Konzeption, Klassifikation und Diagnostik somatoformer Störungen sind derzeit Gegenstand einer lebhaften Diskussion. Welche Probleme bergen die bisherigen Begriffe und Klassifikationen bzw. das Klassifizieren von Krankheiten im Allgemeinen? Welche Veränderungen werden die neuen Klassifikationen bringen, etwa das neue Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders (DSM-5), das schon im nächsten Jahr erwartet wird? Und: Wie soll die Diagnostik somatoformer Störungen bis dahin erfolgen?

Die derzeit gebräuchlichen Begriffe und Klassifikationen im Umfeld der bislang sog. „somatoformen Störungen“ sind vielfältig und verwirrend [11]. Vor allem Definitionen, die sich auf das Kernkriterium der fehlenden somatischen Erklärbarkeit stützen, sind methodisch angreifbar und wenig praktikabel [3, 5, 12, 18, 19]. Kein Begriff wird bislang von Behandlern der verschiedenen Fachrichtungen und von Patienten gleichermaßen akzeptiert [5, 27].

Status quo: Begriffe und Klassifikationen

„Medically unexplained symptoms“

„Medizinisch“ „organisch“ oder „somatisch nicht/nicht hinreichend erklärte Körperbeschwerden“ sind körperliche Beschwerden, für die auch nach systematischer Abklärung keine hinreichende somatische Krankheitsursache gefunden wird. In der englischsprachigen Literatur hat sich hierfür in den letzten Jahren der Begriff „medically unexplained (physical) symptoms (MU[P]S)“ durchgesetzt [9, 10]. Der Nachweis zentralnervöser funktioneller oder struktureller Veränderungen ist mit dieser Bezeichnung jedoch vereinbar. „MU(P)S“ können in drei große Gruppen grob eingeteilt werden:

  • Schmerzen verschiedener Lokalisation,

  • Störungen von Organfunktionen oder

  • Müdigkeit/Erschöpfung [13].

Außerdem kann das klinische Bild von Gesundheitsangst dominiert werden (bisher klassifiziert als hypochondrische Störung).

Die Negativdefinition von „MU(P)S“ über das Fehlen somatischer Erklärungen birgt eine Reihe methodischer Probleme: Experten sind oft uneinig, was einzelne Befunde bedeuten bzw. wann eine somatische Diagnostik „abgeschlossen“ ist; eine langdauernde somatische Ausschlussdiagnostik anstatt einer biopsychosozialen Simultandiagnostik führt häufig zur Verzögerung einer adäquaten Therapie [5, 23]; Patienten, die ihre Beschwerden ja real erleben, sind durch die Negation (implizit „Sie haben nichts“) verunsichert; und v. a. dann, wenn mehrere unklare Körperbeschwerden vorliegen, ist die Frage, ob davon manche erklärt werden können, andere wiederum nicht, von geringer praktischer Relevanz. Deshalb gilt die Bezeichnung „MU(P)S“ unter Experten inzwischen mehrheitlich als ungünstig [5].

„Funktionelle Beschwerden“ und „funktionelle Syndrome“

Der Begriff „funktionell“ deutet an, dass hier überwiegend die Funktion (und nicht die Struktur) des aufgrund der Beschwerden betroffenen Organ(system)s (z. B. des Herzens bei Herzbeschwerden, des Darms bei Verdauungsstörungen) bzw. der zentralnervösen Verarbeitung von Beschwerdewahrnehmungen gestört scheint. Auch sog. „funktionelle“ Beschwerden können darum häufig keinem gängigen Erklärungsmuster oder objektiv nachweisbaren Ursachen zugeordnet werden. Der eigentliche Wortsinn von „funktionell“ (nämlich: eine bestimmte Funktion erfüllen, für eine Funktion passen) legt aber noch eine weitere Betrachtungsweise nahe: Ungeachtet ihrer Ätiologie haben funktionelle Beschwerden möglicherweise eine bestimmte Funktion für den Organismus bzw. die Person (z. B. Signal für Rückzug), deren Thematisierung bereits mit der Begriffswahl auch von therapeutischer Bedeutung sein kann. Der Funktionsbegriff ist also grundsätzlich mehrdeutig:

  • als „Funktion für“ (genaugenommen: teleofunktionalistisch; also mit Bedeutungsfunktion) und

  • als „Funktion von“ (ohne Bedeutungsfunktion).

