Im Jahr 2013 wurde das DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5) eingeführt und sogleich für eine „Inflation der Diagnosen“ kritisiert. Grundlegende Änderungen enthielt es jedoch nicht. Die 2009 gestartete Research-Domain-Criteria(RDoC)-Initiative des NIMH (National Institute of Mental Health) dagegen stellt als angewandte kognitive Neurowissenschaft eine grundlegend neue, dimensionale, transdiagnostische Systematik zur Erforschung psychischer Störungen bereit. Obwohl für die klinische Praxis noch nicht unmittelbar relevant, ist ihr explizites Ziel, individualisierte Therapien durch neue Erkenntnisse zu ermöglichen, indem sie mit der rein deskriptiven und kategorialen Krankheitseinteilung des DSM und der ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) bricht.

Am 18.05.2013 – fast 20 Jahre nach Erscheinen des DSM-IV im Jahre 1994 – wurde das DSM-5, die 5. Version des offiziellen Diagnosehandbuchs der amerikanischen Psychiatrievereinigung APA (American Psychiatric Association), offiziell eingeführt [1]. Dieses klassifiziert psychiatrische Krankheiten deskriptiv durch das Vorliegen einer bestimmten Anzahl symptombezogener Kriterien für eine bestimmte Zeit. Die Einführung war von vehementer Kritik begleitet (für eine wohltuend sachliche Darstellung und Diskussion vgl. [4]). In der Öffentlichkeit wurde zum einen die „inflationäre“ Vermehrung von Diagnosen beklagt, zum anderen die Entfernung von Krankheitskategorien wie etwa des Asperger-Syndroms (jetzt unter „Autismusspektrumstörungen“ zu diagnostizieren) oder der Wegfall der Trauerausnahme („bereavement exclusion“). Diese Regel besagte, dass die Diagnose einer Depression nach dem Tod einer nahestehenden Person in der Regel nicht gestellt werden kann, es sei denn, die Symptomatik ist ausgeprägt und dauert länger als 2 Monate. Befeuert wurde die öffentliche Debatte in den USA u. a. dadurch, dass der leitende DSM-IV-Entwickler Allen Frances zu den scharfen öffentlichen Kritikern des DSM-5 gehörte. Seine Bedenken legte er in einem selbstkritischen Bestseller dar, in dem er zur „Rettung der Normalität“ aufrief [8]. Es bestehe die Gefahr, dass die Psychiatrie jedes ungewöhnliche und auffällige, aber häufig doch eben „normale“ Verhalten als psychische Störung pathologisiere. Der Spiegel sprach in seiner Titelgeschichte vom 21.01.2013 von einer „Psychofalle“. Mit etwas Distanz zu der damaligen Diskussion muss man allerdings konstatieren, dass sich trotz einiger Änderungen hier und Erweiterungen dort das DSM-5 im Großen und Ganzen vom DSM-IV nicht grundsätzlich unterscheidet [4]. Trotzdem können selbst kleinere Änderungen, z. B. für Patienten mit Asperger-Diagnose, erhebliche Auswirkungen haben, da die Krankenkassen Therapien und Hilfen nur mit einer offiziellen Krankheitsdiagnose erstattet.

In der Öffentlichkeit weniger bekannt ist eine wissenschaftlich motivierte Kritik des DSM-5. Das DSM-5 berücksichtige neurobiologische und dimensionale Ansätze praktisch überhaupt nicht, obwohl genau das einmal feste Absicht gewesen war. Drei Wochen vor der offiziellen Einführung des DSM-5, am 29.04.2013, verkündete der damalige Direkter des NIMH Thomas Insel in seinem Blog, dass das NIMH in Zukunft keine Studien allein auf DSM-Grundlage mehr fördern würde. Warum?

Es ist entscheidend, sich darüber klar zu werden, dass wir [in der Forschung] nicht erfolgreich sein können, wenn wir die DSM-Kategorien als „Goldstandard“ benutzen. Das diagnostische System muss auf aktuellen Forschungsdaten basieren und nicht, wie gegenwärtig, auf symptombasierten Kategorien. Stellen wir uns vor, wir würden beschließen, dass das EKG [Elektrokardiogramm] nutzlos wäre, weil viele Patienten mit Brustschmerzen keine EKG-Veränderungen haben. Genau das haben wir aber seit Jahrzehnten getan, wenn wir Biomarker als nutzlos zurückweisen, weil sie nicht zuverlässig DSM-basierte Kategorien anzeigen. Wir müssen damit beginnen genetische, bildgebende, physiologische und kognitive Daten zu sammeln, um zu sehen, wie diese Daten Cluster bilden und wie diese Cluster auf Behandlungsversuche reagieren [11].

So dient das EKG etwa dazu Herzerkrankungen als Ursache von Brustschmerz von anderen Ursachen abzugrenzen wie z. B. Lungenerkrankungen, Rückenbeschwerden oder Magenproblemen. Niemand würde verlangen oder annehmen, dass ein EKG nur dann nützlich sei, wenn wir bei jedem klinisch ähnlichen Brustschmerz regelhaft eine charakteristische EKG-Veränderung finden. Eine entsprechende Kritik lässt sich genauso für das ICD-10 formulieren, das in Ansatz und Konzeption dem DSM sehr ähnlich ist. Daher treffen die folgenden Überlegungen auch auf das in Deutschland gebräuchliche ICD-10 zu.

Wenn klinische Studien allein auf symptombasierten Krankheitsdefinitionen aufbauen, kann das dazu führen, dass mögliche Therapien nicht erkannt oder als nicht wirksam fehleingeordnet werden. Doch wie sollten wir besser forschen? Im gleichen Blog machte Insel mit der RDoC-Initiative bekannt, die unter Führung von ihm und Bruce Cuthbert am NIMH seit 2008 entwickelt wurde, um die psychiatrische Forschung voranzubringen [5, 14, 19].

Was sind Research Domain Criteria (RDoC)?

