Wir sind der Ansicht, dass wir Leitlinien – hier am Beispiel der Leitlinien zur Diagnostik und Therapie bipolarer Störungen – entwickeln, anwenden und fortwährend weiterentwickeln sollten. Gründe hierfür möchten wir im Folgenden darlegen.

In der Diagnostik und Therapie psychiatrischer (hier speziell der bipolaren) Erkrankungen sowie in den zugehörigen Versorgungsstrukturen gab es in den letzten Jahrzehnten viele neue Ansätze und Erkenntnisse. Täglich werden Ergebnisse von Studien und Expertenansichten neu publiziert. Somit ist es für Therapeuten, und erst Recht für Patienten und Angehörige, gar nicht leicht, sich schnell einen Überblick darüber zu verschaffen, was die Grundlage individueller Entscheidungsprozesse bilden sollte. Die Kombination aus Evidenz- und Konsensbasierung, wie sie im höchsten Leitlinienentwicklungsniveau S3 der AWMF [1] gefordert wird, bietet eine besondere Chance, da hier eine systematische Bewertung des publizierten Wissensstandes vorgelegt wird und mit einem formalen, strukturierten Konsensusprozess über das Vorgehen unter Beachtung derselben und weiterer Gesichtspunkte (wie der Versorgungslage bzw. Verfügbarkeit, von Wünschen und Präferenzen der Betroffenen, ethischer Aspekte sowie allgemein anerkannter klinischer Praxis) verknüpft wird. Wesentlich ist die sehr frühe Einbindung aller für das jeweilige Themengebiet an der Versorgung Beteiligten und der Patienten- und Angehörigenverbände. Mit der gemeinsamen Entwicklung der Leitlinie wird so bereits im Prozess miteinander „gelernt“ und die Akzeptanz der Leitlinie könnte höher sein. Ein Beispiel für eine solche Leitlinienentwicklung im Trialog ist das Projekt der S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie bipolarer Störungen (http://www.leitlinie-bipolar.de, [2]). Bei den Professionellen sollten von Beginn an Kollegen aus Versorgungs- und universitären Einrichtungen sowie niedergelassene Kollegen involviert sein.

Leitlinien zeichnen Entscheidungs- und Handlungskorridore vor

Anforderungen an eine Leitlinie sind neben der Entwicklung auf höchstem, national und international anerkanntem methodischem Niveau und damit einhergehend einer weitgehend objektiven, klaren, unbeeinflussten Methodik, Evidenzbasierung und der erwähnten breiten Beteiligung aller Betroffenen bei der Konsensfindung vor allem folgende Punkte:

  • Angemessenheit (Nutzen vs. Schaden),

  • Aktualität,

  • Kürze und Übersichtlichkeit,

  • Praxisnähe und Umsetzbarkeit im Alltag,

  • Empfehlungen für spezielle Situationen und

  • Regionalität.

Die Aktualität ist nur über einen kontinuierlichen Update-Prozess zu erreichen, der bei der finanziellen Ausstattung von Leitlinienprojekten unbedingt mitgeplant werden muss. Regionalität ist vor allem vor dem Hintergrund unterschiedlicher Versorgungssysteme und Verfügbarkeiten therapeutischer Ansätze sowie divergierender Erfahrungen und Präferenzen der Professionellen und Betroffenen nötig.

Wichtig ist es, herauszustellen, was Leitlinien leisten können, aber auch, was sie nicht sind. Leitlinien können immer nur Hilfe zur Entscheidungsfindung bzw. Orientierungshilfe sein, sie zeichnen Entscheidungs- und Handlungskorridore vor. Von Empfehlungen abzuweichen ist in bestimmten Situationen nötig und sogar gefordert, denn „evidence-based medicine“ erwartet eine Anpassung des Entscheidungsprozesses an die individuelle Situation sowie an Erfahrungen und Präferenzen der involvierten Professionellen, Patienten und ggf. Angehörigen. Eine Leitlinie ist keine Richtlinie (welches eine Handlungsvorschrift mit bindendem Charakter wäre) und darf nicht im Rahmen von Leistungsverweigerung bzw. Rationierung missbraucht werden.

Um die Umsetzbarkeit und Akzeptanz einer Leitlinie zu untersuchen, bedarf es der Auswertung der Rückmeldungen über Erfahrungen in der Anwendung der Leitlinie. Qualitativ hochwertige Studien zur Überprüfung vor allem der Algorithmen zur Diagnostik und Therapie sind zu fordern (gerade da bspw. Algorithmen mit Kombinations- und Umstellungsempfehlungen oft auf wenig Evidenz fußen). Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die Studiendurchführung bei der Finanzierungsplanung für die Leitlinienentwicklung (ebenso wie die regelmäßigen Updates) bereits berücksichtigt werden müsste, um Zeitverzögerungen oder gar das Fehlen einer solchen Finanzierung zu vermeiden. Allein die Studiendauer bedingt jedoch bereits, dass diese Überprüfung nach der Veröffentlichung einer Leitlinie stattfinden muss, da sonst wiederum die Aktualität gefährdet ist.

Natürlich gibt es wesentliche mögliche Limitationen einer Leitlinie, die zu beachten sind. Diese beinhalten bspw. Auswirkungen durch:

  • getroffene Entscheidungen bezüglich der Methodik (u. a. Bewertung der Studienqualität, Einschluss von Studien mit [zu] geringer Power),

  • potenzielle Interessenkonflikte der Entwickler,

  • verzerrende Einflüsse in Gruppendiskussion,

  • inadäquate Berichterstattung über Studien (s. auch [4]),

  • unzureichende Erfassung und Berichterstattung zu Schadenspotenzialen,

  • unpublizierte Daten,

  • fehlende Sponsoreninteressen in bestimmten Themenbereichen

(s. auch [2, 3]).

Unser Fazit ist, dass Leitlinien zeitgerechte und wichtige Instrumente für die klinische Praxis sind, sofern sie nach oben diskutierten Gesichtspunkten entwickelt wurden, Limitationen beachtet und Rückmeldungen bzw. Studienergebnisse bezüglich der Umsetzbarkeit und Akzeptanz in Updates angemessen berücksichtigt werden. Wir werden das für uns Mögliche tun, um den Leitlinienentwicklungsprozess für die bipolaren Störungen trialogisch und produktiv fortzusetzen.