Zusammenfassung
Relativ hohe Rezidivraten bei Sexualstraftätern, steigender Bedarf an forensischen Prognosegutachten und generelle Zweifel an der Validität gutachterlicher Prognosen sowie ein fortbestehender Mangel an qualifizierten Gutachtern verlocken zur Anwendung vermeintlich einfach anwendbarer Prognoseinstrumente wie PCL-SV, HCR-20+3 oder SVR-20. Sie liefern einen numerischen Wert zur Quantifizierung des Rückfallrisikos und finden vermehrt Eingang in forensische Gutachten. Dabei birgt die Anwendung dieser Instrumente bei Kollektiven, für die bisher keine Überprüfung der Praktikabilität oder Validität vorliegt, erhebliche Fehlerquellen. Die hier vorgestellte Studie ist Teil einer größeren Kohortenstudie zur forensisch-psychiatrischen Risikoprognose und dient unter anderem der Untersuchung der Differenzialindikation der „Psychopathy Checklist Screening Version“(PCL-SV), des HCR-20+3 sowie des „Sexual Violence Risk 20“ (SVR-20). Es wurden bei 64 strafrechtlichen Gutachten über Sexualstraftäter retrospektiv PCL-SV, HCR-20+3 und SVR-20 erhoben, nachdem primär die Risikoeinschätzung mit dem Basler „Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter“ erfolgt war. PCL-SV, HCR-20+3 und SVR-20 wurden danach mit den auf dem Basler Kriterienkatalog basierenden gutachterlichen Beurteilungen verglichen, welche ihrerseits an Hand von Auszügen aus dem Strafregister validiert wurden. Die Ergebnisse der Studie lassen die Anwendung dieser Prognoseinstrumente (PCL-SV, HCR-20+3 und SVR-20) im deutschsprachigen Raum bei Sexualstraftätern angesichts des gegenwärtigen Wissensstands primär als wissenschaftliches Instrument sinnvoll erscheinen. Darüber hinaus spricht nichts gegen eine Anwendung als Checkliste im eigentlichen Sinne, ohne dabei eine Zuordnung zu einer Risikokategorie vorzunehmen. Eine Verwendung zur eigentlichen Quantifizierung der Risikoeinschätzung sollte aufgrund unserer Resultate auf die Gruppe der dissozialen und aggressiven Sexualstraftäterbeschränkt bleiben.
Summary
Regarding the relatively high relapse rates of sex offenders, an increasing need for forensic prognosis reports, doubts about their validity, and a continued lack of qualified forensic experts makes the supposedly simple application of instruments such as the Psychopathy Check List Screening Version (PCL-SV), HCR-20+3, or the Sexual Violence Risk 20 (SVR-20) very tempting. Those tools supply numeric values for quantifying assumed risk and have begun appearing more frequently in forensic reports. Their use for specific collectives without prior examination of accuracy, admissibility, and accountability may lead to serious mistakes and risks. This study by the Forensic Department of the Psychiatric University Hospital in Basel, Switzerland, is part of a larger cohort study on forensic risk assessment. It investigates among others the differential indication for PCL-SV, HCR-20+3, and SVR-20. In the present study, 64 sex offenders were retrospectively rated with these three instruments based on their respective reports for prior risk assessment, including criminal reports. Those ratings were then compared with prior results from the Structured Risk Assessment of Basel, as performed by the experts. Results of this study confirm the utility of PCL-SV, HCR-20+3 and SVR-20 in a German-speaking sample of sex offenders primarily as a scientific instrument. Beyond that, these instruments may also be used literally as a checklist. Their use for risk quantification should be limited primarily to the subgroup of antisocial and physically aggressive sex offenders.