Der Begriff „functional disorders“ oder „functional syndromes“ wird in der wissenschaftlichen Literatur und auch von den Ärzten selbst uneinheitlich gebraucht [14]: Sowohl Beschwerdebilder, die objektive Befunde aufweisen, als auch Beschwerdebilder ohne jegliche objektive Befunde werden als „funktionell“ bezeichnet.

Viele somatische Disziplinen haben eigene sog. funktionelle somatische Syndrome (FSS) formuliert, die sich durch persistierende, somatisch nicht hinreichend erklärte Körperbeschwerden auszeichnen [30]. Sie sind allgemein definiert

  • durch typische Symptomkomplexe,

  • durch eine definierte (Mindest-)Zeitdauer und

  • durch den Ausschluss hinreichend erklärender somatischer Erkrankungen.

Bekannte Beispiele sind Chronic-fatigue-Syndrom (CFS), Fibromyalgiesyndrom (FMS), Reizdarmsyndrom (RDS/IBS), „multiple chemical sensitivity“ (MCS), Temporomandibularsyndrom (TMD), chronischer Unterbauchschmerz der Frau („chronic pelvic pain“, CPP), chronischer Spannungskopfschmerz, kraniomandibuläre Dysfunktion oder Prostatodynie (CPP Typ III). Die meisten dieser Entitäten sind durch das typische Charakteristikum eines „Syndroms“ definiert, also ein „Zusammentreffen (verschiedener) einzelner, für sich allein uncharakteristischer Symptome zu einem kennzeichnenden Krankheitsbild“ [4].

Die Einteilung in Einzelsyndrome ignoriert die oft polysymptomatischen Verläufe

Zum kleineren Teil sind für FSS Forschungskriterien definiert oder Diagnoseverschlüsselungen vorhanden (z. B. im International Classification of Diseases [ICD-] 10), insgesamt ist die Validität der einzelnen Krankheitskonstrukte jedoch unzureichend: So schwanken die Prävalenzen schon mit minimalen Veränderungen der Definition massiv, und im Langzeitverlauf werden bei schwankenden klinischen Befunden die Diagnosekriterien mal erfüllt, mal nicht erfüllt [13, 29]. Ein weiteres Problem liegt darin, dass – außer beim CFS – die vorliegenden Definitionen von FSS in der Regel keine Schweregradkriterien enthalten. So kann nach internationalen Klassifikationsvorschlägen die „Diagnose“ eines Reizdarmsyndroms beispielsweise mit relativ geringen, im Alltag nicht beeinträchtigenden Symptomen ebenso erfüllt sein wie mit einer schweren Beeinträchtigung durch die Beschwerden; erst die aktuelle deutsche Reizdarmleitlinie setzt sich darüber hinweg und definiert ein RDS sehr nahe an einer somatoformen Störung, indem sie fordert, dass „die Beschwerden begründen, dass der Patient deswegen Hilfe sucht und/oder sich sorgt und so stark sind, dass die Lebensqualität hierdurch relevant beeinträchtigt wird“ [20].

