Zusammenfassung
Hintergrund
Zwangsmaßnahmen werden in psychiatrischen Kliniken häufig als letztes Mittel gegen eigen- bzw. fremdgefährdendes Verhalten eingesetzt, mit negativen psychischen und somatischen Folgen für die Betroffenen.
Ziel
In einer naturalistischen Beobachtungsstudie untersuchten wir, ob das strukturelle Milieu einer psychiatrischen Klinik, das durch den Umzug in einen architektonisch positiver gestalteten Neubau verbessert wurde, die Anwendung von Zwangsmaßnahmen beeinflusst.
Material und Methoden
Die Häufigkeit und Dauer von Zwangsmaßnahmen (Fixierungen, Zwangsmedikationen, fürsorgliche Zurückhaltungen) wurden im Zeitraum vor und nach dem Umzug verglichen.
Ergebnisse
Nach dem Umzug zeigte sich ein signifikanter Rückgang der Zwangsmaßnahmen von 48–84 %.
Diskussion
Trotz Einschränkungen des Studiendesigns zeigt sich, dass die architektonische Neugestaltung einer Klinik die Anwendung von Zwangsmaßnahmen zu reduzieren hilft.
Abstract
Background
Coercive measures are widely applied in psychiatric hospitals as a last resort to prevent patients seriously harming themselves or others, with negative psychological and somatic consequences for those affected.
Objective
In a naturalistic observational study it was investigated whether relocation of the structural milieu of a psychiatric hospital to an architectonically improved new building influenced the application of coercive measures.
Material and methods
The frequency and duration of coercive measures (e.g. fixation, coercive medication and preventive restraints) were routinely documented and compared in the periods before and after the relocation.
Results
After the relocation the utilization of coercive measures was significantly reduced by 48–84 %.
Conclusion
Despite the limitations of the study design the results suggest that the architectural improvements reduced the application of coercive measures. It is speculated that the positive structural milieu enhanced the well-being of patients and staff and their social relations, which in turn prevented coercive measures.
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Im psychiatrischen Alltag werden Zwangsmaßnahmen (z. B. Isolierung, körperliche Fixierung oder Zwangsmedikation) als letztes Mittel eingesetzt, um eigen- bzw. fremdgefährdendes Verhalten von Patienten zu unterbinden. Die Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen variiert stark zwischen Kliniken, diagnostischen Gruppen und Geschlecht [15, 30], sie wird z. T. bei bis zu 8,4 % der stationären Patienten durchgeführt bzw. angedroht [19], auf Akutstationen oft noch häufiger [13]. Die Wirkung solcher kurzfristigen, mitunter vorschnell angewandten Maßnahmen ist umstritten und die empirische Datenlage zur Effektivität unzulänglich [23]. Patienten erleben Zwangsmaßnahmen teilweise als traumatisierend, die therapeutische Beziehung wird belastet und die eigentliche psychopathologische Zielsymptomatik kann sich sogar noch verschlechtern [5, 11, 21]. Zwangsmaßnahmen können für Patienten gefährlich sein, es gibt Berichte über schwere Verletzungen oder auch Todesfälle [20]. Die Verringerung von Zwangsmaßnahmen hingegen kann als Qualitätsindikator der psychiatrischen Behandlung angesehen werden [19].
Aufgrund der negativen Aspekte von Zwangsmaßnahmen wird versucht, ihre Anwendung zu reduzieren [12], z. B. durch Deeskalationstraining für Personal [18], diagnosespezifische Spezialstationen [29], die Etablierung psychiatrischer Notfallteams [26] oder die Erhöhung des Pflegepersonals und Verkleinerung der Stationen [31]. Allerdings zeigten Umfragen unter akutpsychiatrisch tätigen Ärzten, dass die Anwendung von Alternativen zu Zwangsmaßnahmen im Alltag meist an patientenbezogenen, individuellen oder strukturellen Gründen scheitert [32]. Neben solchen direkten organisatorischen und personellen Einflussmöglichkeiten kann auch indirekt das soziale und strukturellen Milieu [6, 35] – z. B. soziale Regeln/Normen, die Architektur sowie der bauliche Zustand einer Klinik – eine wichtige Rolle spielen [24, 34].