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Hohe Rezidivraten bei Sexualstraftätern [19] und großes mediales Interesse an schwerwiegenden Rückfällen schüren die Kritik an der gutachterlichen Beurteilung der Rückfallgefahr und hinterfragen deren Qualität. Gleichzeitig nehmen die Gutachtensaufträge in Folge gesetzlicher Anpassungen zu bei fortbestehendem Mangel an ausreichend qualifizierten Gutachtern. Die Verlockung ist somit groß, Prognoseinstrumente wie PCL-SV, HCR-20+3 und SVR-20 anzuwenden, die im Sinne einer einfachen Summierung von Risikofaktoren einen numerischen Wert liefern, welcher, – beispielsweise anhand einer Perzentile – ein Risiko quantifiziert. Die PCL-SV ist die Screeningversion der 1980 entwickelten Hare Psychopathy Checklist (PCL), die das Konstrukt „Psychopathy“ abbildet und sich im englischen Sprachraum als das valideste Prognoseinstrument zur Beurteilung der Rückfälligkeit von Straftätern erwiesen hat [13]. Der in den 1990er Jahren entwickelte HCR-20 [25] ist heute neben der PCL-SV [12], welche ihrerseits als ein Item in den HCR-20 eingeht, eines der am weitesten verbreiteten Instrumente zur Risikoerfassung. Der SVR-20 ist ein Instrument zur Bestimmung des Risikos gewalttätigen Sexualverhaltens, welcher Ende der neunziger Jahre entwickelt wurde [2]. Die beiden Instrumente HCR-20+3 und SVR-20 sind einander sehr ähnlich, beide enthalten einen kategorisierten PCL-SV-Wert als Item und eine große Zahl der Items bildet delinquentes Verhalten im Sinne von eingeschliffenen Verhaltensmustern mit früher Manifestation ab. Einzig bei der PCL-SV definieren die Autoren einen Schwellenwert, bei dessen Überschreiten das Vorliegen von „psychopathy“ und somit eine erhöhte Rückfallgefahr angenommen wird. Beim SVR-20 und beim HCR-20+3 erfolgt die Risikoeinschätzung anhand der 3 Kategorien „gering“, „mäßig“ und „hoch“.
Ursprünglich wurden diese Instrumente sowohl zur Vorhersage von Gewalttaten bei psychisch Kranken als auch als wissenschaftliches Prognoseinstrument entwickelt [16]. Mittlerweile werden sie aber häufig auch allgemein zur Einschätzung des Rückfallrisikos eingesetzt. Vermehrt tauchen nun auch in der Schweiz in forensischen Gutachten nicht nur für Strafgerichte, sondern auch für Expertenkommissionen, die unter anderem über die Lockerung von Maßnahmen verwahrter Straftäter zu entscheiden haben, solche Risikobeurteilungen an Hand von „Scores“ auf. Verschiedene Arbeitsgruppen untersuchen weltweit Differenzialindikation, Validität sowie Praktikabilität dieser Prognoseinstrumente an Subgruppen von Sexualstraftätern [4, 6, 7, 18, 22]. Beispielsweise wurde bereits eine Untersuchung zur Anwendbarkeit der „Hare Psychopathy Checklist“ sowie zur Validität des HCR-20 von der Münchner Gruppe um N. Nedopil in dieser Zeitschrift publiziert [13, 22]. Auch interkulturelle Unterschiede in der Prävalenz von „psychopathy“ werden durch eine zunehmende Anzahl von Studien belegt [23].
Unseres Erachtens ist dieses Vorgehen absolut notwendig, da die Anwendung der erwähnten Prognoseinstrumente bei einem Kollektiv, für welches weder in nosologischer noch kriminologischer Hinsicht eine Überprüfung der Praktikabilität oder Validität vorliegt, nicht zu unterschätzende Gefahren birgt [26].
