Traditionell wird der Begriff „Sucht“ mit der Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen wie Alkohol und anderen Drogen in Verbindung gebracht. Erst seit kurzem wird er auf eine Reihe problematischer Verhaltensweisen wie z. B. Glücksspielen, Internetgebrauch, exzessives Kaufen und sexuelle Aktivitäten angewendet. In diesem Artikel untersuchen wir, ob es sich hier um Süchte handelt und wo die Grenzen des Suchtbegriffes liegen.

Das Suchtkonzept

Das englische/französische Wort „addiction“ kommt vom lateinischen Verb „addicere“, was ursprünglich „Versklavung“ bedeutete. Die „Unfreiheit des Willens“ als zentrales Merkmal der Sucht spiegelt sich auch in den diagnostischen Kriterien der ICD-10 wider: Als Kernelement wird der Kontrollverlust angesehen. Der Betroffene hat Schwierigkeiten, die Einnahme zu kontrollieren bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums. Außerdem kommt es zu fortschreitender Vernachlässigung anderer Verpflichtungen, Aktivitäten, Vergnügen oder Interessen, d. h. das Verlangen nach der Substanz wird zum Lebensmittelpunkt. Der Gebrauch der Substanz(en) wird wider besseres Wissen und trotz eintretender schädlicher Folgen fortgesetzt. Des Weiteren berichten die Betroffenen über ein starkes, oft unüberwindbares Verlangen, die Substanz zu konsumieren (sog. „craving“). Entzug und Toleranzentwicklung sind Teile des „körperlichen“ Abhängigkeitssyndroms. Als Toleranz bezeichnet man das Phänomen, dass der Betroffene immer größerer Mengen der Substanz benötigt, damit die gewünschte Wirkung eintritt bzw. dass bei konstanter Menge die gewünschten Effekte ausbleiben [40], da der Körper neuroadaptiven Veränderungen unterliegt, die der Substanzwirkung entgegengesetzt sind. Wird die Substanz abgesetzt, kommt es zu Entzugssymptomen, die als Ausdruck der neuroadaptiven Prozesse des zentralen Nervensystems in Folge des Substanzkonsums verstanden werden können.

Konzept und Definition der Verhaltenssüchte

Erst in jüngster Vergangenheit wurde eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, die exzessiv betrieben zum Problem werden können, wie Glücksspielen, Essen, Sex, das Schauen von pornographischem Filmmaterial, PC- und Internetgebrauch, das Spielen von Videospielen und Einkaufen [33] als Verhaltenssüchte, diskutiert. „Verhaltenssucht, auch als nichtsubstanzassoziierte Sucht [10] bezeichnet, bezieht sich auf die Tatsache, dass sich zunächst normale, angenehme Tätigkeiten in unangepasste, immer wiederkehrende Verhaltensweisen verwandeln. Diese werden aufgrund eines quasi „unwiderstehlichen“ Verlangens, Anreizes oder Impulses, den das Individuum kaum kontrollieren kann, häufig ausgeführt, obwohl das Verhalten in dieser Intensität der Person und/oder anderen Schaden zufügt [9]. Die „Verhaltenssucht“ stellt eine chronische Erkrankung dar, bei der ein Risiko besteht, auch nach langen Abstinenzzeiträumen rückfällig zu werden.

Bei „Verhaltenssüchten“ werden analog zur „Substanzabhängigkeit“ auch Phänomene wie Entzugssymptome und Toleranzeffekte beobachtet [9]. Betroffene Individuen zeigen eine dysphorische Stimmung, wenn sie an der Ausübung des exzessiven Verhaltens gehindert werden, was als Entzugssymptom verstanden wird. Bei konstanter Zahl der Wiederholungen der entsprechenden Handlungen nehmen die begleitenden positiven Gefühlszustände ab oder aber die Intensität der Verhaltensweisen muss zunehmen, um ähnlich positive Effekte zu erzielen (d. h. Toleranzentwicklung, Tab. 1).