Wie wir unlängst in einem Kurzbeitrag berichteten, trug die architektonische Neugestaltung einer psychiatrischen Klinik zur Reduktion von Zwangsmaßnahmen bei [8]. Die in dieser naturalistischen Beobachtungsstudie erhobenen Daten dieser Klinik möchten wir hier für einen erweiterten Analysezeitraum intensiver diskutieren, wobei wir insbesondere auf die vermittelnden Wirkmechanismen eingehen.
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
Veränderung der baulichen Struktur im Erhebungszeitraum
Vor dem Umzug 2011 befand sich die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen ausschließlich in einem 1894 erbauten Gebäude, das nach damaligen Verhältnissen mit einer aufwendigen Architektur, großen Räumlichkeiten und schönen Gartenanlagen modern gebaut war. Nach 114-jähriger Nutzung erforderten akute Defizite des Brandschutzes und der Hygiene sowie Platzmangel eine grundlegende Neuordnung.
Aufgrund therapeutischer Gründe und dem Wunsch zur Stadtbilderhaltung wurde ein zweiflügeliger Bettenbau hinter dem Altbau errichtet, der über einen Mittelbau mit dem Altbau verbunden ist. Die kompakte Bauweise des Neubaus mit neun grundrissgleichen Stationen neben- und übereinander erlaubt bedarfsweise eine offene oder geschlossene Stationsführung. Helle Zimmer mit viel Tageslicht durch große Glasflächen an der Sonnenseite sollen einen freundlichen Eindruck erwecken und dem Gefühl des „Eingesperrtseins“ entgegenwirken. Die konisch angelegten Flure münden in einen großen Aufenthaltsbereich und die Sozialbereiche (Aufenthalt, gemeinsames Essen, Gruppentherapie, Balkon) sind vom Flur gläsern abgetrennt, sodass optisch der Eindruck eines großen Raumes entsteht und es jederzeit Bewegungs- und Ausweichmöglichkeiten gibt. Bei der Farbgebung wurden akzentuiert warme und helle Farbtöne verwendet (Abb. 1).
Der Altbau wird gegenwärtig in das Gesamtkonzept integriert und denkmalgerecht umgestaltet, um zukünftig (tages)stationäre, ambulante sowie Forschungsbereiche zu ermöglichen.
Erfasste Variablen
In der routinemäßigen Dokumentation der Klinik wurden von Januar 2005 bis Dezember 2014 für jede Station folgende Zwangsmaßnahmen monatlich erfasst:
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(1) Anzahl der von körperlichen Fixierungen betroffenen Patienten,
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(2) Anzahl der Kalendertage mit körperlichen Fixierungen,
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(3) die über alle Fälle kumulierte Zeitdauer der körperlichen Fixierungen (in Stunden),
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(4) Anzahl der Zwangsmedikationen (mit/ohne Androhung von Zwangsmaßnahmen) sowie
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(5) Anzahl der fürsorglichen Zurückhaltungen.
Um diese abhängigen Variablen zu normieren (s. u.) wurde die in jedem Monat durchschnittliche Anzahl belegter Betten erfasst.
Die Dokumentation erfasste zudem die situative Begründung für Zwangsmaßnahmen (Tätlichkeit gegen Personen ohne Maßnahme, Tätlichkeit gegen Personen mit Maßnahme, Sachbeschädigung, bedrohliches Verhalten, Selbstbeschädigung, drohende Selbstbeschädigung, Patient wünscht Fixierung, sonstiges) und deren Rechtsgrundlage (freiwillig, rechtfertigender Notstand [Akutaufnahme], fürsorgliche Zurückhaltung im Rahmen des Unterbringungsgesetzes [UBG], richterlich ausgesprochene Unterbringung im Rahmen des UBG, Betreuung nach Bürgerlichem Gesetzbuch [BGB], Begutachtung nach § 81 Strafprozessordnung [StPO]), sonstiges).