In der Forensischen Abteilung der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel werden seit Ende der 1980er Jahre für forensische Prognosegutachten einheitliche Kriterien verwendet. Die Prognosestellung erfolgt nach dem validierten „Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter“ [5]. Der von Dittmann entwickelte Kriterienkatalog umfasst evidenzbasierte Prognosekriterien, welche in 12 Kategorien wie zum Beispiel „Analyse der Anlasstaten“, „bisherige Kriminalitätsentwicklung“, „spezifisches Konfliktverhalten“, „reale Therapiemöglichkeiten“ und anderen zusammengefasst sind. Diese Kriterien können vom Gutachter als „günstig“, das heißt protektiv, über „indifferent“ bis hin zu „ungünstig“ beurteilt werden. Der Verzicht auf eine Quantifizierung erlaubt im Gegenzug die realitätsnahe komplexe operationale Verknüpfung dieser Prognosekriterien. Aus der Gesamtwürdigung dieser Kriterien resultiert eine 5-stufige Einschätzung des Rückfallrisikos sowie die Beantwortung der Fragen, ob vom Probanden schwerwiegende Delikte gegen die körperliche, sexuelle oder psychische Integrität eines potenziellen Opfers zu erwarten sind und ob der Proband zum Zeitpunkt der Untersuchung als besonders gefährlich einzustufen ist. Letzteres in Analogie zu den Stellungnahmen der schweizerischen Fachkommissionen zur Beurteilung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern. Die Validierung dieses Kriterienkatalogs erfolgte im Rahmen einer Kohortenstudie anhand von Auszügen aus dem Strafregister mit hinreichenden Beobachtungszeiträumen. Dies gilt mittlerweile auch bei anderen Studien zur Prognoseforschung als Standard [4, 18, 22].
Die vorliegende Arbeit ist Teil einer Kohortenstudie zur forensisch-psychiatrischen Risikobeurteilung. Sie versucht einen Beitrag zu leisten zur Untersuchung der Differenzialindikation der „Psychopathy Checklist Screening Version“ (PCL-SV), des HCR-20+3 sowie des „Sexual Violence Risk 20“ (SVR-20), indem diese Prognoseinstrumente mit der auf dem „Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter“ basierenden gutachterlichen Risikoeinschätzung verglichen wurden.
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
Prognoseinstrumente
Die „Psychopathy Checklist“ [8], auch „Hare-PCL“ genannt, umfasst in ihrer „screening version“ 12 Items und ist ein Instrument zur Abbildung des in prognostischer Hinsicht breit validierten Konstruktes der „Psychopathy“.
Der HCR-20+3, das heißt die von Müller-Isberner und Mitarbeitern ins Deutsche übersetzte und adaptierte Version des HCR-20, ist ein Prognoseinstrument zur Vorhersage von Gewalttaten. Er besteht aus 13 aktuarischen (historischen) Items (H) sowie je 5 Items zur aktuellen Klinik (C) und zu zukünftigen Risiken (R).
Der SVR-20 („Sexual Violence Risk“) schließlich, ebenfalls übersetzt von Müller-Isberner et al., lehnt sich eng an den HCR-20 an und umfasst 20 Items, davon 11 zur psychosozialen Anpassung, 7 zur Sexualdelinquenz, des weiteren 2 zu Zukunftsplänen.
Allen Instrumenten ist gemeinsam, dass die Items operationalisiert jeweils mit Punktewerten von 0 (nicht vorhanden) über 1 (teilweise vorhanden) bis 2 (vorhanden) gewertet werden und diese Werte – unter Berücksichtigung fehlender Angaben – addiert einen Summenscore ergeben. Dieser kann dann anhand von Perzentilen mit unterschiedlichen Populationen, wie z. B. Gefängnisinsassen oder forensischen Patienten, verglichen werden. Lediglich beim PCL-SV werden von den Autoren „Cut-off-“ oder Schwellenwerte von ≥13 für „mögliche Psychopathy“ und ≥18 für „gesicherte Psychopathy“ definiert. Die Prävalenz von so genannten „high-scorern“ unterliegt aber offensichtlich einer erheblichen interkulturellen Variabilität, indem in nordamerikanischen Populationen verglichen mit europäischen durchschnittlich höhere Werte erreicht werden [12, 20].