Tab. 1 Gegenüberstellung diagnostischer Merkmale für pathologisches Spielen und Substanzabhängigkeit. (Mod. nach [37])

Klassifikation der Verhaltenssüchte

In der Internationalen Klassifikation der Krankheiten 10. Revision [39] und dem Diagnostischen und Statistischen Manual für Psychische Störungen 4. Revision [1] ist derzeit nur das „pathologische Glücksspiel“ enthalten, welches aber nicht im Suchtkapitel, sondern als „Störung der Impulskontrolle“ eingeordnet wird. In der 5. Auflage des DSM werden die derzeitigen Kategorien Substanzmissbrauch und Abhängigkeit durch eine neue Kategorie Sucht und verwandte Störungen („addiction and related disorders“) ersetzt, welcher dann auch „Verhaltenssüchte“ mit „pathologischem Glücksspiel“ als einziger „Verhaltenssucht“ zugeordnet werden. „Internetabhängigkeit“ wird im Anhang aufgenommen, da die wenigen Studien noch keine klaren Zuordnungen erlauben. Dagegen wird die WHO in der ICD-11 nach Vorschlag der zuständigen Arbeitsgruppe wahrscheinlich neben „pathologischem Glücksspiel“ eine Sammelkategorie „Weitere Verhaltenssüchte“ einführen. Unter dieser Kategorie werden exzessiv betriebene Verhaltensweisen subsummiert, die die zentralen Suchtkriterien erfüllen (starkes Verlangen, Kontrollverlust, Fortführung des Verhaltens trotz negativer Konsequenzen etc.) und klinischer Aufmerksamkeit bedürfen. Hier soll nach dem derzeitigen Stand der Diskussion „Internetsucht“ eingeordnet werden können.

Nichtsubstanzassoziierte Sucht, Impulskontrollstörung oder Zwangsstörung?

Prinzipiell stellt sich die Frage, ob „Verhaltenssüchte“ mehr Ähnlichkeiten mit „Substanzabhängigkeit“ aufweisen oder ob sie den „Impulskontrollstörungen“ oder auch den „Zwangserkrankungen“ zuzuordnen sind [9, 12, 13, 36]. Diese sog. Sucht-Neurose-Debatte ist sowohl für die ätiologische als auch die therapeutische Perspektive auf „Verhaltenssüchte“ von Interesse [13, 22].

Die Polarisierung zwischen den verschiedenen Sichtweisen ist in den Hintergrund getreten

Die Betrachtung der „Verhaltenssüchte“ als Zwangsstörung stützt sich dabei auf die Analyse und therapeutische Bearbeitung der intrapsychischen wie interpersonellen Funktionalität des Symptomverhaltens [13], wobei der Vermeidung negativer Zustände durch das Verhalten eine tragende Bedeutung zukommt. Klassische Suchtmodelle sahen hingegen vor dem Hintergrund biologischer Aspekte die Erreichung und Erhaltung der Abstinenz als ein wesentliches Therapieprinzip an, was das unerwünschte Verhalten im Sinne eines Konsums beenden, nicht aber die Erkrankung heilen kann. Diese damalige Polarisierung zwischen den verschiedenen Sichtweisen ist aus aktueller wissenschaftlicher Perspektive in den Hintergrund getreten. Die epidemiologische wie neurowissenschaftliche Forschung konnte hier einen wichtigen Beitrag leisten: Überzeugende Übereinstimmungen zwischen „substanzgebundenen“ und „nichtsubstanzassoziierten Süchten“ wurden sowohl hinsichtlich des Krankheitsverlaufs (chronisch rezidivierender Verlauf mit höherer Verbreitung und Prävalenz unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen), der Phänomenologie (positive Verstärkerwirkung der Substanz oder des Verhaltens zumindest in den ersten Stadien der Störung, subjektives Craving, Toleranzentwicklung und Entzug), möglicher Komorbiditäten, des Behandlungsverlaufs als auch im Hinblick auf genetische Veranlagung und neurobiologischen Mechanismen berichtet [9, 11].

Hinsichtlich der gemeinsamen neurobiologischen Grundlagen aller Suchterkrankungen beschäftigt sich die aktuelle Forschung mit der Funktionsweise des dopaminergen, mesokortikolimbischen Belohnungssystems und auch der Rolle der Neurotransmitter Glutamat und Serotonin sowie der endogenen Opioide [28]. Details hierzu finden sich im Artikel von Kiefer et al. in diesem Heft. Bisher verfügbare Daten wurden primär an Glücksspielern und exzessiv das Internet nutzenden Individuen erhoben. Die Evidenz bezüglich anderer Verhaltensweisen, die exzessiv betrieben und problematisch entgleiten können, ist nicht ausreichend, um Schlussfolgerungen hinsichtlich einer möglichen Eingruppierung als „Verhaltenssüchte“ zuzulassen.

