Zusammenfassung
Diese Expertenempfehlungen beschreiben das Dysphagiemanagement in der akuten Schlaganfallphase, wobei das Hauptziel die Minimierung des Risikos von Aspirationspneumonien (AP) darstellt. So früh wie möglich soll durch Pflegepersonen oder Ärzte das standardisierte Schluckassessment (SSA) durchgeführt werden. Danach erfolgen durch Sprachtherapeuten/Logopäden klinische Schluckuntersuchungen, bestehend aus der Erfassung von Aspirations- und AP-Prädiktoren sowie von faziooralen und pharyngolaryngealen Funktionen. Abhängig vom Ergebnis dieser Untersuchungen ist eine Videoendoskopie oder Videofluoroskopie des Schluckens indiziert. Basierend auf diesen Befunden kann u. a. die Indikation zur Oralisierung oder enteralen Ernährung gestellt werden; das AP-Risiko kann minimiert werden. Als Entscheidungshilfen für das diagnostische und therapeutische Vorgehen werden Algorithmen präsentiert.
Summary
This article describes expert recommendations on the management of patients with acute stroke, who might suffer from dysphagia. The main goal is to reduce the risk of aspiration pneumonia (AP). Nurses or physicians should perform the standardized swallowing assessment (SSA) as soon as possible and speech-language therapists have to perform examinations comprising assessment of predictors for aspiration and for AP as well as the clinical swallowing assessment. Dependent on the results, flexible endoscopic or video fluoroscopic evaluation of swallowing has to be performed so that indications for enteral or oral feeding can be made. Furthermore, the risk of AP can be minimized. This article presents algorithms which enable decision-making with regard to diagnostic and therapeutic measures.
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In der akuten Schlaganfallphase können neurogene Dysphagien u. a. zu Aspirationspneumonien führen – der häufigsten Todesursache aller medizinischen Schlaganfallkomplikationen. Das Ziel dieser auf Anregung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) entstandenen Expertenempfehlungen ist es, durch diagnostische und therapeutische Verfahren die Morbidität, Letalität und das kurz- und längerfristige Outcome – sofern sie dysphagiebedingt sind – zu minimieren bzw. zu verbessern. Dabei sind Personen aller Berufsgruppen angesprochen, die an der Behandlung der Patienten mit akutem Schlaganfall beteiligt sind.
Unter akutem Schlaganfall werden im Folgenden Hirninfarkte sowie intrazerebrale Blutungen subsumiert (Ziffern I63 und I61 der ICD-10-GM 2012) und zwar „innerhalb der ersten 72 h“ (entsprechend Ziffer 8-981.0 „Neurologische Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls“ der OPS [Operationen-und-Prozedurenschlüssel]-Version 2012: „mindestens 24 bis höchstens 72 h“). Die Empfehlungen gelten aber auch für die Phase auf Stroke-Units (oder vergleichbaren Einrichtungen) nach diesem 3-Tages-Zeitraum. Es wurden möglichst randomisiert-kontrollierte Studien (RKS), (systematische) Übersichten, Cochrane-Reviews und Leitlinien von Nachbardisziplinen berücksichtigt, so z. B. die aktuellste Version der S3-Leitlinie „Enterale Ernährung bei Patienten mit Schlaganfall“ (http://www.awmf.org). Die Empfehlungen lehnen sich teilweise an die schottische Leitlinie „Management of patients with stroke: identification and management of dysphagia“ des Jahres 2010 (http://www.sign.ac.uk/pdf/sign119.pdf) an. Die Konsensfindung fand zwischen Experten verschiedener Berufsgruppen, die alle auf Schlaganfalleinrichtungen tätig sind, bei insgesamt 5 Treffen zwischen 2010 und 2012 statt.
Im Folgenden bedeutet „Penetration“ das Eindringen von Material (Speichel, Sekret, Nahrung etc.) in den Aditus laryngis oberhalb der Stimmlippen und „Aspiration“ das Eindringen bis unter das Glottisniveau; Empfehlungsstärken werden durch „soll“, „sollte“ bzw. „kann“ zum Ausdruck gebracht.