Material und Methode
In der Forensischen Abteilung der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel werden seit Ende der 1980er Jahre für forensische Prognosegutachten einheitliche diagnostische und prognostische Kriterien verwendet: Die psychiatrische Diagnostik erfolgt durchgängig nach ICD-10, die Prognosestellung nach dem beschriebenen „Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter“ [5].
Für die vorliegende Untersuchung wurden 64 strafrechtliche Gutachten zur Legalprognose der Forensischen Abteilung der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel aus den Jahren 1990–2000 von Personen, die wegen Sexualdelikten in einem strafrechtlichen Verfahren angeklagt waren, retrospektiv analysiert. Von einem in der Verwendung der entsprechenden Instrumente durch die Originalautoren geschulten forensischen Psychiater wurden PCL-SV, HCR-20+3 und SVR-20 sowie soziobiographische Grunddaten erhoben und mit den gutachterlichen Beurteilungen entsprechend des oben erwähnten Kriterienkataloges verglichen.
Hypothesen
Die gerichtete Alternativhypothese H1, dass die Prognoseinstrumente PCL-SV, HCR-20 und SVR-20 die Legalprognose korrekt abbilden, wurde überprüft an Hand der Formel H1: μ0>μ1 gegen die Nullhypothese, dass kein gerichteter Zusammenhang oben genannter Variablen besteht. Die Annahme von H1 setzt zudem einen positiv gerichteten Zusammenhang zwischen den Prognosekategorien („keine“, „geringe“, „durchschnittliche“ und „erhebliche“ Rückfallgefahr) und den Mittelwerten der Scores der Prognoseinstrumente für die jeweilige Kategorie voraus.
Hypothesengenerierend sollten mittels Gruppenvergleichen mögliche Differenzialindikationen für die verschiedenen Instrumente gesucht werden.
Ergebnisse
Deskriptive Resultate
Alle Probanden waren männlich, das durchschnittliche Alter lag bei 36 Jahren (s=10,1 Jahre). Das entsprechende Histogramm (Abb. 1) lässt eine bimodale Verteilung vermuten, die durch die Interferenzstatistik (U-Test nach Mann-Whitney; p=0,020) bestätigt wird: Die aggressiven Sexualstraftäter (Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexuelle Handlungen mit Wehrlosen) waren durchschnittlich 7 Jahre jünger als die Probanden, welchen sexuelle Handlungen mit Kindern vorgeworfen wurde.
Die folgenden Tabellen zeigen die Diagnosen der Probanden nach ICD-10 (Tab. 1) sowie die ihnen vorgeworfenen Delikte entsprechend der Kategorien des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Tab. 2). Die große Heterogenität der beiden Variablen entspricht vergleichbaren Schweizer Kollektiven zur forensisch-psychiatrischen Begutachtung hinsichtlich der Rückfallprognose.
Analytische Resultate
Alle 3 Prognoseinstrumente korrelierten positiv mit der gutachterlichen Beurteilung der Rückfallgefahr. Die jeweiligen Korrelationskoeffizienten sind der Tab. 3 zu entnehmen, höhere Korrelationen sind kursiv dargestellt (bivariate Korrelation nach Spearman für ordinale/intervallskalierte Daten; p für alle Werte <0,000).
In Abb. 2 sind die Werte der verschiedenen Prognoseinstrumente in Abhängigkeit von der gutachterlichen Risikoeinschätzung in drei Boxplots dargestellt (min; 25-Perzentile; mean; 75-Percentile und max). Die mittleren Ränge der jeweiligen Scores zeigen dabei eine signifikante Übereinstimmung mit den Kategorien für die Rückfallgefahr (Kruskal-Wallis p=0,000). Lediglich der mittlere PCL-SV-Score für die Gruppe der Probanden mit Risiko „erheblich/hoch“ liegt entgegen dem Trend tiefer als derjenige der Gruppe mit „durchschnittlichem“ Risiko. Die visuelle Prüfung zeigt zwar eine gute Korrelation der Mittelwerte, hingegen ist die Streuung innerhalb der einzelnen Gruppen jeweils recht hoch. Die geringste Streuung besteht bei den SVR-20-Scores, was auch mit den höheren Korrelationskoeffizienten in guter Übereinstimmung steht.