Statistische Auswertung
Alle Variablen wurden über die Stationen aggregiert. Da die Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen von der Patientenanzahl abhängt, wurden alle Maße an der Anzahl durchschnittlich belegter Betten normiert. Bei allen fünf Indikatoren von Zwangsmaßnahmen wurden Ausreißer (Abweichung > 1,5 Quartilabstände vom mittleren Quartil; < 7 % der Datenpunkte) aus der Analyse ausgeschlossen. Zur Glättung der Zeitreihen wurden die Datenpunkte innerhalb von Quartalen gemittelt. Als Folge dieser Vorverarbeitungsschritte repräsentierten die fünf abhängigen Variablen zur Erfassung der Zwangsmaßnahmen (s. Abschn. „Erfasste Variablen“) jeweils den Umfang der Maßnahmen pro Monat und pro durchschnittlich belegter Betten, gemittelt in Quartalen. Ausreißerentfernung bzw. Glättung beeinflussten die Ergebnisse nur unwesentlich.
Die Veränderung der Zwangsmaßnahmen nach dem Umzug wurde mit Zweistichproben-t-Tests statistisch untersucht. Die Daten des ersten Quartals 2011 (Zeit des Umzugs) wurden von diesen Analysen ausgeschlossen. Für den Zeitraum vor bzw. nach dem Umzug wurden die Zeitreihen von Januar 2005 bis Dezember 2010 bzw. April 2011 bis Dezember 2014 verwendet. Somit ergab sich eine leicht unterschiedliche Anzahl von Datenpunkten vor bzw. nach dem Umzug (24 bzw. 15 Datenpunkte), durch die Normierung auf die Anzahl von Zwangsmaßnahmen pro Monat ergab sich aber keine Verzerrung der t Tests durch unterschiedlich lange Beobachtungszeiträume. Ein Vergleich gleich langer Zeiträume änderte die Ergebnisse nicht. Die Effektstärke der Unterschiede wurde mittels Cohen’s d berechnet (unter Verwendung der gepoolten Standardabweichung für zwei unabhängige Stichproben; s. Tab. 1).
Zudem wurde die Veränderung der relativen prozentualen Verteilung der situativen und rechtlichen Begründungen für die Durchführung der Zwangsmaßnahmen untersucht. Für jeden Monat wurde zunächst der relative prozentuale Anteil eines jeden Grundes (an allen Begründungen) berechnet und diese in Quartalen gemittelt. Die Veränderung der relativen Verteilung der Gründe wurde mit Zweistichproben-t-Tests untersucht.
Ergebnisse
Vor dem Umzug im Jahre 2011 lag die Anzahl der Fixierungen mit durchschnittlich 7 % aller belegten Betten pro Monat (s. Tab. 1) sogar tendenziell niedriger als in anderen psychiatrischen Kliniken in Südwestdeutschland, in denen bis 2007 im Durchschnitt 9,5 % aller behandelten Patienten Zwangsmaßnahmen unterlagen [28]. Nach dem Umzug reduzierte sich der monatliche, an der durchschnittlichen Bettenbelegung normierte Umfang der Zwangsmaßnahmen um 48–84 % (Tab. 1). Die Anzahl der fixierten Patienten reduzierte sich um 50 % (t37 = 5,968; p < 0,001), die Anzahl der Tage mit Fixierung um 64 % (t37 = 5,509; p < 0,001), die durchschnittliche Dauer der Fixierungen um 52 % (t37 = 3,195; p = 0,003) und der Einsatz von Zwangsmedikation um 84 % (t37 = 6,669; p < 0,001). Auch die Anzahl fürsorglicher Zurückhaltungen reduzierte sich um 48 % (t37 = 3,491; p = 0,001). Der gleichzeitige Abfall der Zwangsmaßnahmen und -medikationen zeigt, dass die abnehmenden Fixierungen nicht durch zusätzliche Zwangsmedikationen kompensiert wurden.