Aufgrund der Erweiterung moderner Suchtmodelle um den Aspekt der Entstehung und Aufrechterhaltung des Problemverhaltens vor einem lerntheoretischen Hintergrund [32] sowie um die neurobiologischen Mechanismen von gelerntem Konsumverhalten [28] finden sich auch hinsichtlich der Therapieimplikationen immer weniger Diskrepanzen der Suchtperspektive zum Neurosenmodell. So resultiert aus dem beiden Modellen gemeinsamen Verständnis von „Verhaltenssüchten“ als erlerntes Problemverhalten die Notwendigkeit, im therapeutischen Prozess den Aufbau alternativer psychischer und sozialer Ressourcen zu gewährleisten, um den Verzicht auf das Problemverhalten im Sinne eines Umlernprozesses effektiv zu unterstützen [15]. Charakteristisch für die Suchtperspektive auf „Verhaltenssüchte“ ist jedoch der Übergang von Reiz-Reaktions- und Verstärkungsbedingungen (operante und klassische Konditionierung), die das Problemverhalten fördern, hin zu automatisierten und neurobiologisch untermauerten Reaktionsmustern, sodass den tatsächlich erlebten Belohnungen im Verlauf der Krankheitsentwicklung deutlich geringere Bedeutung zukommt. Auch zeigt sich hier, dass eine zunehmende motivationale Fokussierung des zerebralen Belohnungssystems auf die Suchtsubstanz bzw. das exzessive Verhalten, wie es Nesse und Berridge [30] vorschlugen und wie es in neurobiologischen Studien unterstützt werden konnte, im späteren Krankheitsverlauf nicht gleichzusetzen ist mit dem subjektiven Erleben von Belohnung oder positiven Affekten (inklusive der Beendigung negativer Zustände).

Andere Perspektiven, die sich um eine Integration der verschiedenen Modelle bemühen, schlagen beispielsweise eine Einteilung von Personen mit „Verhaltenssüchten“ in Untergruppen vor, die je nach individueller Charakteristik eine Zuordnung zu den Süchten, Zwangsstörungen oder einer Mischung beider Aspekte vornimmt [3]. Auch existieren Überlegungen, „Verhaltenssüchte“ auf einem Kontinuum zu verorten, das sich zwischen den Polen Impulsivität und Zwanghaftigkeit aufspannt. Hierzu ist zu berücksichtigen, dass obwohl zwanghafte und impulsive Aspekte auch bei „Verhaltenssüchten“ zu beobachten sind, diese jedoch erheblich zwischen verschiedenen „Verhaltenssüchten“ [9] variieren. Zudem ist auch bei stoffgebundenen Abhängigkeiten eine erhöhte Impulsivität feststellbar [2], was eine geringere Trennschärfe der Konzepte nach sich ziehen kann. Entsprechend sind zunächst weitere Studien notwendig, welche die diskreten Anteile von impulshaftem und zwanghaftem Verhalten bei den verschiedenen „substanzgebundenen“ und „nichtsubstanzassoziierten Süchten“ in umfangreichen und gut charakterisierten Stichproben untersuchen.

Pro und Kontra Sucht am Beispiel exzessiver Verhaltensweisen

„Glücksspielsucht“ und pathologischer „Computer- und Internetgebrauch“ werden angesichts ihrer Häufigkeit und klinischen Bedeutung in eigenen Artikeln in diesem Heft behandelt (s. Böning et al. und Rehbein et al.).

Pathologisches Kaufen („Kaufsucht“)Footnote 1

Exzessives Kaufen („Kaufsucht“), früher auch unter dem Namen Oniomanie bekannt, wurde bereits vor über 100 Jahren beschrieben [21]. Die Betroffenen klagen über großes Leid, und auch in der Öffentlichkeit gibt es ein immer größeres Bewusstsein, dass „Kaufsüchtigen“ geholfen werden muss. Derzeit ist die „Kaufsucht“ in keinem der offiziellen Diagnosesysteme gelistet und soll auch nicht in die geplante 5. Auflage des DSM und die 11. Auflage des ICD aufgenommen werden.