Epidemiologie
Nach einem Cochrane-Review leiden in der akuten Schlaganfallphase 27–50% der Betroffenen an einer neurogenen Dysphagie (ND), die Hälfte davon bleibt längerfristig dysphagisch [2]. In einer Studie [20], die die Videofluoroskopie des Schluckens (VFS) als diagnostischen Goldstandard verwendete, betrugen in den ersten 7 Tagen ND bzw. Aspirationen 64% bzw. 22%. Aspirationspneumonien (AP) sind die häufigste Todesursache aller medizinischen Schlaganfallkomplikationen [30]. Eine Multicenterctudie zeigte, dass die AP-Häufigkeit in der akuten Schlaganfallphase durch systematisches Screening von 5,4 auf 2,4% reduziert wurde [14]. Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schlaganfallregister (ADSR) setzt konsequenterweise unter den Qualitätsindikatoren der akuten Schlaganfallversorgung für die Zielbereiche „Screening für Schluckstörungen“ bzw. „frühzeitige Rehabilitation – Logopädie“ 90% bzw. 80% an [13].
Dysphagiescreening: standardisiertes Schluckassessment
Die limitierte Verfügbarkeit qualifizierter Sprachtherapeuten/Logopäden in Krankenhäusern erschwert eine ausführliche und frühzeitige (zu jeder Tages- und Nachtzeit) Untersuchung der Betroffenen. Aus diesem Grund wurde von Perry das „standardized swallowing assessment“ (SSA) zur Erhebung durch Pflegepersonen in den ersten 24 h nach Schlaganfall entwickelt (Sensitivität bzw. Spezifität zum Nachweis einer ND 97% bzw. 90%; [25, 26]).
Das auch in der oben genannten schottischen Leitlinie verwendete SSA soll von Pflegekräften oder Ärzten zur Identifikation von Risikopatienten so früh wie möglich durchgeführt werden. Der Algorithmus ist in Abb. 1 dargestellt [12].
Anstelle des SSA kann auch das GUSS („Gugging swallowing screen“), das neben Sprachtherapeuten/Logopäden ebenfalls für Pflegepersonen entwickelt wurde [33], in den Algorithmus eingebaut werden.
Klinische Untersuchungen durch Sprachtherapeuten/Logopäden
Bei pathologischem SSA-Ergebnis soll baldmöglichst eine ausführliche klinische Untersuchung durch Sprachtherapeuten/Logopäden erfolgen; bis dahin gilt orale Nahrungskarenz (NPO, „nil per os“).
Im Folgenden werden unter „klinische Untersuchungen“ immer die Erfassung von Aspirationsprädiktoren, des AP-Risikos sowie die klinische Schluckuntersuchung (KSU) im engeren Sinne subsumiert.
Erfassung von Aspirationsprädiktoren („2 aus 6“)
Daniels et al. [7] untersuchten 59 akute Schlaganfallpatienten (innerhalb von 5 Tagen nach stationärer Aufnahme) klinisch (diagnostischer Goldstandard: VFS). Aufgrund der Studienergebnisse ist bei Vorhandensein von ≥ 2 von 6 Variablen (Abb. 2) von einer Aspiration auszugehen (Sensitivität bzw. Spezifität: 92,3% bzw. 66,7%). Im angloamerikanischen Sprachgebrauch wird inzwischen die Bezeichnung „two out of six“ verwendet, im Deutschen der Begriff „2 aus 6“. Der Algorithmus zur Erfassung von Aspirationsprädiktoren ist Abb. 2. zu entnehmen.