Überprüfung möglicher Differenzialindikationen
In Tab. 4 ist die für die Validität prognostischer Aussagen üblicherweise verwendete 4-Felder-Tafel mit einem Schwellenwert von 13 für „wahrscheinliche Psychopathy“ nach den Originalautoren [11] dargestellt (χ2 nach Likelihood p=0,002). Eine erhebliche Divergenz besteht für die Beurteilung von 19 Probanden, bei denen der Gutachter trotz (retrospektiv) niederen PCL-SV-Werten eine ungünstige Prognose gestellt hat. Andererseits vermochte die retrospektive Erhebung des PCL-SV keine Fälle zu identifizieren, bei denen der Gutachter zu einer falsch negativen (günstigen) Prognose kam.
Die Tab. 5 zeigt mit hoher statistischer Signifikanz (χ2 nach Likelihood) eine gute Übereinstimmung einerseits für die als prognostisch günstig beurteilten Fälle von Schändung und andererseits für die als prognostisch ungünstig beurteilten Fälle von Vergewaltigung. Eine prognostische Diskrepanz besteht aber hinsichtlich der Gruppe der Probanden, die sich wegen sexueller Handlungen mit Kindern zu verantworten hatten.
Schließlich zeigt Tab. 6 die ebenfalls signifikante Zuordnung der Kategorie „keine Diagnose“ zu den „richtig negativen“ und diejenige der persönlichkeitsgestörten Probanden zu den „richtig positiven“ Fällen. Dabei korrelierte keine Störungsgruppe mit den aus der Sicht des PCL-SV „falsch negativen“ 19 Probanden.
Ergänzend sei bemerkt, dass sich bei einem höheren angenommenen Schwellenwert von 18 oder mehr für „Psychopathy“ die Gütekriterien weiter verschlechterten. Für HCR-20+3 sowie SVR-20 wurden keine entsprechenden Berechnungen durchgeführt, da die Autoren keine Schwellenwerte definieren. In die ordinale Regressionsanalyse für die abhängige Variable der gutachterlichen Prognosekriterien konnte entsprechend der besten Korrelation lediglich der SVR-20 (p=0,009; positive Korrelation) und das Alter (p=0,018; negative Korrelation) eingeschlossen werden. Diese beiden Kovariaten erklären 52% der Varianz des Modells.
Zur Untersuchung von Sensitivität und Spezifität hinsichtlich eines bezogen auf die gutachterliche Beurteilung „zutreffenderen“ Schwellenwertes wurde das Instrument der ROC-Kurve („receiver operating characteristics“) verwendet. Dabei werden für die jeweiligen Scores der Prognoseinstrumente Sensitivität gegen Spezifität aufgezeichnet. Die Fläche zwischen den daraus resultierenden Kurven und der diagonalen Bezugslinie wird als „area under the curve“ (AUC) bezeichnet, diese kann Werte zwischen 0,5 (kein Vorhersagewert) und 1 annehmen und ist ein Maß für die Vorhersagekraft des Tests.
Die AUC-Werte (Abb. 3) sind für alle drei Instrumente (PCL-SV =0,887; HCR-20+3 =0,919 und SVR-20 =0,888) sehr gut. Die visuelle Prüfung der ROC-Kurve zeigt aber, dass bei steigenden Punktwerten schon sehr früh die Spezifität leidet, was auch die daraus resultierenden sehr niedrigen Schwellenwerte für die Annahme annähernd ausgeglichener Sensitivität und Spezifität belegen: PCL-SV Cut-off 7,5 ergibt Sensitivität 0,769 und Spezifität 0,627; HCR-20+3 Cut-off 13,5 ergibt Sensitivität 0,846 und Spezifität 0,818; SVR-20 Cut-off 12,5 ergibt Sensitivität 0,846 und Spezifität 0,773.