Die umständliche Bezeichnung ist eine Referenz an die in Fachkreisen bekannten Research Diagnostic Criteria (RDC, [17]), die in den 1970er Jahren als Grundlage des DSM-III (1980) formuliert wurden. Diese sollten helfen, die schlechte Reliabilität psychiatrischer Diagnosen durch beobachtbare, quantifizierbare und intersubjektiv nachvollziehbare diagnostische Kriterien zu verbessern. Ihre Einführung war bei der geringen Reliabilität psychoanalytisch geprägter Diagnosen, die damals in Amerika dominierten, ein großer Fortschritt. Tatsächlich führte die Einführung des DSM-Systems nachgewiesenermaßen zu einer verbesserten Reliabilität – allerdings auf Kosten der Validität. Das DSM ist, ebenso wie das ICD, ein rein deskriptives, symptombasiertes System und enthält absichtlich keine oder nur sehr wenige Annahmen über die Validität und Ätiologie der dort postulierten Krankheitsentitäten. Doch mit dem Aufkommen der kognitiven und systemischen Neurowissenschaft, dem Erfolg der Genetik und der Molekularbiologie, so die RDoC-Initiatoren, wurde so viel neues Wissen über die internen Mechanismen des Gehirns und dessen Neurobiologie gewonnen, dass es an der Zeit sei, die psychopathologischen Symptome mit den zugrunde liegenden (Hirn‑)Mechanismen zu verbinden.

So wissen wir etwa, dass es im Gehirn ein System gibt, das um die Amygdala herum zentriert ist, welches mit Entdeckung von Gefahr und Emotionsverarbeitung befasst ist und durch den ventromedialen Kortex gehemmt werden kann. Es ist an Konditionierungs- und Löschungsvorgängen beteiligt und dadurch an der Genese und der Aufrechterhaltung von Angsterkrankungen und Traumafolgestörungen [2]. Wir kennen inzwischen die Hirnschaltkreise („circuits“), die mit der Verarbeitung und dem Lernen von Belohnungen befasst sind. Sie umfassen u. a. das ventrale Tegmentum, das ventrale Striatum und den ventromedialen Präfrontalkortex und spielen bei Suchterkrankungen und Schizophrenie eine zentrale Rolle [9]. Erst seit Einführung der funktionellen Bildgebung haben wir Kenntnis von der Existenz eines neuronalen Systems, das mit der Verarbeitung sozialer Signale und dem Mentalisieren, d. h. dem Sich-Hineinversetzen in Gedanken und Gefühle anderer, befasst ist. Es umfasst u. a. den dorsomedialen Präfrontalkortex und die temporoparietale Übergangsregion und ist bei verschiedenen Erkrankungen wie soziale Phobie, Autismus oder Schizophrenie auf unterschiedliche Weise gestört [20].

Den Funktionszustand dieser Systeme bei individuellen Patienten zu kennen und objektiv messen zu können, ist ein regulatives Ideal der neurokognitiven klinischen Forschung. Um in der Analogie mit der Organmedizin zu bleiben: So ähnlich wie die Internistin beim Symptom Schmerz oder dem Symptom Fieber herausfinden muss, welches Organ für die Symptome verantwortlich ist, so sollte der Psychiater herausfinden können, welche Gehirnareale und Hirnschaltkreise bei bestimmten Affekt-, Denk- oder Antriebsstörungen betroffen sind.

In einer Serie von Workshops der RDoC-Initiative trafen sich daher seit 2009 Experten, um auf dem aktuellsten Stand der Wissenschaft diejenigen neurokognitiven Konstrukte, man kann auch sagen: Funktionen, zu beschreiben, die gut bekannt sind und über die man gesicherte Erkenntnisse hat. Dazu zählen solche Konstrukte wie „akute Bedrohung“, „initiale Belohnungssensitivität“ oder „Arbeitsgedächtnis“. Es wurden nur solche Konstrukte als Kandidaten für RDoC akzeptiert, für deren Validität es starke unabhängige Evidenz gab und für die zudem starke Evidenz vorlag, dass sie mit bestimmten Hirnsystemen oder Schaltkreisen verbunden sind.

Die herausdestillierten 20 Konstrukte wurden in 5 übergeordnete Domänen sortiert (Abb. 1), negative Valenz, positive Valenz, Kognition, soziale Prozesse und Erregungs-/Regulationsprozesse. Innerhalb der Hauptdomänen finden sich die einzelnen Konstrukte oder Funktionen. Die Domäne negative Valenz etwas umfasst die folgenden 5 Funktionen: aktive Bedrohung („Furcht“), potenzielle Bedrohung („Angst“), anhaltende Bedrohung, Verlust und frustrierende Nichtbelohnung. Domänen und Konstrukte sind dabei nicht als fix und unveränderbar gesetzt, sondern wurden vorläufig auf der Basis des heutigen Wissens ausgewählt. Sie können und sollen durch neue empirische Erkenntnisse verfeinert, verändert und erweitert werden.

Abb. 1
figure 1

Die RDoC (Research Domain Criteria) -Matrix. In den Zeilen sind – in 5 Domänen gegliedert – die zurzeit gültigen neurokognitiven Konstrukte der RDoC-Initiative abgebildet. Jedes der ausgewählten Konstrukte ist nach empirischer Evidenz für seine Validität und seinen gesicherten Zusammenhang mit bekannten Hirnschaltkreisen („circuits“) ausgewählt. In den Spalten sind die Analyseeinheiten gezeigt, in denen die jeweiligen Konstrukte analysiert und erforscht werden können (und sollen). Die letzte Spalte ist für geeignete Paradigmen vorgesehen, die in der experimentellen Forschung eingesetzt werden. Eine aktuelle Übersicht mit fortlaufend aktualisierten Befunden zu den einzelnen Zellen der Matrix findet sich unter http://www.nimh.nih.gov/research-priorities/rdoc/constructs/rdoc-matrix.shtml

Alle Konstrukte können und sollen auf verschiedenen Ebenen (die RDoC-Autoren bevorzugen den Ausdruck: Analyseeinheiten) systematisch untersucht werden: von Genen über Moleküle und Zellen hin zu Schaltkreisen, der physiologischen Ebene (z. B. Herzrate, Kortisollevel), beobachtbarem Verhalten und Selbstberichten. Dazu benutzt man verschiedene Paradigmen.

