndrome. Am J Psychiatry 164(6):870–876
Kornhuber J, Weller M (1993) Amantadine and the glutamate hypothesis of schizophrenia. Experiences in the treatment of neuroleptic malignant syndrome. J Neural Transm Gen Sect 92(1):57–65
Davis JM, Janicak PG, Sakkas P, Gilmore C, Wang Z (1991) Electroconvulsive therapy in the treatment of the neuroleptic malignant syndrome. Convuls Ther 7(2):111–120
Wysokinski A (2012) Intensive electroconvulsive therapy in drug resistant neuroleptic malignant syndrome—case report. Psychiatr Danub 24(2):219–222
Hadad E, Cohen-Sivan Y, Heled Y, Epstein Y (2005) Clinical review: treatment of heat stroke: should dantrolene be considered? Crit Care 9(1):86–91
Balshaw DM, Yamaguchi N, Meissner G (2002) Modulation of intracellular calcium-release channels by calmodulin. J Membr Biol 185(1):1–8
Meissner G (2004) Molecular regulation of cardiac ryanodine receptor ion channel. Cell Calcium 35(6):621–628
Rosenberg MR, Green M (1989) Neuroleptic malignant syndrome. Review of response to therapy. Arch Intern Med 149(9):1927–1931
Rosebush P, Stewart T (1989) A prospective analysis of 24 episodes of neuroleptic malignant syndrome. Am J Psychiatry 146(6):717–725
Sakkas P, Davis JM, Janicak PG, Wang ZY (1991) Drug treatment of the neuroleptic malignant syndrome. Psychopharmacol Bull 27(3):381–384
Rosebush PI, Stewart T, Mazurek MF (1991) The treatment of neuroleptic malignant syndrome. Are dantrolene and bromocriptine useful adjuncts to supportive care? Br J Psychiatry 159:709–712
Wells AJ, Sommi RW, Crismon ML (1988) Neuroleptic rechallenge after neuroleptic malignant syndrome: case report and literature review. Drug Intell Clin Pharm 22(6):475–480
Weller M, Kornhuber J (1992) Clozapine rechallenge after an episode of ‘neuroleptic malignant syndrome’. Br J Psychiatry 161:855–856
Weller M, Kornhuber J (1993) Clozapine: a neuroleptic at risk of provoking neuroleptic malignant syndrome (NMS) or an alternative neuroleptic with positive NMS case histories? Fortschr Neurol Psychiatr 61(6):217–222
Modi S, Dharaiya D, Schultz L, Varelas P (2016) Neuroleptic malignant syndrome: complications, outcomes, and mortality. Neurocrit Care 24(1):97–103
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Ethics declarations
Interessenkonflikt
R. Knorr, J. Schöllkopf und E. Haen geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. E. Haen ist Vorsitzender und Geschäftsführer der AGATE (www.amuep-agate.de).
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Knorr, R., Schöllkopf, J. & Haen, E. Das maligne neuroleptische Syndrom. Nervenarzt 89, 300–310 (2018). https://doi.org/10.1007/s00115-017-0463-3
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00115-017-0463-3