Diskussion
Alle drei Prognoseinstrumente, PCL-SV, HCR-20+3 sowie SVR-20, stammen im Wesentlichen aus derselben Arbeitsgruppe kanadischer und nordamerikanischer Prognoseforscher um Chr. Webster, S. Hart, D. Eaves und D. Hare. Entstanden sind sie aus dem Bedürfnis nach strukturierter Risikoeinschätzung, nachdem Untersuchungen mehrheitlich sehr unbefriedigende Resultate der damals gängigen und im angelsächsischen Sprachraum „clinical-intuitive“ genannten Prognosemethode zeigten [16]. Alle drei Instrumente beinhalten neben den so genannten „statischen“ oder rein aktuarischen Risikofaktoren [21] auch „dynamische“ [9], welche beispielsweise einer therapeutischen Beeinflussung zugänglich sind. Trotz Einbezuges aktueller Psychopathologie oder zu erwartender Stressoren blieb eine gewisse Unzufriedenheit, da insbesondere nur prognostisch ungünstige Faktoren abgebildet, protektive Aspekte hingegen vernachlässigt werden. Dies führt unter anderem paradoxerweise dazu, dass die Prognose zwangsläufig umso ungünstiger ausfällt, je mehr Informationen über einen Probanden zur Verfügung stehen. Die neueste Entwicklung geht nun vermehrt dahin, dass im Sinne eines „risk managements“ einzelne sowohl protektive als auch ungünstige Faktoren gewichtet und operational miteinander verknüpft werden, um zu einer Gesamtbeurteilung zu kommen. Neuestes Beispiel dafür ist das „Spousal Assault Risk Assessment“ SARA [15]. Erfreulicherweise bestätigt diese Entwicklung die Wertigkeit der so genannten kriterienbasierten operationalen Methode, welche seit 1989 in der Forensischen Abteilung der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel Anwendung findet. Dabei werden auf wissenschaftlicher Evidenz basierte Faktoren individuell und im konkreten psychiatrischen und kriminologischen Kontext gewichtet und miteinander verknüpft, um schließlich, im Sinne einer Gesamtschau, eine Zuordnung zu einer Risikokategorie vorzunehmen [5]. Da diese Methode nun mit einer Kohortenstudie anhand von Auszügen aus dem Zentralen Strafregister überprüft wird, ist es uns möglich, entsprechend valide Methoden-Methoden-Vergleiche durchzuführen.
Welchen Beitrag vermögen nun also PCL-SV, HCR-20+3 und SVR-20 zur Einschätzung des Rückfallrisikos zu leisten?
Die ursprüngliche Anwendung der drei Prognoseinstrumente war einerseits definiert als Checklisten zur standardisierten Erfassung von Risikofaktoren und andererseits als wissenschaftliches Instrument für die Prognoseforschung [10, 11, 12, 13]. Die PCL-SV ist dabei das einzige der drei Instrumente, das bei Überschreiten eines Schwellenwertes „Psychopathy“ und damit ein erhöhtes Rückfallrisiko definiert [11, 12]. Sowohl HCR-20+3 als auch SVR-20 definieren keine Schwellenwerte, die Risikoeinschätzung erfolgt anhand der 3 Kategorien „gering, mäßig, hoch“ für einen definierten Zeitraum und Kontext.
Nichtsdestotrotz werden die erwähnten Prognoseinstrumente, wahrscheinlich aufgrund der auf den ersten Blick sehr einfachen Handhabung, immer mehr zur „Quantifizierung“ des Rückfallrisikos angewandt, häufig von unerfahrenen Gutachtern und auch bei Kollektiven, für die bis anhin keine Überprüfung der Praktikabilität oder Validität vorliegt, was zu erheblichen Risiken führt [26].