Bei der Diagnosestellung ist das Fehlen einer Zweckgebundenheit beim Kaufen eines der zentralen Kriterien [24]. Die Betroffenen verlieren nach dem Kauf sehr schnell ihr Interesse an den Waren. Nicht selten, etwa in zwei Drittel aller Fälle, horten die Betroffenen die gekauften Güter zwanghaft [27]. Ein weiteres zentrales Merkmal der „Kaufsucht“ ist, dass es weniger um den Besitz und die Nutzung der Ware geht, als vielmehr um das positive Erleben während des Bestellens, Auswählens oder Einkaufens. Somit erfolgt das Kaufen nicht bedarfsgerecht und dient auch nicht der Bereicherung, sondern in erster Linie der Emotionsregulation.

O’Guinn und Faber [31] beschrieben den sog. zwanghaften Kaufzyklus, der aus folgenden Komponenten besteht:

  1. 1.

    Eine allgemeine Prädisposition zu Angstgefühlen und niedrigem Selbstbewusstsein, die sich kurz vor dem Verlangen einzukaufen verschlimmern;

  2. 2.

    impulsive Einkaufsepisoden, die mit Hochgefühl und Berauschtheit einhergehen;

  3. 3.

    Schuld- und Reuegefühle im Anschluss an die Einkaufsepisode und

  4. 4.

    einen erneuten Impuls einzukaufen, um den Gefühlen von niedrigem Selbstbewusstsein, Angst und Schuld, die sich während der Einkaufsepisoden gesteigert haben, zu entkommen.

Die Autoren schlugen folgende Definition für „Kaufsucht“ vor:

Die „Kaufsucht“ ist gekennzeichnet durch chronisch wiederkehrendes Einkaufen, welches die Hauptreaktion auf negative Ereignisse oder Gefühle darstellt und sehr schwer zu stoppen ist und letztendlich schädliche Konsequenzen für das Individuum hat.

Basierend auf einer Repräsentativerhebung scheinen 6 % der erwachsenen US-Bevölkerung die Kriterien für zwanghaftes Kaufverhalten zu erfüllen, wobei Frauen in dieser Untersuchung nicht häufiger betroffen waren als Männer. Deutsche Bevölkerungsbefragungen haben ergeben, dass die Kaufsuchtgefährdung hier ähnlich hoch eingeschätzt wird [26].

Untersuchungen zu Komorbiditäten von „Kaufsucht“ deuten darauf hin, dass 25–50 % der Individuen mit der Diagnose „Kaufsucht“ auch die Kriterien für Depression [9, 24] und 44 % die Kriterien für eine Angststörung [25] erfüllen. Des Weiteren weisen 4–35 % die Begleitdiagnose Zwangsstörung und 10–45 % Substanzabhängigkeit auf [24].

Bislang existiert nur eine Bildgebungsstudie zur „Kaufsucht“ [35]. Hier wurden 23 „kaufsüchtige“ Patientinnen und 26 gesunde Frauen während einer simulierten Kaufentscheidung mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRI) untersucht. Während der Produktpräsentation zeigten „kaufsüchtige“ Frauen eine höhere Aktivierung im Nucleus accumbens als die nichtkaufsüchtigen Kontrollpersonen, wenn sie Waren sahen, die sie gern erwerben wollten, was von den Autoren als stärkeres „wanting“ (Verlangen/Craving) bei den kaufsüchtigen Frauen interpretiert wurde. Kaufsüchtige Probandinnen zeigten zudem eine geringere Aktivierung in der Insularegion, wenn die Preise für die Waren gezeigt wurden, die sie später konsumieren wollten, verglichen mit den Waren, die sie nicht kaufen wollten. Dieses Resultat beurteilten die Autoren als einen Hinweis auf ein geringeres Verlustempfinden für Geld bei den kaufsüchtigen Teilnehmerinnen.