Man kann sich daher die RDoC-Matrix als eine zweidimensionale Tabelle vorstellen, in der Wissen gesammelt wird. Auf der RDoC-Homepage (www.nimh.nih.gov/research-priorities/rdoc/constructs/rdoc-matrix.shtml) kann man in jedem Feld dieser Tabelle nachschauen, ob es dazu Wissen gibt (für „Gene“ zu anhaltende Bedrohung gibt es z. B. noch keine Einträge), kann sich durchklicken und wird dann über ein weiteres Menü mit bestimmten Stichpunkten zu wesentlichen Arbeiten verlinkt.

Zwei weitere Dimensionen, die in RDoC, wenn auch nicht in der Matrix enthalten sind, sind Entwicklungs- und Umweltaspekte. Denn alle in der Matrix enthaltenen Konstrukte bilden sich in der Ontogenese erst allmählich heraus und werden dabei durch Umwelteinflüsse geformt und verändert (paradigmatisch: epigenetische und Lerneffekte), die zu ihrem Funktionszustand in wesentlicher Weise beitragen.

Die RDoC-Matrix bietet ein Raster für die systematische Erforschung psychischer Störungen, das nicht auf vorher definierte Krankheitskategorien festgelegt ist. Langfristig soll die RDoC-Systematik zu einer differenzierten, in Teilen auch neuartigen Klassifikation psychischer Erkrankungen beitragen. Vor allem aber soll sie die Grundlage für eine bessere, maßgeschneiderte, im Idealfall individualisierte Therapie im Sinne der „precision psychiatry“ schaffen.

Kritik an RDoC

Wie nicht anders zu erwarten, wurde der RDoC-Ansatz nicht nur mit offenen Armen empfangen. Die Einwände dagegen werden im Folgenden in drei Hauptgruppen gegliedert.

Klinische Einwände

Fehlende Praktikabilität

Auch wenn das DSM gewisse Fehlentwicklungen in sich trage, so sei es doch ein klinisch gut etabliertes System, das in der Praxis unverzichtbar sei. Eine neue Systematik wie die RDoC sei grundsätzlich nicht geeignet, ein so lange erprobtes System wie das DSM im klinischen Alltag der Patientenversorgung zu ersetzen. Diese Kritik lässt sich einfach entkräften. Denn entgegen der Wahrnehmung in der Fachöffentlichkeit, war ein klinisches Konkurrenzsystem für die Praxis gar nicht intendiert. Vielmehr wurde das RDoC-System als forschungsbezogene Systematik entworfen. Allenfalls auf lange Sicht soll eine transdiagnostische RDoC-Forschung zu einer Verbesserung bestehender Kategoriensysteme führen.

Doch verweist diese Kritik auf einen neuralgischen Punkt in der Logik der DSM-Revisionen. Es ist nämlich fraglich, ob das DSM zu einer grundlegenden Revision aus sich selbst heraus überhaupt noch fähig ist. Und zwar deshalb, weil es in der klinischen Praxis und Bürokratie zu erfolgreich ist. Damit ist nicht die Güte des DSM-5 gemeint, sondern vielmehr dessen klinische und sozialrechtliche Verankerung, insbesondere für Entgelt- und Erstattungsfragen: Ohne offizielle DSM-Diagnose keine Kostenerstattung. Dies (wie auch die weiteren Ausführungen) gilt sinngemäß auch für das internationale ICD-System, das dem DSM inzwischen eng angeglichen ist.

So argumentiert etwa Rachel Cooper, dass sich das DSM aufgrund seiner ubiquitären Verbreitung in einem „Lock-in“-Zustand befindet [4]. Solche „Lock-in“-Phänomene sind aus der Industrie bekannt. Ein klassisches Beispiel ist die Anordnung der Tastaturen bei Computern – in Deutschland QWERTZ genannt (in den USA QWERTY). Die spezifische Anordnung der Buchstaben entstand in der Ära der mechanischen Schreibmaschinen, damit sich die Buchstabenhebel, die auf die Tintenrolle treffen, beim Schreiben nicht verhaken. Dieser rationale Grund liegt zwar bei heutigen Computern nicht mehr vor. Trotzdem persistiert die alte Tastatur, obwohl es ergonomische Argumente für eine bessere Tastenanordnung gibt, die schnelleres Schreiben möglich machen würde. Der Aufwand dazu wäre allerdings viel zu groß. Eine analoge „Lock-in“-Situation, so Cooper, liegt beim DSM vor: Entwickelt aus dem wohlbegründeten Wunsch nach Reliabilität ist das System sozial-strukturell inzwischen so verbreitet, erfolgreich, vernetzt und gesellschaftlich verwurzelt, dass es praktisch nicht mehr grundlegend änderbar ist.

Unter bestimmten Randbedingungen können sich „Lock-in“-Systeme allerdings doch ändern, z. B. indem sie durch etwas radikal anderes ersetzt werden. Ein Beispiel ist das VHS-System der Videokassetten. Dessen Abschaffung wurde erst durch eine radikal neue technologische Innovation möglich: die Digitalisierung. In dieser Analogie lässt sich die Frage stellen, ob RDoC und DSM-5 sich so verhalten wie digitale Medien und VHS-Kassette oder ob das DSM doch eher der QWERTZ-Tastenanordnung entspricht, also quasi nicht mehr grundlegend veränderungsfähig ist.