Unsere Untersuchung zeigt deutlich, dass die geprüften Instrumente bezogen auf das gesamte heterogene Kollektiv der Sexualstraftäter, welches unsere Stichprobe gut repräsentiert, nur ungenügende Resultate ergeben und somit für qualifizierte Gutachter keinen wesentlichen Erkenntnisgewinn zur Prognosestellung liefern. Bei den paraphilen Probanden sowie der Gruppe der primär nicht gewalttätigen Sexualstraftäter müssen die Ergebnisse sogar als durchgängig schlecht bezeichnet werden, haben die Prognoseinstrumente doch signifikant häufig falsch negative, das heißt prognostisch zu optimistische Resultate geliefert. Diese signifikanten Unterschiede wurden auch in einer Untersuchung von Firestone et al. an 416 Kindesmissbrauchern und 123 Vergewaltigern beschrieben, in der die Gruppe der Vergewaltiger höhere Werte für „Psychopathy“ aufwiesen [8].
Diese Schlussfolgerung trifft indessen für andere Untergruppen nicht zu: Für die Gruppe der persönlichkeitsgestörten Straftäter einerseits und der Vergewaltiger andererseits konnte eine gute prädiktive Validität gezeigt werden. Dies legt nahe – und wird auch von den entsprechenden statistischen Korrelationen belegt –, dass es sich um mindestens zwei, wohl weitgehend voneinander unabhängige, Subgruppeneffekte zwischen, vereinfacht ausgedrückt, „paraphilen Kindesmissbrauchern“ und „persönlichkeitsgestörten Vergewaltigern“ handelt. Man könnte die erste Gruppe bei näherer Betrachtung auch als „Dissexuelle“ im Sinne von Beier [1] und die zweite als Dissoziale [9] bezeichnen.
Bei den „dissexuellen“ Straftätern führten, bei Analyse der einzelnen Fälle, folgende Gründe zu einer prognostisch ungünstigen gutachterlichen Risikoeinschätzung: ausgeprägte (nicht dissoziale) Persönlichkeitsstörung, schwerwiegende sexuelle Devianz, Kombinationen von Persönlichkeitsstörung und Devianz, mangelnder Therapieerfolg sowie eine pervers-süchtige Entwicklung.
Die deutlich bessere Übereinstimmung zwischen gutachterlicher Beurteilung und den Werten der Prognoseinstrumente für die Gruppe der dissozialen Straftäter basiert unseres Erachtens auf folgenden Gründen: Die PCL-SV als wesentlicher Bestandteil von HCR-20+3 und SVR-20 bildet durch „Psychopathy“ Dissozialität in ihrer Extremform ab. Alle drei Prognoseinstrumente wurden primär für nordamerikanische und kanadische Gefängnispopulationen mit ausgesprochen hohen Prävalenzraten von dissozialen Straftätern entwickelt, in Anbetracht des Mangels an qualifizierten Gutachtern für zahlreich zu fällende Lockerungsentscheide. Dabei sind die Instrumente einander sehr ähnlich, namentlich stammen 7 der Items zur psychosozialen Anpassung des SVR-20 aus den 10 H-Items des HCR-20+3 respektive sind 9 von 20 Items identisch, und sowohl HCR-20+3 als auch SVR-20 enthalten einen kategorisierten PCL-SV-Wert als Item. Weiter bildet eine große Zahl der Items delinquentes Verhalten im Sinne von eingeschliffenen Verhaltensmustern mit früher Manifestation ab.
Da die untersuchten Prognoseinstrumente keine aus Sicht des Gutachers falsch negativen, das heißt zu günstig beurteilten Fälle aufzudecken vermochten, erscheint für den erfahrenen Gutachter der Wissenszuwachs durch die Anwendung dieser Prognoseinstrumente unwesentlich. Aber auch dem Unerfahrenen vermögen diese Prognoseinstrumente nicht weiterzuhelfen, wird doch zu Recht nachdrücklich vor einer Anwendung durch ungenügend qualifizierte AnwenderInnen gewarnt [26].