Obwohl zwanghaftes Kaufverhalten historisch gesehen als Impulskontrollstörung eingeordnet wurde, argumentieren einige Forscher, dass die Erkrankung zu den Zwangsspektrumsstörungen zu rechnen sei, während andere die Ähnlichkeit zu Substanzabhängigkeit betonen. Croissant und Kollegen [5] konnten zeigen, dass exzessives Einkaufen ähnlich wie Substanzabhängigkeit einen „Belohnungskreislauf“ aktiviert. Ein Argument gegen das Konzept der „Kaufsucht“ ist, dass es sich beim exzessiven Warenkonsum lediglich um schlechte Geldmanagementfertigkeiten handelt, die durch einen Mangel an finanziellem Bewusstsein gepaart mit leichter Beeinflussbarkeit durch Werbung hervorgerufen werden. Schuldenberatung wird häufig als Ausweg angeboten, um das Überziehen des Bankkontos in den Griff zu bekommen. Eine Zuordnung zu den Verhaltenssüchten könne zur Folge haben, dass der Beratungsbedarf über den Umgang mit Geld vernachlässigt wird [8].

Exzessives Sexualverhalten („Sexsucht“)Footnote 2

In den aktuellen Versionen von ICD und DSM sind die Klassifikationsmöglichkeiten für exzessives Sexualverhalten unzureichend. In der ICD-10 kann lediglich die Diagnose „gesteigertes sexuelles Verlangen“ (F52.8) vergeben werden, die allerdings nicht weiter spezifiziert werden kann. Im DSM-IV-TR besteht die Möglichkeit, entsprechende Verhaltensweisen entweder als „nicht näher bezeichnete sexuelle Störung“ (302.90) einzuordnen oder in Anlehnung an das pathologische Glücksspiel als „nicht näher bezeichnete Impulskontrollstörung“ (312.30) zu klassifizieren. Für die kommende 5. Revision des DSM hat die Arbeitsgruppe für die Sexual- und Geschlechtsidentitätsstörungen [16] die Einführung einer Kategorie „hypersexuelle Störung“ vorgeschlagen.

Sowohl im deutschsprachigen Raum als auch in den USA gehen die Schätzungen von Prävalenzraten zwischen 3 und 6 % aus [11]. Die Kinsey-Untersuchungen [20] berichteten, dass bei 7,6 % der bis 30-jährigen Männer die Anzahl beliebig herbeigeführter Orgasmen pro Woche für mindestens 5 Jahre ≥7 betrug. Auch eine schwedische Untersuchung [23] gelangte zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich der Raten von exzessivem Sexualverhalten. Von insgesamt 1279 befragten Männern und 1171 Frauen wurden 12,1 % der Männer und 7,0 % der Frauen als „hochgradig hypersexuell“ eingestuft. Einschränkend bei all diesen Studien ist allerdings anzumerken, dass die Häufigkeit sexueller Aktivität allein nicht ausreicht, um ein Verhalten als pathologisch einzustufen.

Bezüglich bestehender Komorbiditäten bei Personen mit exzessiven Sexualverhalten zeichnet sich in der begrenzten Anzahl an Studien ein recht heterogenes Bild ab. In Punktprävalenzstudien wies jeweils ein signifikanter Anteil der Betroffenen gar keine bzw. nur marginale Anzeichen für psychische Auffälligkeiten auf, während ca. 20–40 % deutlichere Symptome psychischer Erkrankungen erkennen ließen, insbesondere affektive und interpersonelle Störungen. Bei Betrachtung der Lebenszeitprävalenz zeigen sich als Hauptkomorbiditäten vor allem affektive Störungen (v. a. Dysthymie), die bei bis zu 60 % auftraten, gefolgt von Substanzabhängigkeiten, Angststörungen und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.

Die Angaben zum Geschlechterverhältnis variieren zwischen den Studien stark. Dies lässt sich dadurch erklären, dass bisher überwiegend nur Schätzwerte sowie Daten aus Online-Umfragen und unsystematischen Studien vorliegen. Schätzungen gehen von einem Verhältnis von Männern zu Frauen von 3:1 bis 5:1 aus [4]. Der Prozentsatz der Frauen unter den „hochgradig Hypersexuellen“ in der Studie von Långström und Hanson [23] lag bei 37 %. In anderen Umfragen und Online-Studien lag der Anteil von Frauen, die von einer Hypersexualität berichteten, zwischen 8 und 20 % [18]. Die kritischen Verhaltensmuster von Frauen und Männern scheinen sich deutlich zu unterscheiden. Bei Frauen steht promiskuitives Verhalten und Online-Chats und Kontakte im Vordergrund. Problembereiche bei Männern sind hingegen Pornographie und Masturbation.