Erfassung des Aspirationspneumonierisikos
In einer prospektiven Studie [30] an 412 Schlaganfallpatienten wurden folgende 5 Prädiktoren einer AP ermittelt:
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Alter > 65 Jahre,
-
Dysarthrie oder aufgehobene Sprachproduktion durch Aphasie,
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Score der mRS (modifizierte Rankin-Skala) ≥ 4; international gebräuchliche Schlaganfallskala mit einem Score zwischen 0 und 6; 0 = keine Symptome, 1 = keine wesentliche Funktionseinschränkung trotz Symptomen, 2 = geringgradige Funktionseinschränkung, 3 = mäßiggradige Funktionseinschränkung, 4 = mittelschwere Funktionseinschränkung, 5 = schwere Funktionseinschränkung, 6 = Tod; Details s. Berger et al. [3],
-
Score des AMT (Abbreviated Mental Test) < 8; Kurzform einer Skala zur Erfassung kognitiver Leistungen (Orientierung, Allgemeinwissen, Gedächtnis sowie basale Aufmerksamkeitsleistungen) mit einem Score zwischen 0 und 10; 10 Items (1 = ungestört, 0 = gestört); Details s. Hodkinson [15], deutsche Version in [18] und in der App „MedCalc“,
-
pathologischer Wassertest (s. oben „2 aus 6“).
Bei Vorliegen von ≥ 2 dieser Risikofaktoren betrugen die Sensitivität bzw. Spezifität hinsichtlich der Entwicklung einer AP 90,9% bzw. 75,6%. Darüber hinaus sind schlechte oralhygienische Verhältnisse ein Risikofaktor für das Auftreten von AP; so erleiden zahnlose Menschen oder solche mit „aggressiver“ Oralhygiene seltener eine AP [21].
Klinische Schluckuntersuchung
In Ermangelung validierter deutschsprachiger KSU-Protokolle hat die jeweilige Institution zu entscheiden, welche KSU sie verwendet und wie aufwendig sie die Untersuchung faziooraler und pharyngolaryngealer Funktionen gestaltet. (In Anlehnung an das Verfahren nach Logemann [19] kann vom Korrespondenzautor eine deutsche Übersetzung, die noch einer Validierung bedarf, angefordert werden.)
Aus einem pathologischen Ergebnis der oben genannten klinischen Untersuchungen leitet sich die Indikation zur apparativen Untersuchung sowie einer (zumindest vorübergehenden) Nahrungskarenz (NPO) ab. Patienten mit normalem Ergebnis können oralisiert werden. Treten unter der Oralisierung irgendwelche Auffälligkeiten auf, sind die klinischen Untersuchungen zu wiederholen oder bei Verfügbarkeit apparative Verfahren durchzuführen.
Apparative Untersuchung des Schluckens
Weder das SSA noch die drei klinischen Untersuchungen ermöglichen eine ausreichende Einschätzung der ND hinsichtlich Schweregrad, zugrunde liegender Pathophysiologie sowie konkreter Therapieempfehlungen [9]. Hierfür eignen sich die videoendoskopische Untersuchung des Schluckens (FEES, „flexible endoscopic evaluation of swallowing“) [16] und/oder die videofluoroskopische Untersuchung des Schluckens (VFS) [32].
FEES
Bei der FEES (Ziffer „1-613: Evaluation des Schluckens mit flexiblem Endoskop“ der OPS-Version 2011) wird ein flexibles Nasopharyngolaryngoskop über den unteren Nasengang in den Pharynx eingeführt [16]. Eine FEES sollte von einem Arzt gemeinsam mit einem Sprachtherapeuten/Logopäden durchgeführt werden und ist beim Therapiemonitoring bez. des Outcomes (AP) der VFS nicht unterlegen [1]. In der Regel kommt es zu keiner klinisch relevanten Verschlechterung kardiorespiratorischer Parameter wie Blutdruck, Herzfrequenz oder Sauerstoffsättigung.