Die Verläufe der Zwangsmaßnahmen und -medikationen in den Jahren vor und nach dem Umzug der psychiatrischen Klinik sind in Abb. 2 dargestellt,
Die situativen und rechtlichen Begründungen für die Anwendung der Zwangsmaßnahmen änderten sich durch den Umzug nicht signifikant (Abb. 3, p > 0,05). Einzig der rechtfertigende Notstand wurde nach dem Umzug verstärkt als rechtliche Begründung verwendet (t37 = −4,021; p < 0,001). Diese Änderung ist sehr wahrscheinlich auf mit dem Umzug fast zeitgleich stattfindende Entscheidungen von Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof (2011 bzw. 2012) zurückzuführen, die eine Anwendung von Zwangsbehandlungen nach dem Unterbringungsgesetz (UGB) in Baden-Württemberg und dem Betreuungsgesetz (BtG) stark einschränkte [22]. Die Anwendung von Zwangsmaßnahmen aufgrund eines rechtfertigenden Notstandes bei Eigen-/Fremdgefährdung blieb allerdings möglich. Da die Rechtsunsicherheit von Zwangsmaßnahmen durch eine neue bundesweite Regelung der Unterbringung im Rahmen des BGB im Februar 2013 [3, 17] beendet wurde, ist nicht davon auszugehen, dass die Rückgänge der Zwangsmaßnahmen allein auf gesetzliche Änderungen zurückzuführen sind (eine weitere Regelung der Unterbringung erfolgte im Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz des Landes Baden-Württemberg (PsychKHG) im Januar 2015 [1]).
Diskussion
Unsere Beobachtungen zeigen, dass die notwendige architektonische Neugestaltung einer psychiatrischen Klinik mit einer reduzierten Anwendung von Zwangsmaßnahmen assoziiert ist. Es stellt sich die Frage, über welche Wirkmechanismen die baulichen Veränderungen zu dieser Reduktion beitrugen.
Wirkmechanismen
Die architektonischen Veränderungen verbesserten zunächst einmal das strukturelle Milieu: In Sinne der Milieutherapie [6, 35] schaffen neben den zwischenmenschlichen Umgangsformen und der Organisation der Therapieangebote auch die baulichen Umgebungsbedingungen einen günstigen Rahmen für alle spezifischeren therapeutischen Prozesse. Beispielsweise konnte gezeigt werden [36], dass eine erlebnis- und anregungsarme Klinikatmosphäre die Negativsymptomatik schizophrener Patienten verstärkte, während zu viel Anregung psychotische Krisen auslöste. Wie in unserer und anderen Studien [2, 33] beobachtet, können strukturelle Veränderungen auch zur Verringerung von Zwangsmaßnahmen beitragen, allerdings dürfte dieser Einfluss nicht direkt, sondern über die Verbesserung des therapeutischen Milieus vermittelt sein. Die bauliche Gestaltung beeinflusst in erster Linie die Befindlichkeit und die Bedürfnisbefriedigung von Patienten und Personal und deren therapeutische Beziehungen positiv, sodass in der Folge weniger kritische, Zwangsmaßnahmen erfordernde Situationen entstehen:
Befindlichkeit der Patienten.
Ein wesentlicher Prozess könnte die verbesserte subjektive Befindlichkeit der Patienten sein, da eine erhöhte Wohnlichkeit und Ästhetik der Umgebung dem emotionalen Grundbedürfnis nach Respekt und Akzeptanz entgegenkommt. Eine psychiatrische Krisensituation führt für viele Patienten zu herabgesetztem Selbstwert und Kränkungserleben, was durch eine als „pathologisch“ empfundene Umgebung verstärkt wird. Dem wirkt die Großzügigkeit der Räumlichkeiten, vermehrtes Tageslicht [9] und auch die verbesserte Sanitärausstattung positiv entgegen. Dem Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe bei herabgesetzter Stresstoleranz und erhöhter Sensibilität tragen größere Räumlichkeiten, weniger Mitpatienten im Zimmer, eine erhöhte Privatsphäre und vermehrte Rückzugs- und Ausweichmöglichkeiten Rechnung. Freie und selbständige Nutzung aller Stationsbereiche, insbesondere der Aufenthaltsräume, befriedigt das Bedürfnis nach Autonomie und Kontrolle, wodurch das Stresserleben reduziert wird [33]. Freundlicher gestaltete Aufenthaltsräume und Flure sowie zentrale, einsehbare Stationsstützpunkte schaffen einen offenen und überschaubaren sozialen Raum, der das Bedürfnis nach sozialer und therapeutischer Unterstützung und Kontakt mit Mitpatienten anspricht, wodurch Patienten ebenfalls vor Stresserleben geschützt werden [9, 33].