Tierexperimentelle Studien und Bildgebungsstudien zu sexuellem Verhalten bei gesunden Menschen legen nahe, dass bei exzessivem Sexualverhalten ähnliche strukturelle und funktionelle Veränderungen des mesokortikolimbischen Belohnungssystems zu beobachten sind wie bei der Substanzabhängigkeit und anderen Verhaltenssüchten [2, 38]. Allerdings liegen bislang keine hinreichenden Erkenntnisse zu neurobiologischen Mechanismen bei Menschen mit exzessivem sexuellem Verhalten vor. Eine einzelne Pilotstudie deutet auf strukturelle Veränderungen in frontalen Hirnregionen hin, die gemäß der Autoren auch bei anderen Verhaltenssüchten zu beobachten sind, jedoch sind die Befunde aufgrund der methodischen Einschränkungen hinsichtlich ihrer Spezifität für exzessives Sexualverhalten nicht hinreichend interpretierbar.

Eine Zuordnung zum Erklärungsmodell der Sucht ist weiter umstritten

Zusammenfassend sprechen sowohl bei Betrachtung von Symptomatik und Verhaltensebene als auch bei Berücksichtigung der Belege für ein gemeinsames neurobiologisch-pathophysiologisches Substrat etliche Aspekte für eine Zuordnung exzessiven Sexualverhaltens zum Erklärungsmodell der Sucht. Gegen diese Zuordnung wird oft eingewendet, dass Entzugssymptome und Toleranzentwicklung bei exzessivem Sexualverhalten in wirklich vergleichbarer Form nicht hinreichend belegt sind. Darüber hinaus wird die Heterogenität von Erscheinungsformen, Persönlichkeitstypen, ätiopathogenetischen Faktoren und Verlaufsformen exzessiven Sexualverhaltens gegen eine alleinige Einordnung als Sucht ins Feld geführt.

Pathologisches Essverhalten („Esssucht“)Footnote 3

„Esssucht“ ist derzeit weder im ICD-10 noch im DSM-IV als Störung anerkannt und es besteht keine Übereinstimmung zwischen Experten, ob sie in zukünftigen Auflagen Eingang in die Diagnosesysteme finden soll. Jedoch soll „binge eating disorder“ in der Kategorie „feeding and eating disorders“ als eigenständige Diagnose in der 5. Auflage des DSM aufgenommen werden.

Bei der „binge eating disorder“ handelt es sich um eine Störung des Essverhaltens, bei der im Rahmen von Essanfällen, die vom Gefühl des Kontrollverlusts begleitet sind, große Mengen an Nahrungsmitteln konsumiert werden. Im Unterschied zur „Bulimie“ verbleibt die Nahrung, die während einer Essattacke aufgenommen wird, im Körper. Die Betroffenen ergreifen keine gewichtsregulierenden Gegenmaßnahmen wie Erbrechen, Abführmittelkonsum, Hungern oder intensives Sporttreiben [6]. Entsprechend ist die Binge-Eating-Störung häufig mit Übergewichtigkeit oder Adipositas assoziiert.

Gesundheitsprobleme, die durch Adipositas verursacht werden, sind volkswirtschaftlich von enormer Bedeutung. Aktuelle Anstrengungen, die Bevölkerung zu motivieren, auf eine gesunde Ernährung zu achten, scheinen jedoch nur von begrenzter Wirksamkeit. In den vergangenen Jahren kumulieren Hinweise aus der neurowissenschaftlichen Forschung, dass neuronale Netzwerke und neuropsychologische Mechanismen des Belohnungslernens, die charakteristisch für Suchterkrankungen sind, auch in die Entstehung und Aufrechterhaltung der Adipositas involviert sind. Hier besteht aktuell jedoch noch weiterer Forschungsbedarf.