Eine FEES kann innerhalb der ersten 24 h nach einer Thrombolyse (am Krankenbett!) durchgeführt werden, ohne dass sich die Komplikationsrate (einschließlich Epistaxis) erhöht; es ist nicht erforderlich, eine liegende Magensonde vor Beginn der FEES zu entfernen [10]. Durch die Gabe verschiedener Konsistenzen kann unter Sicht festgelegt werden, welche diätetischen Maßnahmen einzuleiten sind. Da eine endoskopisch nachweisbare Sekret-/Speichelansammlung im Aditus laryngis ein Prädiktor für Aspiration von Nahrung oder Flüssigkeit ist [23], sollte bei diesem Befund keine Oralisierung erfolgen. Andernfalls ist bei ausreichender Kognition und Vigilanz eine Oralisierung unter Einsatz von Reinigungsmaßnahmen (Räuspern, Husten, Nachschlucken) möglich. Mit dem für akute Schlaganfallpatienten entwickelten Fiberoptic Endoscopic Dysphagia Severity Score (FEDSS) [11] wird zunächst das Schlucken von Speichel und dann von drei verschiedenen Konsistenzen überprüft; um die Aspirationsgefahr zu minimieren, wird die Endoskopie auf jeder der Konsistenzstufen beendet und die nachfolgende Konsistenz nicht mehr verabreicht, sobald Penetrationen und/oder Aspirationen nachgewiesen werden (Abb. 3).
VFS
Da die Bewegungssequenzen des oropharyngealen Schluckens schnell ablaufen und zahlreiche Bewegungsvorgänge zu beurteilen sind, ist bei dieser modifizierten Röntgenuntersuchung eine Bildaufnahmerate von 25 bis 30 Bildern/s erforderlich. Die VFS soll gemeinsam von einem Sprachtherapeuten/Logopäden und einem Radiologen (oder anderweitig qualifizierten Arzt mit Fachkunde Strahlenschutz) durchgeführt werden. Als Protokolle eignen sich im deutschsprachigen Raum z. B. der Karlsbader Videofluoroskopie-Index (KVI; [32]) oder der New Zealand Index zur Multidisziplinären Evaluation des Schluckens (NZIMES; [24]). Die Erfassung von Aspiration oder Penetration gelingt in der Regel auch weniger erfahrenen Beurteilern. Die fachgerechte Ableitung schlucktherapeutischer Schritte ist jedoch nur dann möglich, wenn der Beurteiler entweder Erfahrung mit der VFS besitzt – in Deutschland bislang keine Vorgaben – und einen Bildanalysestandard (z. B. KVI, NZIMES) einsetzt oder das Bildmaterial zur Auswertung an einen Experten sendet. (Zur Intra- und Interraterreliabilität der VFS s. [22].)
FEES oder VFS?
In der akuten Schlaganfallphase ist die FEES aus zahlreichen Gründen der VFS vorzuziehen und fast immer ausreichend; außerdem ist eine VFS an vielen Akutkrankenhäusern in Deutschland nicht verfügbar. Die beiden Methoden ergänzen sich: So zeigte z. B. eine vergleichende Studie, dass durch FEES-Penetrationen und mittels VFS der Schweregrad von Aspirationen besser eingeschätzt werden können [6]. Zu den jeweiligen Vor- und Nachteilen der beiden Verfahren s. [27].
Dokumentation apparativer Untersuchungsergebnisse
Bei Durchführung von FEES oder VFS soll der Schweregrad der ND mit der Penetrations-Aspirations-Skala (PAS; Tab. 1) dokumentiert werden, bei FEES zusätzlich der FEDSS (Abb. 3). Das alltagsrelevante Ausmaß der Schluckbeeinträchtigung sollte mit der Schluckbeeinträchtigungsskala (SBS; [28]) erfolgen:
-
0 – voll-orale Ernährung ohne Einschränkung;
-
1 – voll-orale Ernährung mit Kompensation (Schluckmanöver, Haltungsänderungen);
-
2 – voll-orale Ernährung mit Konsistenzeinschränkung;
-
3 – voll-orale Ernährung mit Kompensation und Konsistenzeinschränkung;
-
4 – partiell-orale Ernährung;
-
5 – partiell-orale Ernährung mit Kompensation;
-
6 – Ernährung über Sonde.