Fehlender Krankheitsbegriff

Das RDoC-System biete keinerlei Anhaltspunkte dafür, echte Krankheiten von bloßen Varianten des Verhaltens zu unterscheiden [22]. Es mache keinen Unterschied, ob man die RDoC-Systematik auf Depressionen und Schizophrenie anwende oder auf mürrisches Verhalten. Diese Kritik ist durchaus zutreffend. Doch auch sie zielt in gewissem Sinne ins Leere, denn eine Krankheitstheorie vorzulegen, war nicht der Anspruch des RDoC.

Der Anspruch ist anders: Die RDoC-Initiative will dazu beitragen, Krankheiten, wie immer sie genau definiert sind, besser zu differenzieren, z. B. durch Sub- oder Neutypisierung, und damit zu verbesserten Behandlungsmöglichkeiten beitragen, indem die ihnen zugrunde liegenden internen neurobiologischen Mechanismen systematisch untersucht werden. Insofern ist der RDoC-Ansatz mit verschiedenartigen Krankheitsdefinitionen verträglich. Besonders gut eignen sich dafür neue Clustertheorien [12, 19, 21].

Doch im Prinzip ist es richtig, dass sich ein ähnlicher Ansatz auch auf nicht krankhafte, stabile mentale Phänomene zur Typisierung anwenden lässt, etwa Persönlichkeitsvarianten, Begabungen oder außerordentliche Leistungsfähigkeit. Man könnte dies auch als Stärke sehen: Denn es geht um die Kartierung mentaler (Dys)funktionen, ob diese nun krankheitswertig sind oder nicht.

Überbetonung des Dimensionalen

Aus klinischer Sicht wird weiterhin der konsequent dimensionale Ansatz des RDoC kritisiert. Er verkenne damit die klinische Realität, dass viele Erkrankungen eben nicht in einer Extremausprägung von normal verteilten dimensionalen Eigenschaften bestehen, sondern durchaus kategorisch sein können [22].

Auch diese Kritik hat eine gewisse Schlagkraft. Der RDoC-Ansatz muss Raum für die Möglichkeit kategorial verschiedener Erkrankungen lassen. Doch dies ist unproblematisch, denn eine dimensionale Systematik lässt sich immer in eine kategorische umwandeln, was umgekehrt nicht gilt.

Vernachlässigung der Psychopathologie und damit des subjektiven Erlebens

Die gegenwärtige Psychiatrie stützt sich ganz wesentlich auf die Psychopathologie, die in ihren meisten Aspekten nur durch eine systematische Exploration des subjektiven Erlebens zugänglich ist. Die Psychopathologie spielt ebenso wie die Krankheitsebene praktisch keine Rolle im RDoC-System. Dabei ist (und wird) sie im klinischen Alltag als auch in der Forschung entscheidend (bleiben). Dies gilt auch in der sonstigen Medizin. So gibt es klinisch sehr charakteristische Zeichen der Angina pectoris oder der Migräne, die bei der Erforschung dieser Erkrankungen eine zentrale Rolle spielen. Der Fokus auf grundlegende neurokognitive Symptome, so wird befürchtet, könnte zu einer mangelnden Verankerung in der klinischen Realität und, gerade für noch nicht gut verstandene Erkrankungen, zu einer falschen Forschungsausrichtung führen.

Diese Bedenken sind ernst zu nehmen und inzwischen ist klar geworden, dass auch die Forschung nicht losgelöst von klinischen Kategorien erfolgen kann. Allerdings ist die Vernachlässigung der aus klinischer Erfahrung gewonnenen charakteristischen Symptome kein Problem des RDoC alleine. Im Gegenteil: So spielen etwa die sog. Erstrangsymptome der typischen Schizophrenie nach Schneider im DSM-5 für die Diagnostik keine führende Rolle mehr, was zu Recht als Vernachlässigung einer wichtigen klinischen Dimension kritisiert wird [10].

Neuroskeptische Einwände

Die zweite Gruppe von Argumenten gegen die RDoC-Initiative ist durch eine generelle Skepsis gegenüber neurobiologischen Ansätzen motiviert [13]. Sie besagen in verschiedenen Variationen, dass die RDoC-Initiative lediglich ein hirnzentrierter Reduktionismus in neuer Verkleidung sei. Manchmal wird diese Argumentation damit begründet, dass die Vergangenheit zur Genüge gezeigt habe, dass die Suche nach Biomarkern bis jetzt erfolglos geblieben sei. Doch dieser Einwand taugt als Argument gegen das RDoC nun gerade nicht. Im Gegenteil: Biomarker waren vermutlich gerade deswegen nicht zu finden, weil das DSM heterogene Krankheiten in eine Kategorie zusammenfasst, für die es ebenso wenig einen gemeinsamen Biomarker gibt wie für das Krankheitsbild „Brustschmerzen“.

Andere neurokritische Argumente sind fundamentaler und argumentieren damit, dass psychische Krankheiten überhaupt keine Hirnkrankheiten seien. Vielmehr seien psychische Erkrankungen primär durch das subjektive Erleben konstituiert, sozial bedingt oder multifaktoriell entstanden. Diese Kritik ist nicht ganz unberechtigt, denn in der Tat impliziert das RDoC-System einen Krankheitsbegriff, den man als neurozentriert beschreiben kann. Allerdings verkennt diese Kritik, dass sowohl Entwicklungsaspekte als auch Umwelteinflüsse genauso wie das subjektive Erleben (über die Selbstberichte) im RDoC ihren Platz finden. Doch es ist vermutlich kein Zufall, dass die viel gezeigte Matrix diese beiden Dimensionen nicht direkt enthält. Doch auch wenn sich einige oder viele psychische Krankheiten nicht als Hirnerkrankungen im engeren Sinne erweisen, so ist das Gehirn für alle Arten psychischer Störungen ein unverzichtbares Nadelöhr. Denn letztlich müssen all die genannten Faktoren auf neuronale Schaltkreise einwirken, um sich als psychopathologische Symptome und psychisches Leid zu äußern. Dies legt zumindest die implizite Antwort auf das Leib-Seele-Problem nahe, die dem RDoC inhärent ist: Dass nämlich mentale Zustände letztlich im Kern Funktionszustände des Gehirns sind und damit dasselbe für krankhafte mentale Zustände gilt.