Grenzen des Suchtbegriffs

Was folgt daraus, dass pathologisches Spielen, exzessives Nutzen des Internets oder ruinöses Kaufen als Sucht klassifiziert werden? Einerseits kann ein für die Betroffenen leidvoller Zustand dann als Störungsbild verstanden werden, wenn dessen Therapie durch die Solidargemeinschaft aller Krankenversicherten erstattet wird. Andererseits besteht die Gefahr der Pathologisierung von Verhaltensweisen, die eigentlich im Belieben der einzelnen Individuen stehen sollten. Denn anhand welcher Kriterien werden einzelne, leidenschaftlich verfolgte Verhaltensweisen als Süchte bezeichnet und andere nicht? Macht es Sinn, bei jedem hingebungsvollen Forscher, der Nächte lang arbeitet, von Arbeitssucht zu sprechen? Oder werden als Süchte nur all jene Verhaltensweisen bezeichnet, die für die Betroffenen negativ sind? Aber wer legt fest, was für eine Person zuträglich und was ihr abträglich ist. Die Gesellschaft? Die herrschende Moral? Oder gibt es Kriterien, die einigermaßen objektivierbar sind? Denn Letztere erscheinen nötig, wenn man es nicht in das Belieben des jeweiligen Zeitgeistes stellen will, ob eine Gesellschaft die freiheitlichen Errungenschaften der Moderne im Sinne der Gestaltung des eigenen Privatlebens, der sexuellen Vorlieben, der Verwendung eigener Einkünfte oder der Gestaltung der eigenen Freizeit reglementieren und pathologisieren darf.

Bezüglich der stoffgebundenen Suchterkrankungen ist die Frage leichter zu beantworten, was denn als Abhängigkeitserkrankung gelten soll und was nicht. Denn die zentralen Kriterien der Toleranzentwicklung und Entzugssymptomatik erklären sich daraus, dass sich das zentrale Nervensystem des betroffenen Individuums so sehr an die Droge gewöhnt hat, dass ein Leben ohne sie nur um den Preis teilweise lebensbedrohlicher Entzugserscheinungen zu haben ist. Die Schädlichkeit der Drogen wird so unmittelbar für alle Beteiligten deutlich. Neurobiologisch ist mit schweren Entzugserscheinungen meistens eine Toleranzentwicklung gegenüber den sedierenden und damit zentralnervös inhibierenden Wirkungen der Drogen verbunden, sodass es beim plötzlichen Absetzen der Drogen zu einem zentralnervösen Ungleichgewicht und einer erhöhten Erregbarkeit des Gehirns führt, die im Delir akut lebensbedrohlich werden kann.

Nichtstoffgebundene Suchterkrankungen wirken aber vor allem auf motivationale Systeme ein, sodass hier die neuroadaptiven Veränderungen und die Entzugssymptome in aller Regel milder verlaufen. Als zentrale Kriterien der Suchterkrankung verbleiben also das starke Verlangen nach der Tätigkeit, die verminderte Kontrolle über das Verhalten und die schädlichen Wirkungen für den Einzelnen, die wiederum kaum unabhängig von der gesellschaftlich vorherrschenden Moral bewertet werden können. In dieser Situation können zwei Überlegungen helfen: Einerseits eine Reflexion des Krankheitsbegriffes und andererseits ein gezielter Rückblick auf frühere Versuche, Suchterkrankungen von Leidenschaften abzugrenzen.

Die Vielfältigkeit des Verhaltens ist ein wesentliches Kennzeichen des Menschen

Bezüglich des Krankheitsbegriffes ist es sinnvoll, Leitsymptome wie das Verlangen nach einer Substanz oder eines bestimmten Verhaltensmusters oder die verminderte Kontrolle über dieses Verhalten nur dann als objektivierbare Symptome einer Erkrankung zu verstehen, wenn sie wesentliche Funktionen des betroffenen Organs, in diesem Fall des Gehirns, einschränken. Da menschliches Leben und Verhalten so vielfältig ist und sich in den unterschiedlichsten kulturellen und sozialen Mustern zeigt, muss jede Definition wesentlicher zentralnervöser Funktionen soweit wie möglich kulturell übergreifend formuliert werden können. Ein entsprechender Ansatz geht davon aus, dass die Vielfältigkeit menschlichen Verhaltens selbst ein wesentliches Kennzeichen des Menschen ist, sodass deren Einschränkung durch das überstarke Verlangen nach einer Tätigkeit und die verminderte Kontrolle über diese Tätigkeit auf Kosten vielfältiger anderer Handlungsweisen als wesentliche Einschränkung und damit als objektives Krankheitszeichen gelten kann [15]. Als Kennzeichen einer Erkrankung sollten solche objektivierbaren Funktionsstörungen aber darüber hinaus nur dann gewertet werden, wenn sie entweder subjektiv mit einem ausgeprägten Leidenszustand auf Seiten des Betroffenen verbunden sind oder ganz basale Tätigkeiten beeinträchtigen, die für das alltägliche Leben notwendig sind (sowie die Körperpflege oder die Nahrungsaufnahme). Wer also, wie in Einzelfällen berichtet, dass Internet so exzessiv nutzt, dass er oder sie sich durch mangelnde Nahrungsaufnahme und Körperhygiene schädigt, kann Anspruch darauf erheben, als „krank“ wahrgenommen zu werden und therapeutische Leistungen einfordern, die vom Krankenversicherungssystem erstattet werden können.