Wenn die baulichen Veränderungen in dieser Weise helfen, die Grundbedürfnisse vieler Patienten zu befriedigen und deren subjektive Befindlichkeit zu verbessern, zeigen Patienten weniger eigen-/fremdgefährdende Verhaltensweisen, die Zwangsmaßnahmen zur Folge haben. Damit übereinstimmend fand eine Studie [34], dass privater Raum, ein erhöhtes Ausmaß an Komfort und größere Sichtbarkeit auf der Station mit weniger Zwangsmaßnahmen assoziiert waren.
Befindlichkeit des therapeutischen Personals.
Die Neugestaltung von Stationen beeinflusst auch die Befindlichkeit, das emotionale Erleben und die Arbeitsbedingungen des therapeutischen Personals positiv [4]. Wenn das Personal den Patienten mehr positiv ablenkende Aktivitäten, Schutz vor negativen Einflüssen durch belastete Mitpatienten oder Außenreizen und Raum für Rückzug oder Begegnung anbieten kann, erhöhen diese Handlungsoptionen das Kontroll- und verringern somit das Stressempfinden des Personals. Die guten Überblicks- und Überwachungsmöglichkeiten erfüllen das Bedürfnis nach Sicherheit und reduzieren Anspannung und Angst für alle Beteiligten.
Eine positivere Befindlichkeit des Personals sollte auch dessen Fähigkeit erhöhen, emotional ausgeglichen zu sein und dadurch feinfühliger auf die emotionale Dysregulation der Patienten zu reagieren. In kritischen Situationen kann früher und wirksamer deeskalierend eingegriffen werden, was entscheidend für die Reduktion von Zwangsmaßnahmen ist [18].
Patient-Patienten- und Personal-Patienten-Beziehung.
Größere und schönere soziale Räume erhöhen die Kontaktmöglichkeiten und verbessern die Patient-Patienten- und Personal-Patienten-Beziehungen [24]. Allein durch die Reduktion von Angst, Anspannung und Defizienzerleben wird die Grundlage für therapeutische Beziehungen verbessert. Größere räumliche Bewegungsmöglichkeiten erlauben es den Patienten, sich selbstbestimmt an den therapeutischen Aktivitäten und dem Alltag in einer Klinik zu beteiligen, Kontakt mit Mitpatienten zu suchen oder sich zurückzuziehen. Das Personal kann die Privatsphäre und momentane Verfassung der Patienten besser respektieren. Durch die Mitbestimmung der Patienten wird die Beziehungsstruktur weniger hierarchisch, wodurch das Personal beim Auftreten problematischer Verhaltensweisen wirksamer „auf Augenhöhe“ deeskalierend reagieren kann.
Rückkopplung.
Im Sinne einer Rückkopplung verschlechtern Zwangsmaßnahmen die Befindlichkeit der Patienten (emotionale Belastung, Missachtung von Rechten und Grundbedürfnissen, etc.) [5, 11, 21]. Auf Zwangsmaßnahmen folgen vermehrtes (auto)aggressives Verhalten sowie verschlechterte therapeutische Beziehungen [14, 27], was wiederum zukünftige Zwangsmaßnahmen wahrscheinlicher macht. Verbesserte bauliche Rahmenbedingungen könnten dazu beitragen, diesen negativen Kreislauf zu durchbrechen, indem ein schützender, respektvoller, Autonomie fördernder und angstfreier Raum geboten wird.