Nun lässt sich zwar die Frage stellen, ob man nicht immer das Gehirn im Kontext betrachten muss – eingebettet in einen Körper, in einen Organismus, in eine Umwelt (vgl. dazu Kap. III.6–III.9 in [18]). Doch diesen Aspekt kann das RDoC integrieren. So werden im Moment Erweiterungen des RDoC, v. a. im Bereich der Regulationssysteme, diskutiert, die über das Gehirn im engeren Sinne hinausreichen, etwa die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden(HPA)-Achse, das immunologische System und seit neuestem auch das Verdauungssystem („gut-brain-axis“; [16]). Ob die weitergehende These des erweiterten Geistes, dass nämlich mentale Zustände durch außerhalb der Person liegende Sachverhalte nicht nur beeinflusst, sondern durch diese erst konstituiert werden, ist eine grundlegende philosophische Frage, deren Beantwortung zum einen über den hier gesteckten Rahmen hinausgeht und zweitens das grundlegende Argument des Nadelöhrs nicht entkräftet, sondern allenfalls in bestimmten Fällen abschwächen könnte.

In neurokritischen Argumenten findet sich häufig eine Vermischung von ontologisch-konstitutionellen Fragen (Was sind krankhafte mentale Zustände?), Ursachenfragen (Wie kommt es zu psychischen Erkrankungen?) und praktischen Erwägungen (Wie sollte man psychische Erkrankungen behandeln?). Nichts im RDoC-Modell spricht dagegen, dass es Umwelt- oder sozial bedingte Ursachen psychischer Erkrankungen gibt. Keine These des RDoC spricht dagegen, dass es Interaktionen zwischen biologischen und sozialen Faktoren gibt. Und schon gar nichts spricht dagegen, dass die beste Therapie je nach Störung in einer Verhaltens- oder Umweltintervention besteht, selbst dann, wenn die Ursachen im strikten Sinne biologischer Natur sind. Doch oft wird fälschlicherweise unterstellt, dass ein neurobiologischer Ansatz genau dies impliziere. Bei neurokritischen Argumenten ist es daher ratsam, zum einen immer genau zu prüfen, ob die Kritiker ein alternatives und begründetes Modell dazu anbieten, was mentale und damit psychopathologische Zustände sind, und zweitens, ob nicht fälschlicherweise unterstellt wird, dass das RDoC Ursachen und Therapieansätze a priori neurobiologisch konzipiert.

Mangelnde Validität

Ein weiteres Argument gegen RDoC lautet schließlich, dass die Domänen der Matrix selbst nicht valide seien. So kritisiert etwa Daniel Weinberger, dass diese lediglich aus einer Liste phänomenologischer Maße bestünden, die

… schlecht definiert sind, und häufig subjektive, stark kontext- und untersuchungsgruppenabhängige Maße darstellen (z. B. „Verstehen des Selbst“, „von anderen“, und „Belohnungslernen“). Viele Maße beruhen nicht auf strengen experimentellen Untersuchungen, mit Kriterien für die Gruppenauswahl, Test-Retest und Reliabilitätskriterien, Sensitivitäts- und Spezifitätsanalysen und normativen Definitionen. Die Bedeutung und Brauchbarkeit dieser Domänen in realen klinischen Gruppen sind letztlich unbekannt ([22], Übersetzung H.W.).

Nun ist es in der Tat eine berechtigte Frage, ob die von einer kleinen Gruppe von Experten der RDoC-Initiative gewählten Domänen erschöpfend die relevanten neurokognitiven Aspekte des Denkens, Fühlens und Wollens abdecken. Möglichweise gilt auch hier ähnlich wie bei der DSM-Entwicklung, dass Experten ihr Lieblingsforschungsfeld aus Eigeninteresse als Konstrukt zur Aufnahme durchgesetzt haben [4]. Jedoch: Die RDoC-Initiative hat die Kriterien für die Auswahl der Domänen klar dargelegt: Für jede potenzielle Domäne muss klare und deutliche experimentelle Evidenz dafür vorliegen, dass sie als Verhaltensfunktion ein valides Konstrukt darstellt. Weiterhin muss starke Evidenz in Form wissenschaftlicher Studien dafür vorhanden sein, dass das Konstrukt auf ein spezifisches biologisches System, z. B. einen Hirnschaltkreis, abgebildet werden kann. Insofern musste sich die Auswahl auf solche Domänen beschränken, die schon gut untersucht worden waren. Es gab allerdings kein Kriterium, das auf Vollständigkeit abzielt.

Doch ein Positivum der RDoC-Initiative ist, dass sie auf Verbesserung, Ergänzung und Änderung durch aktive Forschung hin konstruiert ist. Gerade weil sie nicht einer direkt nutzbaren Klassifikation im klinischen Alltag dient, sind solche Ergänzungen und Änderungen bei Vorliegen von Evidenz relativ rasch möglich. Dies erfolgt durch die gebildeten Arbeitsgruppen. So berichtete ein Mitglied der RDoC-Initiative, Charles A. Sanislow, in einem Vortrag in der Charité am 01.06.2016, dass bald nach Veröffentlichung der Domänen klar wurde, dass die wichtige Domäne der Motorik schlicht ignoriert worden war. In der nächsten Überarbeitung sei geplant, diese der RDoC-Matrix hinzuzufügen. Das Gleiche gelte für das Konstrukt der Impulsivität sowie die Zufügung des Default-Mode-Systems als eigenständiges regulatorisches System. Die Hinzunahme eines weiteren klinisch relevanten Konstruktes, der Aggressivität, so Sanislow, sei von Beginn an intensiv diskutiert worden. Allerdings hätten die Experten keine Einigung darüber erzielen können, wie dieses Konstrukt operationalisiert werden solle.