Es bleiben somit unseres Erachtens folgende Anwendungsgebiete:
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Primär sind diese Prognoseinstrumente geeignet, unterschiedliche Kollektive, namentlich verschiedener gutachterlicher oder therapeutischer Zentren, im Quer- oder Längsschnitt semiquantitativ zu vergleichen. Sie bilden damit in Kombination mit einheitlicher psychiatrischer Diagnostik und vergleichbaren kriminologischen Kategorien eine Grundlage für Qualitätskontrollen und wissenschaftliche Studien.
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Unsere Daten legen nahe, dass eine Verwendung für die Gruppe der dissozialen aggressiven Sexualstraftäter durchaus sinnvoll sein kann, beispielsweise zur Quantifizierung innerhalb dieser prognostisch ohnehin schon ungünstigen Gruppe.
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Nichts spricht gegen eine Verwendung als eigentliche Checkliste, wie schon die jeweiligen Betitelungen nahe legen, wenngleich die verwendeten Items ebenso in allen wesentlichen forensisch-psychiatrischen Lehrbüchern und auch in der Basler Kriterienliste [5, 17, 24] ausführlich dargestellt sind.
Kritisch anzumerken bleibt, dass sämtliche forensisch-psychiatrischen Untersuchungen zur Prognose letztlich aufgrund der durch die gutachterliche Prognose eingeleiteten unterschiedlichen Maßnahmen Interventionsstudien sind und deren Validität somit nicht im eigentlichen Sinne zu prüfen ist. Erste, noch unveröffentlichte Daten unserer Kohortenstudie weisen aber eindeutig darauf hin, dass Probanden mit günstiger Prognose trotz daraus resultierender höherer „time at risk“ weitaus seltener rückfällig werden. So wurden aus der Population für diese Studie nur 4 Probanden im Katamnesezeitraum von 5 Jahren rückfällig, ausnahmslos pädophile Sexualstraftäter, deren Prognose vom damaligen Gutachter als „ungünstig“ eingestuft worden war.
Zu berücksichtigen sind bei all diesen Untersuchungen auch Selektionseffekte in Abhängigkeit davon, ob es sich um Angeklagte, Verurteilte oder sich in Haft respektive Therapie befindende Probanden handelt. So hat beispielweise eine Studie an Probanden aus dem Maßregelvollzug keine Unterschiede hinsichtlich PCL-SV-Werten zwischen paraphilen und impulskontrollgestörten Probanden ergeben [3].
Im Übrigen ist noch aus weiteren Gründen ein zurückhaltender Umgang insbesondere mit „PCL-SV-Scores“ geboten, solange diese Instrumente nicht wirklich wissenschaftlich an deutschsprachigen Kollektiven sorgfältig untersucht wurden, sich eine einheitliche und durchgängige Praxis gebildet hat und das Konstrukt der „Psychopathy“ definitiv geklärt ist: So ist zum Beispiel die Diskussion um diagnostische Wertigkeit, hirnorganische Ursachen und deren Auswirkungen auf Prognose, Therapierbarkeit aber auch Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit erst kürzlich in Gang gekommen und die Gefahr von fehlerhaften Schlussfolgerungen somit noch hoch [14, 20].
Fazit für die Praxis
Die semiquantitativen forensisch-psychiatrischen Prognoseinstrumente PCL-SV, HCR-20+3 und SVR-20 sollten im deutschsprachigen Raum bei Sexualstraftätern angesichts des gegenwärtigen Wissensstandes primär als wissenschaftliches Instrument zum Vergleich unterschiedlicher Studienpopulationen, eventuell als Checkliste im eigentlichen Sinne ohne Zuordnung zu einer Risikokategorie angewendet werden. Zur Quantifizierung eignen sie sich allenfalls innerhalb der Gruppe der dissozialen und aggressiven Sexualstraftäter.
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Dietiker, J., Dittmann, V. & Graf, M. Gutachterliche Risikoeinschätzung bei Sexualstraftätern. Nervenarzt 78, 53–61 (2007). https://doi.org/10.1007/s00115-006-2110-2
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00115-006-2110-2