Die Befindlichkeit von Patienten und Personal sowie deren Beziehung könnten also die entscheidenden Mediatorvariablen des therapeutischen Milieus sein, die die positiven Effekte der baulichen Rahmenbedingungen auf die Anwendung von Zwangsmaßnahmen vermitteln. Leider liegen zu diesen Mediatorvariablen keine systematischen Fragebogendaten vor, allerdings lassen Berichte des Pflegepersonals und Kommentare der Patienten zum Neubau einen solchen Schluss durchaus zu.
Limitationen
Folgende methodische Aspekte schränken die interne Validität unserer Schlussfolgerung, dass architektonische Umbauten zur Reduktion von Zwangsmaßnahmen beitragen, ein: Unsere Studie beschreibt eine naturalistische Beobachtung mit Prä-Post-Design, ohne zufällige Zuteilung von Patienten in Experimental- und Kontrollgruppe und ohne adäquate statistische Kontrolle von Störvariablen. Deshalb kann der Zusammenhang zwischen architektonischer Gestaltung und Anwendung von Zwangsmaßnahmen auch durch Drittvariablen zustande gekommen oder mitbedingt sein. So könnten nach dem Umzug weniger beeinträchtigte Patienten aufgenommen worden sein oder generelle zeitliche Aspekte spiegeln sich in den Daten wider (z. B. eine veränderte gesetzliche Grundlage für die Anordnung von Zwangsmaßnahmen [22]). Andererseits änderte sich die Zusammensetzung der Diagnosen und die Aufteilung der spezifischen Stationen im Untersuchungszeitraum nur geringfügig. Die Rechtsunsicherheit bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen war nach einem kurzem Zeitraum geklärt, sie bestand also nur für einen Teil des untersuchten Zeitraums nach dem Umzug [17]. Seit 2008 wird das Personal am Klinikum nach und nach in Deeskalationstechniken trainiert, was zur Reduktion der Zwangsmaßnahmen beigetragen haben könnte [18], aber nicht die sprunghafte Abnahme zum Zeitpunkt des Umzugs Anfang 2011 erklärt.
Bemerkenswerterweise wurden nach dem Umzug aufgrund geringerer Verweildauern (ca. 23 Tage im Zeitraum nach dem Umzug, zuvor über 30 Tage) insgesamt mehr Patienten behandelt (durchschnittlich 2374 Aufnahmen pro Jahr, zuvor 2256), sodass durch die kürzere Verweildauer theoretisch mehr „Unruhe“ in der Klinik und deshalb eine Zunahme von Zwangsmaßnahmen zu erwarten gewesen wäre. Der Personalschlüssel änderte sich nach dem Umzug nicht wesentlich.
Außerdem ist die Anwendung von Zwangsmaßnahmen zwar ein wichtiger, aber nicht alleiniger Indikator für die Behandlungsqualität in psychiatrischen Kliniken [19]. Weitere wichtige Variablen wurden nicht erfasst, wie z. B. der Behandlungserfolg, die Zufriedenheit von Patienten und Personal, das Stationsklima, das Selbstbild der Patienten oder deren empfundene Autonomie. Zudem wurden nicht alle möglichen, auch subtileren, Formen von Zwangsmaßnahmen erhoben, z. B. die Ausgangsregelungen auf Akutstationen. Zukünftige Studien, die den Einfluss der strukturellen Rahmenbedingungen auf die Qualität psychiatrisch-psychotherapeutischer Versorgung untersuchen, sollten solche Variablen gezielt erheben. Damit könnten einerseits die Qualitätsverbesserungen in ihrer Breite besser abgebildet werden, andererseits könnte genauer untersuchen werden, über welche Wirkmechanismen strukturelle Verbesserungen psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung noch erfolgreicher machen.