Zusammenfassend ist die Validitätskritik teilweise berechtigt, insbesondere in Hinblick auf die Vollständigkeit, aber diese Schwäche des Systems ist durch die inhärent eingebaute Weiterentwicklung zumindest prinzipiell heilbar.

Beispielhafte RDoC-orientierte Studien

Wie sieht RDoC-orientierte Forschung aus? Ein wichtiges Merkmal ist, dass sie per definitionem nicht diagnosespezifisch ist. Stattdessen geht sie in der Regel transdiagnostisch vor oder versucht, eine domänenbasierte Subtypisierung innerhalb eines Spektrums von Erkrankungen zu etablieren.

So untersuchten Lang et al. [15] 425 Patienten aus dem Spektrum der Angsterkrankungen, d. h. mit der DSM-Diagnose einer spezifischen Phobie, sozialen Phobie, Panikstörung mit/ohne Agoraphobie, Zwangsstörung, generalisierten Angststörung oder posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Alle Patienten absolvierten eine individualisierte Angstvorstellungsaufgabe, während derer subjektive Angaben und physiologische Marker (Herzrate, Hautwiderstand, Gesichtselektromyogramm und Startle-Reflex) erhoben wurden. Die physiologische Reaktivität war am stärksten bei PTBS mit singulärem Trauma, dann folgten spezifische Phobien, dann Panikstörungen, dann generalisierte Angststörungen und schließlich die PTBS mit multiplem Trauma. Offenbar richtet sich die physiologische Reaktivität (ein „Biomarker“) eher nach der Art der Angst – am stärksten bei umschriebener Furcht, am geringsten bei allgemeiner Ängstlichkeit – als nach der Diagnose, denn die PTBS findet sich auf beiden Seiten des Spektrums.

Die nachträgliche RDoC-orientierte Analyse der Daten nutzte die physiologische Reaktivität als unabhängige Variable, um eine DSM-unabhängige Biotypisierung zu erreichen. Konkret wurde ein Index aus Startle-Reflex und Herzratenreaktivität gebildet („defensive Reaktivität“) und 5 gleich große Gruppen mit abnehmender Reaktivität definiert (die verschiedene Diagnosen umfassten). Eine abnehmende defensive Reaktivität war mit erhöhter negativer Affektivität assoziiert. Interessant wurde es nun, als die subjektiven Angaben der Patienten betrachtet wurden. Alle 5 Gruppen zeigten subjektiv eine gleich stark erhöhte Erregung, obwohl die objektive physiologische Reaktion sich zwischen den Gruppen deutlich unterschied. Zudem waren Patienten mit geringer defensiver Reaktivität schwerer krank. In der Diskussion folgern die Autoren, dass sie durch ihre RDoC-orientierte Analyse eine klinisch relevante transdiagnostische Dimension aufzeigen, die sie in einer DSM-orientierten Auswertung nicht hätten finden können.

In einer zweiten Studie wurden Patienten mit Schizophrenie, schizoaffektiver Störung und bipolarer Störung (n = 711) sowie deren erstgradige, gesunde Verwandte (n = 883) sowie gesunde Kontrollprobanden (n = 278) untersucht [3]. Alle Personen erhielten eine Untersuchung mit einer Biomarker-Batterie. Diese umfasste eine neuropsychologische Testung, einen Stop-signal-Task, Augenbewegungsmessungen (Pro- und Antisakkadentests), elektroenzephalographische (EEG-)Messungen (Paired-Stimuli-Task, Oddball-Task, d. h. sensomotorische Leistungen) und eine strukturelle magnetresonanztomographische (MRT-)Aufnahme. Weiterhin lagen klinische Daten, Familiendaten und Daten zum sozialen Funktionsniveau vor.

Auch hier wurde eine diagnoseunabhängige Typisierung vorgenommen. Zunächst wurde analysiert, welche Variablen aus Stop-signal-, Sakkadentests und EEG-Paradigmen Patienten von Gesunden unterschieden. Diese Variablen wurden dann gemeinsam mit einer neuropsychologischen Batterie einer Hauptkomponentenanalyse unterzogen. Es blieben 9 Variablen übrig, mit deren Hilfe durch Clustering-Verfahren die Patienten in 3 Biotypen unterteilt werden konnten. Aus den 9 Variablen wurden 2 übergeordnete Domänen gebildet, die als „kognitive Kontrolle“ (Teil der RDoC-Matrix) und „sensomotorische Reaktivität“ (noch nicht Teil der RDoC-Matrix) bezeichnet wurden. Die 3 Biotypen waren nicht deckungsgleich mit diagnostischen Kategorien nach DSM. Tatsächlich waren in jedem Biotyp alle 3 DSM-Diagnosen vertreten, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß: Die Schizophrenie fand sich am häufigsten in Biotyp 1, die bipolaren Störungen am häufigsten in Biotyp 3.

Dass es sich um eine klinische relevante Typisierung handelt, zeigt der Vergleich mit externen Validatoren, also Merkmalen der Patienten, die nicht zur Konstruktion der 3 Biotypen verwendet wurden: klinische Symptomatik, soziale Funktionsfähigkeit und Volumenverluste im strukturellen MRT. Biotyp 3 zeigte mehr bipolare Symptome und weniger positive und negative psychotische Symptome als Biotyp 1 und 2. Die soziale Funktionsfähigkeit war am stärksten in Biotyp 1 eingeschränkt und dieser zeigte auch die stärksten Volumenreduktionen in der grauen Substanz in vielen kortikalen und subkortikalen Arealen. Biotyp 2 zeigte regional ähnliche, aber weniger starke Volumenminderungen, Biotyp 3 dagegen zeigte nur eine leichte Volumenreduktion in anterioren limbischen Gebieten. Interessanterweise zeigten auch die klinisch gesunden Verwandten ersten Grades der 3 Biotypen die gleichen Muster, wenn auch abgeschwächt. Zudem waren die 2 RDoC-Dimensionen in den 3 Biotypen unterschiedlich ausgeprägt. Die Resultate sprechen zusammengenommen dafür, dass die Biotypkategorisierung neurobiologisch valide Typen identifiziert, die klinisch relevant sind.