Obwohl die Begriffe „funktionelle Beschwerden“ und „funktionelle Syndrome“ in den somatischen Fächern weit verbreitet und bei den Patienten offenbar gut akzeptiert sind ([27]; leider gibt es dazu keine deutschen Zahlen), ignoriert eine Einteilung in Einzelsyndrome darüber hinaus die oft polysymptomatischen Verläufe und verleitet zu einer Missachtung wesentlicher weiterer Beschwerden aus anderen somatischen oder psychosozialen Fachgebieten [13, 23]. Ein positives Beispiel sind die ACR 2010- und S3-Leitlinien-Kriterien des FMS, die weitere körperliche und seelische Beschwerden als diagnostische Kriterien aufführen [26]. Solange komplizierende Faktoren und Komorbiditäten diagnostisch beachtet werden, kann die Abgrenzung eines bestimmten, auf ein Organsystem beschränkten funktionellen Syndroms für eine organ- oder symptombezogene Differenzialdiagnostik oder Therapie durchaus sinnvoll sein. Die Diagnose als einzelne funktionelle Störung birgt aber eben auch das Risiko, dass die oft vielfältigen zusätzlich bestehenden körperlichen und/oder psychischen Beschwerden aus dem Blick geraten („Scheuklappendiagnose“), v. a. bei (zu) frühem Aufsuchen von Spezialisten.

„Somatoforme Störungen“ und „Somatisierung“

Der Begriff „somatoforme Störungen“ stammt aus der psychosozialen Medizin, hat sich aber unter Patienten und teilweise auch Behandlern nicht gut etabliert; teilweise wird er als stigmatisierend erlebt [2, 27]. Eine somatoforme Störung liegt nach ICD-10 (Abschnitt F „psychische Störungen; vergleichbare Klassifikation im DSM-IV) vor, wenn eine oder mehrere Körperbeschwerden bzw. Krankheitsängste, für die keine hinreichende somatische Ursache gefunden wird, über mindestens ein halbes Jahr persistieren und zu einer relevanten Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit im Alltag führen. Zusätzlich in ICD-10 aufgeführte Charakteristika sind die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind. Wenn doch somatische Störungen vorhanden sind, erklären sie nicht die Art und das Ausmaß der Symptome, das Leiden und die innerliche Beteiligung des Patienten. Somatoforme Störungen sind bisher in der ICD-10 ebenso wie im DSM-IV als psychische Erkrankungen klassifiziert. Vor allem aufgrund unzureichender Validität der einzelnen Subdiagnosen und des umstrittenen zentralen Kriteriums der fehlenden somatischen Erklärbarkeit sind die derzeitigen Klassifikationen aber stark in die Kritik geraten [8, 11, 12, 17, 18]:

  • Sie fokussieren zu einseitig auf Körperbeschwerden und zu wenig auf psychobehaviorale Charakteristika, die doch für die Diagnose einer psychischen Störung eigentlich zwingend sein sollten und in wesentlichem Maße zur individuellen Beeinträchtigung durch die Erkrankung beitragen.

  • Die hohe Bewertung einer negativen somatischen Ausschlussdiagnostik verzögert die Diagnosestellung und damit den Beginn einer adäquaten Therapie.

  • Aufgrund einer parallelen Klassifikation funktioneller und somatoformer Störungen kann das Beschwerdebild ein und desselben Patienten unter Umständen entweder als „somatische“ (z. B. ICD-10 M79.7 „Fibromyalgiesyndrom“) oder als „psychische“ Erkrankung (z. B. ICD-10 F45.4 „anhaltende Schmerzstörung“) eingeordnet werden.

  • So besteht die Gefahr, dass die Diagnosestellung und damit auch die therapeutische Herangehensweise mehr von der Fachrichtung oder von den Interessen des Behandlers als vom tatsächlichen klinischen Handlungsbedarf bestimmt werden.

Für die anstehenden Neuklassifikationen wurden deshalb beispielsweise die Abschaffung der sehr restriktiven „Somatisierungsstörung“, die Abwertung des Kriteriums der fehlenden somatischen Erklärbarkeit sowie die Einführung psychobehavioraler Positivkriterien (wie Krankheitsängste oder starke Krankheitsüberzeugung), dimensionale Kodierungsmöglichkeiten (etwa in Form von Schweregradskalen) und sogar eine neue Krankheitskategorie („interface disorders“ zwischen somatischen und psychischen Störungen) gefordert [8, 11, 12, 17].