Bezüglich des Suchtbegriffes wird hier, wie bereits zu Beginn des Artikels anhand der Herkunft des Begriffes dargelegt, auf die für das Individuum schädliche Einschränkung wesentlicher Verhaltensweisen abgehoben. In ganz ähnlicher Form wurden auch früher schon Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen thematisiert. So postulierte beispielsweise Kant, dass die eigentlichen Suchterkrankungen dann gegeben seien, wenn „ein Mensch den andren bloß zum Mittel seiner Zwecke macht“ [17]. Typische Beispiele dafür waren für Kant die Herrsch- und Habsucht. Auch hier wird ein Verlust an vielfältigen Verhaltensweisen beschrieben, der in diesem Fall den Kontakt zu den Mitmenschen einengt und seiner eigentlichen Qualität beraubt. Dass hier ein Verlust vorliegt, wird dann besonders deutlich, wenn der starke Drang nach der suchtartigen Verhaltensweise den Betroffenen selbst unangenehm ist und sie sich eigentlich wünschen würden, ganz anders zu handeln. Diesen Widerspruch hat beispielsweise Harry Frankfurt [7] thematisiert. Allerdings sind beim Menschen unbewusste und bewusste, unreflektierte und reflektierte Wünsche oft so eng miteinander verknüpft, dass eine klare Trennung in eine suchtrelevante, dranghafte Begierde einerseits und die reflektierte Stellungnahme der betroffenen Personen andererseits den komplexen Gegebenheiten kaum gerecht wird. Es ist aber plausibel anzunehmen, dass es zu den wesentlichen Fähigkeiten aller Menschen gehört, sich vom aktuellen Geschehen zumindest zeitweise zu distanzieren und sich zumindest kurzfristig dem Strudel der Ereignisse und eigenen Befindlichkeiten soweit zu entziehen, dass eine reflektierte Stellungnahme möglich wird [34].

Entscheidend für die Frage, ob suchtartiges Verhalten vorliegt, ist also nicht die vermeintliche Wertigkeit der Handlungen, „ob ein Mensch leidenschaftlich liebt, Briefmarken sammelt oder am Computer spielt“, steht ihm frei. Entscheidend ist aber, ob sich solche Verhaltensweisen auf Kosten aller anderen Verhaltensmöglichkeiten durchsetzen und ob insbesondere der flexible Kontakt zu den Mitmenschen verloren geht.

Fazit für die Praxis

  • Vor dem geschilderten Hintergrund und in Anbetracht der skizzierten Befunde schlagen wir in Einklang mit der geplanten ICD-11 vor, sowohl das exzessive Glücksspiel als auch die exzessive Computer- und Internetnutzung den „Verhaltenssüchten“ zuzurechnen. Bei den anderen geschilderten Verhalten erscheint uns die Datenlage nicht ausreichend für eine schlüssige Einordnung.

  • Aufgrund von Studienergebnissen und insbesondere auch Einzelfallschilderungen kann angenommen werden, dass z. B. das exzessive Kaufen bei bestimmten Individuen Suchtcharakter annimmt und das Suchtmodell damit auch einen aussichtsreichen therapeutischen Zugang erlaubt.

  • Dies gilt zumindest in Einzelfällen auch bei exzessivem Sexualverhalten und bei Adipositas.