Therapeutische Interventionen
Oralhygienische Maßnahmen
Aspirationen sind eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine AP. Vielmehr spielen schlechte oralhygienische Verhältnisse mit vermehrter/veränderter bakterieller Besiedelung sowie geschwächter Immunabwehr eine wichtige Rolle, außerdem Unselbstständigkeit bei der Nahrungszufuhr, Zahl kariöser Zähne, Sondenernährung, Multimorbidität, Zahl der Medikamente und Rauchen [17].
Daher sollen in der akuten Schlaganfallphase oralhygienische Maßnahmen durchgeführt werden (regelmäßige und gründliche Entfernung von Speiseresten, Reinigung der Zähne und Zahnfleischmassage, Reinigung von Prothesen nach jeder Mahlzeit, Entfernung/Aufweichung von Zungenbelägen, bei Pilzbefall Lokalbehandlung mit einem Antimykotikum etc.).
Enterale Sondenernährung
Wenn eine enterale Sondenernährung notwendig ist, soll diese in den ersten Tagen bevorzugt über eine nasogastrale Sonde (NGS) erfolgen: Eine Multicenter-RKS konnte zeigen, dass eine frühe perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) im Vergleich zu einer NGS mit einem signifikant schlechteren Outcome (modifizierte Rankin-Skala) nach 6 Monaten einhergeht (absolute Risikozunahme knapp 8%) [8]. Bei absehbar längerfristig notwendiger enteraler Ernährung soll eine PEG „in einer klinisch stabilen Lage“ nach 14 bis 28 Tagen erfolgen (S3-Leitlinie „Enterale Ernährung bei Patienten mit Schlaganfall“ der AWMF; http://www.awmf.org.); auch zu speziellen Verfahren der enteralen Ernährung sowie der Erfassung/des Screenings von Malnutrition sei auf die diese S3-Leitlinie verwiesen.
Tracheostoma, Trachealkanüle
Bei ausgeprägtem Speichelaufstau mit Verlegung des Aditus laryngis oder massiver Aspiration von Speichel muss – wenn Absaugen keine Abhilfe schafft und keine Besserungstendenz zu erkennen ist – die Indikation zur Anlage eines Tracheostomas und zum Einsetzen einer geblockten Trachealkanüle (TK) gestellt werden. Weil sie trachealwandschonend sind, sollen TK mit Niederdruck-Cuff bevorzugt werden. Bei beatmeten Patienten vermindern TK mit subglottischer Absaugvorrichtung die AP-Rate; in Analogie hierzu sind derartige TK auch bei wachen, nichtbeatmeten Personen zu bevorzugen; bei absehbarer Notwendigkeit einer längerfristigen Versorgung mit einer geblockten TK, soll ein dilatatives Tracheostoma vor Verlegung in Rehabilitations- oder Pflegeeinrichtungen in ein plastisches Stoma umgewandelt werden, um ein sicheres Wechseln der TK zu ermöglichen [27].
Schlucktherapie
In einer prospektiven Single-Center-RKS [5] wurden 306 dysphagische Schlaganfallpatienten (Ereignis < 1 Woche) 3 Therapiearmen zugeordnet: niedrigfrequente bzw. hochfrequente „Standard“-Schlucktherapie (je eine Sitzung an 3 bis 5 Werktagen) oder „usual care“ (Schlucktherapie nur, falls nach ärztlichem Ermessen indiziert). Beide Standardschlucktherapien waren dem „usual care“ (nach 6 Monaten) überlegen: Signifikant mehr Patienten erreichten den gleichen Ernährungsstatus wie vor dem Schlaganfall bzw. zeigten eine Rückbildung der Schluckstörung; signifikant weniger Patienten entwickelten eine AP. In beiden Standardtherapiegruppen wurden – je nach Befunden der klinischen Untersuchung und der VFS – u. a. aufrechtes Sitzen beim Essen und Trinken, Essensberatung sowie diätetische und kompensatorische Maßnahmen eingesetzt. Aufgrund der Ergebnisse dieser Studie soll eine Schlucktherapie frühzeitig beginnen.