Der Begriff „Somatisierung“ hat mehrere verschiedene Bedeutungen [12, 21]. Er kann in einem eher deskriptiven Sinne („a tendency to experience and communicate somatic distress and symptoms unaccounted for by pathological findings, to attribute them to physical illness, and to seek medical help for them“ [21]) oder aber im eher ätiologischen Sinne eines Abwehrmechanismus (die Umwandlung seelischer Konflikte und Belastungen in Organerkrankungen) verstanden werden [6]. Angesichts fehlender Belege sollte er weniger in einem pathogenetischen/psychogenetischen Sinne verwendet werden; deskriptiv bietet er aber die Möglichkeit, die Bereitschaft zum verstärkten Erleben, zu einer vermehrten Darbietung und zu einer negativen Bewertung von Körperbeschwerden dimensional auszudrücken [24].

Klassifikationssysteme – Fluch oder Segen?

Welchen Zweck erfüllt eine Klassifikation von Krankheiten? Sie soll valide Einheiten abbilden, sie aber nicht künstlich erzeugen, und sie soll die Kommunikation zwischen allen Beteiligten vereinfachen. Letztlich soll sie eine zielgerichtete Forschung und, wenn nötig, auch eine spezifische Therapie ermöglichen. Auf der anderen Seite gefährdet das Klassifizieren von Krankheiten die Abbildung von Dimensionalität , und zwar nicht nur der Krankheitsphänomene selbst (etwa in Form der häufigen Überlappung von Depressivität, Angst und Somatisierung), sondern auch ihrer Ausprägung (die ja nicht nur entweder-oder, sondern in vielen Abstufungen erfolgen kann) und ihrer Ursachen [8, 12, 15, 16, 28]. Auf diese Weise werden subsyndromale Frühphasen von Erkrankungen, deren Erkennung für eine Verschlechterung und Chronifizierung entscheidend wäre, möglicherweise ignoriert, andererseits aber ganz unterschiedliche Phänomene zusammengefasst, die vielleicht gar keinen Krankheitswert haben, lediglich ein „wachsames Zuwarten“, einen bewussten Umgang oder aber bereits eine spezifische Therapie erfordern. So wird es möglich, dass Klassifikationssysteme den Krankheitsbegriff überdehnen und Krankheiten – und damit auch Forschungs- und (Pharmako-!)Therapiebedarf – ausrufen, wo vielleicht gar keine bestehen („disease mongering“; [22]). Darüber hinaus trägt die derzeitige, streng getrennte Klassifikation „somatischer“ und „psychischer“ Erkrankungen maßgeblich zur Aufrechterhaltung dualistischer Sichtweisen bei.

Klassifikationssysteme können den Krankheitsbegriff überdehnen

Auch wenn sowohl die ICD-10 als auch das DSM-IV als „atheoretische“ Klassifikationen gedacht sind, implizieren sowohl die Einteilung in „somatische“ und „psychische“ Erkrankungen als auch konkrete Begriffe („Konversion“) und Kriterien („in enger zeitlicher Verbindung mit traumatisierenden Ereignissen, unlösbaren oder unerträglichen Konflikten oder gestörten Beziehungen“) durchaus (meist monokausale) Kausalitätsannahmen – die in aller Regel aber als unbeweisbar bezeichnet werden müssen und multifaktorielle Entstehungsbedingungen unzureichend abbilden.

Auch für die Gruppe der somatoformen Störungen verfügen wir letztendlich weder über schlüssige Nachweise der zugrunde liegenden Psychophysiopathologie noch über wirklich stichhaltige Positivkriterien oder überzeugende Therapiemöglichkeiten (selbst die am besten untersuchten verhaltenstherapeutischen Ansätze erreichen bestenfalls mäßige Effektstärken und Nachhaltigkeit). Vor diesem Hintergrund sollten Überlegungen zur Klassifikation und Diagnostik bis auf Weiteres eher breit angelegt und am subjektiven Leiden der Betroffenen ausgerichtet sein; die Forschung zur Ätiologie und Therapie muss unbedingt weiter intensiviert werden.