Das Denken in RDoC-Kategorien kann aber auch in anderer Richtung funktionieren wie das dritte Beispiel zeigen soll. So ist etwa bekannt, dass Schizophrenie, bipolare Störungen und Depressionen gemeinsame genetische Risikofaktoren aufweisen. Spezifische Varianten, z. B. innerhalb des CACNA1C-Gens, zeigten in großen Studien mit mehreren zehntausend Teilnehmern eine reliable Assoziation sowohl mit Schizophrenie als auch mit bipolarer Störung. Gesunde „Risikoträger“ zeigten im funktionellen MRT (fMRT) eine verminderte hippokampale und perigenuale Aktivierung bei einer episodischen Gedächtnisaufgabe. Weiterhin unterschieden sie sich auch in entsprechenden neuropsychologischen Testungen der Merkfähigkeit. Außerdem korrelierte die Minderaktivierung mit subklinischen Ausmaßen von Depressivität und Ängstlichkeit [7].

Ausgehend von diesen Befunden untersuchten Erk et al. [6], ob sich der intermediäre Phänotyp transdiagnostisch bei gesunden erstgradigen Verwandten von Patienten mit Schizophrenie, bipolarer Störung und Major-Depression zeigt. Tatsächlich war dies der Fall (Abb. 2). Darüber hinaus zeigte sich, dass die Effekte des familiären Verwandtschaftsgrades und der spezifischen CACNA1C-Risikovariante additiv waren. Dies ist ein Beispiel, wie ein intermediärer Phänotyp innerhalb einer RDoC-Domäne als transdiagnostischer Phänotyp rekategorisiert wurde.

Abb. 2
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Ein transdiagnostischer intermediärer Phänotyp für Psychoserisiko. Der SNP („single nucleotide polymorphism“) rs1006737 war in mehreren unabhängigen Studien mit zehntausenden Teilnehmern genomweit signifikant assoziiert mit Schizophrenie und bipolarer Störung. In einer Studie mit 288 Teilnehmern wurde ein „intermediärer Phänotyp“ (= zwischen Geno- und klinischem Phänotyp) mit Minderaktivierung des Hippokampus und des perigenualen anterioren zingulären Kortex (pgACC) in gesunden Risikoträgern identifiziert (CTLR GG gesunde Kontrollen ohne Risikovariante, CTLR AG + AA gesunde Kontrollen mit mindestens einem A‑Allel = Risikovariante). Erstgradig gesunde Verwandte von Patienten mit Psychosen (rot bipolare Störung [BPD], blau majore Depression [MDD], grün Schizophrenie [SCZ]) zeigen in diesen beiden Regionen ebenfalls eine Minderaktivierung. Diese ist bei Risikoträgern der SNP-Variante (mindestens ein A‑Allel) noch ausgeprägter (additiver Effekt, hier der Übersichtlichkeit halber nicht gezeigt). Die Minderaktivierung in den beiden Regionen ist daher als transdiagnostischer intermediärer Phänotyp interpretierbar, der sowohl bei erhöhtem genetischem Risiko bei Gesunden (SNP-Variante) als auch bei familiärem (und daher zumindest teilweise genetischem) Risiko bei erstgradiger Verwandtschaft für eine der drei Erkrankungen zu finden ist. (Aus [6])

All die genannten Studien waren allerdings in ihrem Design ursprünglich nicht auf die RDoC-Systematik zugeschnitten. Doch Hypothesen über domänenspezifische Schaltkreise können auch für das primäre Design einer Studie dienen, wie das vierte und letzte Beispiel zeigen soll. So postuliert die Psychiaterin Leanne Williams aus Stanford aufgrund neurokognitiver Forschungen zu 6 bekannten neurokognitiven Schaltkreisen (von ihr bezeichnet als: Default-Mode, Salienz, negativer Affekt, positiver Affekt, Aufmerksamkeit und kognitive Kontrolle) 8 klinische Biotypen des Angst-Depressions-Spektrums (Abb. 3), nämlich Rumination (1), ängstliche Vermeidung (2), Negativitätsbias (3), Bedrohungsdysregulation (4), Anhedonie (5), Kontextinsensitivität (6), Unaufmerksamkeit (7) und kognitive Dyskontrolle (8), bei denen die 6 genannten Schaltkreise in spezifischer Weise verändert sein sollen [23]. Doch finden sich wirklich solche Subtypen in der Wirklichkeit? Sind diese überhaupt untersuchbar? Oder ist das alles akademische Spielerei?

Abb. 3
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Eine Hypothese zu 8 „Biotypen“ des Angst-Depressions-Spektrums. Hier ist, basierend auf einem Review der vorhandenen Evidenz aus Bildgebungsstudien, eine spekulative Hypothese gezeigt, wie sich 6 bekannte Hirnschaltkreise („circuits“) zu 8 postulierten klinischen Subtypen aus dem Angst-Depressions-Spektrum, die sich so im DSM-5 nicht finden, in Bezug auf ihre funktionelle Konnektivität verhalten. (Aus [23]). Zu weiteren Einzelheiten vgl. den Text. ACC anteriorer zingulärer Kortex, DLPFC dorsolateraler präfrontaler Kortex, DPC dorsal parietaler Kortex, MPFC medialer präfrontaler Kortex, OFC orbitofrontaler Kortex, PCC posteriorer zingulärer Kortex, PFC präfrontalen Kortex, SLEA „sublenticular extended amygdala“, TP temporaler Pole, alPL anteriorer inferiorer parietaler lobulus