Die Art der Schlucktherapie in der Akutphase des Schlaganfalls umfasst insbesondere die aktive Mobilisierung und Nutzung vorhandener Fähigkeiten, adaptive Verfahren (diätetische Modifikationen, spezielle Trinkgefäße/Essbestecke) sowie Kompensationsstrategien: Kopfdrehung zur betroffenen Seite bei pharyngealer Hemiparese, Kopfkippung zur gesunden Seite bei kombinierter lingualer und pharyngealer Hemiparese, „effortful swallow“ bei reduzierter Bolusschubkraft [27]. Dabei kommt der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Sprachtherapeuten/Logopäden, Pflegepersonen, Ergotherapeuten und Ärzten ein hoher Stellenwert zu.
Restituierende Verfahren mit dem Ziel der Wiederherstellung gestörter Schluckstörungskomponenten spielen in der akuten Schlaganfallphase eine eher untergeordnete Rolle, werden aber in der subakuten und chronischen (Rehabilitations-)Phase zunehmend bedeutend. Dennoch kann mit taktil-thermaler Stimulation der Gaumenbögen zur Schluckreflexanbahnung sowie mit „tongue-holding exercises“/Masako-Übungen bei reduzierter Bolusschubkraft begonnen werden [27].
Trotz schlechter Studienlage können aufgrund guter klinischer Erfahrungen intraorale Stimulationstechniken sowie isometrische Zungenwiderstandsübungen (Zunge drückt z. B. gegen Finger des Therapeuten) hilfreich sein, um motorische Aktivitäten im Bereich von Zunge, Lippen, Wangen etc. anzubahnen.
Bei schwerstbetroffenen und bewusstseinsgetrübten Patienten werden Dysphagien oft in erheblichem Ausmaß durch – den gesamten Körper betreffende – sensomotorische Störungen einschließlich Muskeltonusveränderungen negativ beeinflusst. In derartigen Fällen soll auf Konzepte wie z. B. die basale Stimulation zurückgegriffen werden; die dabei verwendete unspezifische orofaziale Stimulation (taktil, thermal, vibratorisch, propriozeptiv, olfaktorisch oder gustatorisch) zielt darauf ab, je nach Störungsschwerpunkt die am Schluckvorgang beteiligten Strukturen zu aktivieren oder zu hemmen [4].
Ein zusammenfassender Algorithmus findet sich in Abb. 4.
Fazit für die Praxis
Ein Vorgehen nach der dargelegten Expertenempfehlung ermöglicht ein sicheres Dysphagiemanagement bei Patienten der akuten Schlaganfallphase, wodurch das Aspirationspneumonie(AP)-Risiko minimiert wird und Patienten frühzeitig einer enteralen Ernährung oder einer Oralisierung zugeführt werden können. Dabei sind fünf Algorithmen (standardisiertes Schluckassessment, Erfassung von Aspirations- und AP-Prädiktoren, das Vorgehen nach dem FEDSS-Protokoll sowie der zusammenfassende Schlussalgorithmus) als konkrete Entscheidungshilfen für das diagnostische und therapeutische Vorgehen von besonderer Bedeutung. Die Auswahl der diagnostischen Verfahren richtete sich insbesondere nach der auf einer Schlaganfalleinrichtung notwendigen raschen Umsetzbarkeit und der jeweiligen Sensitivität und Spezifität; natürlich können auch andere gleichwertige Verfahren eingesetzt werden.
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Prosiegel, M., Riecker, A., Weinert, M. et al. Dysphagiemanagement in der akuten Schlaganfallphase. Nervenarzt 83, 1590–1599 (2012). https://doi.org/10.1007/s00115-012-3679-2
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