Die Neuklassifikation somatoformer Störungen

Nach wie vor ist nicht genau klar, wie somatoforme Störungen in den anstehenden Revisionen von DSM-5 bzw. ICD-11 besser klassifiziert werden. Konsens besteht darüber, dass dimensionale Aspekte möglichst berücksichtigt und die Bedeutung des Kriteriums „fehlende somatische Erklärbarkeit“ zugunsten psychobehavioraler Positivkriterien verringert werden sollen, auch um eine somatoforme Störung zusätzlich zu einer somatisch definierten Erkrankung besser diagnostizierbar zu machen.

„Somatic symptom disorders“

Das DSM-5 (die ICD-11 ist noch viel weniger fortgeschritten, sie soll 2015 erscheinen) wird aller Voraussicht nach die neue Diagnosekategorie der „somatic symptom disorders“ enthalten ([1]; Stand: Mai 2012; nach wie vor keine Endfassung).

  • Die Kerndiagnose soll das „somatic symptom disorder, SSD, (J 00)“ bilden, welches vorliegt, wenn folgende Kriterien erfüllt sind:

    • A: eine oder mehrere belastende bzw. das Funktionsniveau beeinträchtigende Körperbeschwerden;

    • B: entweder ausgeprägte gesundheitsbezogene Ängste und/oder die Überzeugung von der medizinischen Ernsthaftigkeit der Beschwerden und/oder eine übermäßig zeit- oder energieaufwendige Beschäftigung mit den Beschwerden;

    • C: Persistenz der Beschwerden („typischerweise mehr als 6 Monate“).

    • Eine Spezifikationsmöglichkeit betrifft die Dominanz von Schmerzen („somatic symptom disoder/predominant pain“).

    • Der Schweregrad („mild“/„moderate“/„severe“) soll durch die Anzahl der psychobehavioralen B-Kriterien bestimmt werden; außerdem wird die „somatic symptom short form“ des Patient Health Questionnaire (PHQ) zur dimensionalen Beurteilung vorgeschlagen [1].

  • Weitere Diagnosen in dieser Kategorie sollen „illness anxiety disorder (J 01)“, „conversion disorder (functional neurological symptom disorder) (J 02)“, „psychological factors affecting medical condition (J 03)“, und „factitious disorder (J 04)“ darstellen; es würden also eine Umbenennung der hypochondrischen Störung und eine Integration der Konversions- und artifiziellen Störungen sowie der Grenzkategorie der psychischen Faktoren bei somatischen Erkrankungen stattfinden [1].

Auch wenn die Einführung von psychobehavioralen Positivkritierien einen entscheidendenden Fortschritt im Hinblick auf ein biopsychosoziales Krankheitsmodell darstellt und außerdem eine frühe Diagnose und damit Therapie erleichtern könnte, wurde doch kritisiert, dass die (bisherige) Auswahl psychobehavioraler Positivkriterien (noch) nicht genügend evidenzbasiert ist [12]. Erste Untersuchungen bescheinigen dem SSD allerdings eine recht hohe deskriptive und Konstruktvalidität bei im Vergleich zu früheren Klassifaktionen verringerter Restriktivität [25, 28].

„Bodily distress Syndrome“

Der Alternativvorschlag „bodily distress syndrome“ (BDS) von Fink et al. [7] stellt nach Meinung v. a. europäischer Experten zumindest hinsichtlich seiner Terminologie eine noch bessere Wahl dar [5], da er ein schlüssiges (antidualistisches) pathogenetisches Konzept einführt („bodily distress“), weniger stigmatisierend und leichter verständlich ist. Darüber hinaus besteht die vorläufige Falldefinition in erster Linie aus einer reinen Symptomzählung aus vier Clustern („cardiopulmonary/autonomic arousal“; „gastrointestinal arousal“; „musculoskeletal tension“; „general symptoms“) ohne die bisherige Forderung nach „somatisch unerklärten“ Beschwerden. Die Symptomcluster basieren auf einer explorativen Analyse aller Symptome von Patienten aus den unterschiedlichsten Settings; das auf diesen Clustern basierende Diagnosekonzept hat eine sehr hohe Überlappungsrate mit somatoformen und funktionellen Syndromen [12]. Der Schweregrad ergäbe sich sozusagen automatisch aus der Anzahl der Beschwerden.