Implikationen
Die vorliegende Studie impliziert, dass architektonische Neugestaltungen Zwangsmaßnahmen reduzieren können. Die Ergebnisse stimmen mit Studien und Übersichtsarbeiten überein, die positive Einflüsse der Architektur bzw. des strukturellen Milieus psychiatrischer Kliniken auf Zwangsmaßnahmen, Wohlbefinden und Psychopathologie zeigen [4, 9, 24, 25, 33, 34]. Natürlich ist es meist nicht möglich, komplette Neubauten zu errichten. Wesentlich ist jedoch die Erkenntnis, dass eher indirekte Einflüsse wie die Architektur eine wichtige Rolle für die Qualität psychiatrischer Behandlung spielen, die trotz des Fokus auf die Qualität von Therapiemaßnahmen nicht vernachlässigt werden sollte. Notwendige Modernisierungen sollten nicht nur die baulichen Mängel beseitigen, um baulichen Standards zu entsprechen, sondern es sollten auch die strukturellen Rahmenbedingungen im Sinne des Patientenwohls verbessert werden. Schon einfache innenarchitektonische Veränderungen, wie z. B. Klinikräume mit Pflanzen auszustatten, können das Stressniveau senken [7]. Viele Arten der baulichen Neugestaltung können also einen positiven Effekt auf die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung haben, wofür eine Reduktion von Zwangsmaßnahmen nur einer von vielen Indikatoren ist.
Um Zwangsmaßnahmen gezielt zu reduzieren sind direktere Maßnahmen wie z. B. soziale Problemlöse- und Deeskalationstrainings des Personals [18] oder auch die Etablierung psychiatrischer Notfallteams [26] mögliche Mittel. Eine weitere innovative Maßnahme könnte das Konzept der offenen Türen auch auf psychiatrischen Akutstationen sein, da der Entzug von Freiheit und Autonomie problematisches Verhalten fördert [16] und Freiwilligkeit der Behandlung vor Zwangsmaßnahmen schützt [10].
Schlussfolgerungen
Unsere Studie zeigt, dass architektonische Verbesserungen wahrscheinlich dazu beitragen, die Anwendung von Zwangsmaßnahmen in einer psychiatrischen Klinik zu reduzieren. Positivere bauliche Rahmenbedingungen verbessern vermutlich die Befindlichkeit von Patienten und Personal und deren soziale Beziehungen, was wiederum eigen- oder fremdgefährdende Verhaltensweisen verringert, die zur Anwendung von Zwangsmaßnahmen führen. Damit sind Investitionen in zeitgemäße bauliche Maßnahmen in psychiatrischen Kliniken kein überflüssiger Luxus, sondern ein wichtiger Faktor, der die Qualität psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung erhöhen kann.
Fazit für die Praxis
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Trotz Einschränkungen des Studiendesigns zeigte sich, dass die architektonische Neugestaltung einer psychiatrischen Klinik die Anwendung von Zwangsmaßnahmen wahrscheinlich zu reduzieren hilft.
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Es ist zu vermuten, dass das positivere strukturelle Milieu des Neubaus das Befinden von Patienten und Personal sowie deren soziale Beziehungen verbesserte, sodass Zwangsmaßnahmen wegen Eigen- oder Fremdgefährdung seltener nötig wurden.
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Investitionen in zeitgemäße bauliche Maßnahmen in psychiatrischen Kliniken sind somit ein wichtiger Faktor, der die Qualität psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung erhöhen kann.
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Interessenkonflikt
T. Rohe, T. Dresler, M. Stuhlinger, M. Weber und A. J. Fallgatter geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. T. Strittmatter ist ausführender Architekt des Klinikneubaus.
Dieser Beitrag beinhaltet eine Beobachtungsstudie im Rahmen der medizinischen Routineversorgung von Menschen, aber keine Studien an Tieren.
Additional information
T. Rohe und T. Dresler teilen sich die Erstautorenschaft
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Rohe, T., Dresler, T., Stuhlinger, M. et al. Bauliche Modernisierungen in psychiatrischen Kliniken beeinflussen Zwangsmaßnahmen. Nervenarzt 88, 70–77 (2017). https://doi.org/10.1007/s00115-015-0054-0
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00115-015-0054-0