Tatsächlich wird die Nützlichkeit eines solche RDoC-Ansatzes in einer 2013 begonnenen fMRT-Längsschnitt-Studie (geplanter Abschluss 2017) erprobt (in vereinfachter Form mit 4 Biotypen und 2 Schaltkreisen; [24]). Das Besondere dieser Studie liegt darin, dass nicht Diagnosen, sondern Biotypen als unabhängige Variable dienen. Es werden insgesamt 160 Patienten aus dem Angst-Depressions-Spektrum eingeschlossen, die neuronalen Schaltkreise werden mit 3 reliablen fMRT-Paradigmen erfasst, welche die gewählten Konstrukte anhand der Aktivierung neuronaler Systeme abbilden. Dazu passend werden Verhaltenstests mit hoher Test-Retest-Reliabilität angewandt, die weitgehend kulturunabhängig sind sowie klinische Informationen aus der Wirklichkeit der Patienten mittels Fragebögen erhoben. Diagnosen werden zwar erhoben, dienen aber lediglich als Kovariate, und die Behandlung (es ist eine naturalistische Studie) richtet sich nach individuellen Erfordernissen.

Zwölf Wochen nach der ersten ausführlichen Untersuchung werden die Patienten ein zweites Mal untersucht. Dabei erhalten die Patienten eine halbstündige Feedbacksitzung, bei der die Ergebnisse aller Tests erläutert werden und auch den Therapeuten mitgeteilt werden, um zu überlegen, inwieweit diese Informationen für die konkrete Therapie hilfreich sind. So wird es möglich sein, zu beurteilen, ob die transdiagnostischen Biotypen für die Therapie von klinischer Relevanz sind. Diese laufende Studie ist ein Paradebeispiel für eine RDoC-inspirierte Studie und es wird spannend sein, die ersten Ergebnisse zu studieren.

Welche Bedeutung hat RDoC in der alltäglichen klinischen Praxis?

Die Antwort lautet, wie so häufig in der Grundlagenforschung: Zum jetzigen Zeitpunkt ändert sich im klinischen Alltag wenig bis gar nichts. Allerdings kann eine Auseinandersetzung mit den Prinzipien der RDoC-Initiative schon jetzt dazu beitragen, das klinische Denken neu zu justieren. In der Praxis steht nicht die feinziselierte Differenzialdiagnostik nach DSM im Vordergrund, sondern es geht darum, therapeutisch relevante Syndromkonstellationen zu erkennen, die deskriptiv gesetzte Diagnoserichtlinien nicht immer respektieren. Der erfahrene Praktiker handelt in der Praxis schon dementsprechend, indem er symptom- und nicht allein diagnosespezifisch therapiert. Bis wir allerdings wissen werden, welche Subtypisierung oder transdiagnostischen Aspekte tatsächlich relevant sind, wird es eine Weile dauern, denn die so angelegte Forschung hat ja gerade erst begonnen.

Noch länger wird es dauern, genau wie bei üblichen DSM-basierten Therapiestudien, auf Grundlage neuer Klassifikationen eingeleitete Therapien auf ihre (bessere) Wirksamkeit zu prüfen. Eine weitere Herausforderung besteht darin herauszufinden, welche objektiven Biomarker in der Praxis praktikabel und finanzierbar sind. Aber all diese Einschränkungen gelten natürlich genauso für herkömmliche Therapieverfahren in der Psychiatrie wie für die objektiven diagnostischen Verfahren in anderen medizinischen Fachrichtungen. Bevor wir wissen, ob spezifische, auf RDoC-basierte Therapien tatsächlich bessere Resultate zeigen als DSM-basierte Therapien, müssen aufwendige, kontrollierte Studien durchgeführt und analysiert werden. Zudem ist in der Praxis die Anwendung apparativer diagnostischer Verfahren zur Biotypisierung immer ein Balanceakt zwischen Kosten und Nutzen.

Wie das Beispiel der Angststörungen und des Angst-Depressions-Spektrums deutlich machen, könnten aber schon jetzt Ergebnisse einer RDoC-basierten Forschung in klinisch-therapeutische Entscheidungen einfließen, so z. B. die Erkenntnisse über die Relevanz physiologischer Reaktivität oder die Unterscheidung zwischen Beeinträchtigungen der Schaltkreise für negative Affektivität und kognitive Kontrolle. Dies kann natürlich nur vor dem Hintergrund des klinischen Gesamtwissens und eines Grundverständnisses der grundlegenden Funktionszusammenhänge geschehen, die eine psychiatrische Fachärztin oder ein psychosomatischer Facharzt beherrschen sollte. Letztlich wird nur die Zeit zeigen, ob die RDoC-Initiative eine solide Grundlage für das regulative Ideal einer personalisierten oder zumindest stärker biologisch basierten Behandlung psychisch erkrankter Patienten liefern kann. Zumindest ist die RDoC-Initiative ein mutiger, systematischer und gut begründeter Schritt, um das festgefahrene und stark kritisierte DSM-System herauszufordern.

Keypoints

  • Die 2009 gestartete RDoC-Initiative ist ein Ansatz des National Institute of Mental Health, die Erforschung psychischer Erkrankungen auf eine neue, dimensionale und transdiagnostische Basis zu stellen. Herzstück ist eine zweidimensionale Matrix, deren Zeilen aus neurokognitiven Funktionen bestehen, die in fünf Domänen zusammengefasst werden, und deren Spalten verschiedene Ebenen der Analyse vom Gen bis hin zum Selbstbericht umfassen.

  • Dieser Ansatz entstand aus einer Unzufriedenheit mit dem festgefahrenen DSM-System, beansprucht aber nicht, es in der klinischen Praxis zu ersetzen. Vielmehr bietet sie einen Rahmen für die Forschung mit dem erklärten langfristigen Ziel, die Diagnostik, Kategorisierung und Therapie psychischer Störungen valider und individualisierter zu machen.

  • Im klinischen Alltag ist dieser Ansatz relevant, indem er dazu ermutigt, Therapien schon jetzt stärker an funktionsbezogenen Störungen zu orientieren.