Dieses Konzept ignoriert (zumindest im Hinblick auf eine operationalisierte Diagnose) psychobehaviorale Charakteristika komplett – was im Gegensatz zum SSD aber den Vorteil haben könnte, dass es zumindest im somatischen Bereich praktikabler sein könnte [12]. Im Rahmen der Neufassung des ICD wird derzeit für den Bereich der Hausarztmedizin die Einführung der Kategorie des Bodily-distress-Syndroms diskutiert – ob hier dann systematische Unterschiede zum DSM-System bestehen werden, bleibt abzuwarten.

Beide Neuklassifikationen überwinden einen reduktionistischen Dualismus

Beiden Vorschlägen gemeinsam – und entscheidend im Hinblick auf die sehr begrüßenswerte Überwindung eines reduktionistischen Dualismus – ist die Betonung der Ähnlichkeit somatoformer und somatopsychischer Störungen. So erlauben z. B. beide Konzepte die Erfassung einer Fatigue im Rahmen eines CFS ebenso wie die einer Fatigue im Rahmen einer Multiplen Sklerose.

Die Diagnostik somatoformer Störungen in Zeiten grundlegender Neukonzeptionen

Wie soll nun angesichts dieser Unsicherheiten und anstehenden Veränderungen bei der Diagnose somatoformer Störungen vorgegangen werden? Solange weder das DSM-5 noch die ICD-11 erschienen sind, gelten fraglos die Diagnosekriterien der aktuellen Klassifikationssysteme. Dennoch kann das diagnostische Vorgehen schon jetzt die sich abzeichnenden Änderungen berücksichtigen: In der neuen S3-Leitlinie „Umgang mit Patienten mit nichtspezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden“ [11] wird eine biopsychosoziale Diagnostik von Anfang an empfohlen, einschließlich einer gezielten Exploration psychobehavioraler Charakteristika bereits vor Abschluss der somatischen Diagnostik. Dadurch kann bereits frühzeitig ein Augenmerk auf komplizierende Faktoren („yellow flags“) gerichtet werden, die einen oft über die reinen Körperbeschwerden hinausgehenden Handlungsbedarf anzeigen (wie etwa eine angemessene Beruhigung bei starken Krankheitsängsten oder die Therapie komorbider psychischer Erkrankungen). In ihrem Diagnostikalgorithmus listet die neue Leitlinie [11] das schrittweise Vorgehen und die wichtigsten Charakteristika schwererer und gefährlicher Verläufe auf (Abb. 1).

Abb. 1
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S3-Leitlinie „Umgang mit Patienten mit nichtspezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden“: Diagnostikalgorithmus. (Aus [11], Rechte bei den Autoren, mit freundl. Genehmigung)

Fazit für die Praxis

Aufgrund vieler praktischer und theoretischer Probleme bisheriger Klassifikationen somatoformer Störungen werden schon bald grundlegend veränderte Neuklassifikationen erwartet, die aller Wahrscheinlichkeit nach das Kriterium der fehlenden somatischen Erklärbarkeit stark relativieren und psychobehaviorale Positivkriterien sowie dimensionale Kodierungsmöglichkeiten einführen. Obwohl die ICD-10 und das DSM-IV bis dahin gültig bleiben, sollten bei der Diagnose somatoformer Störungen schon jetzt folgende Punkte beachtet werden:

  • Die frühzeitige Einbeziehung psychosozialer Diagnostik, parallel zur Abklärung somatischer Faktoren, also ohne Abwarten der somatischen Ausschlussdiagnostik.

  • Die Möglichkeit, somatoforme Störungen auch als Begleitdiagnosen körperlicher Erkrankungen zu diagnostizieren.

  • Die gezielte Beachtung psychobehavioraler Charakteristika, die wesentlich zum Ausmaß der individuellen Beeinträchtigung beitragen und mit konkretem klinischem Handlungsbedarf verbunden sind.