In den 80er und dann vor allem in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde „Ecstasy“ zur Modedroge [10, 16, 17, 22, 24, 25, 26, 29]. Der Name „Ecstasy“ ist dabei als Sammelbegriff zu verstehen: In den unter der Bezeichnung „Ecstasy“ verbreiteten Tabletten finden sich fast ausschließlich MDMA (Methylendioxymethamphetamin), MDA (Methylendioxyamphetamin) und MDE (Methylendioxyethylamphetamin); MDMA ist bei weitem der am häufigsten verwendete Wirkstoff [16, 22]. In der Literatur wurde nun nicht selten die Frage nach der Erstsynthese von MDMA gestellt. Die Angaben dazu sind allerdings divergent, so dass eine kompakte, auf eigenen Recherchen basierende Darstellung der Frühgeschichte von MDMA gerechtfertigt erscheint.

Angaben zur Erstsynthese von MDMA in der Literatur

Viele angelsächsische Autoren lassen die Geschichte von MDMA mit der Patentanmeldung durch die Firma Merck im Jahr 1912 bzw. mit der Patentierung 1914 beginnen [3, 17, 24, 25, 26]. In kontinentaleuropäischen Publikationen findet sich nicht selten eine andere Auffassung. Bevor näher auf diese Auffassung einzugehen ist, sind zwei niederländische Publikationen mit eindeutig falschen Angaben zu vermerken: A. Adelaars schrieb 1991, dass MDMA erstmals 1898 von der Firma Merck in Darmstadt hergestellt worden sei [1]. Diese Angabe entbehrt jeder Grundlage. 1991 erschien — ebenfalls in niederländischer Sprache — ein Buch von E. Fromberg, in dem er (ohne Angabe einer Quelle) konstatierte, dass MDMA erstmals 1898 hergestellt worden sei [6]. Fromberg war es dann, der wenig später die „Haber-These“ vorstellte: Er hielt im September 1991 einen Vortrag in deutscher Sprache, der 1992 gedruckt wurde [7]. Darin behauptete er, dass der deutsche Chemiker Fritz Haber MDMA „bereits 1898 [...] für seine Doktoralthese“ synthetisiert habe [7]. Aufgrund dieser Veröffentlichung wurde vor allem in der neueren deutschen Forschungsliteratur Fritz Haber als Entdecker des MDMA herausgestellt und das Jahr 1898 als Entdeckungsjahr genannt [22, 29]. Dass die „Haber-These“ neuerdings auch in den USA (wenngleich mit Skepsis) diskutiert wird, belegt der Internetauftritt von mdma.net [2]. Zurückgewiesen wurde die „Haber-These“ von Beck, wobei auffällig ist, dass er keine der zuletzt genannten Quellen erwähnte [3].

Fritz Haber — Entdecker des MDMA?

Fritz Haber (1868–1934) ist in der Wissenschaftsgeschichte kein Unbekannter [27, 28]. Der äußerst produktive Forscher erhielt 1919 für die Entwicklung der Ammoniaksynthese den Nobelpreis für Chemie. Während des Ersten Weltkriegs war er führend an der Entwicklung von Gaswaffen in Deutschland beteiligt. War Haber aber auch der „Vater von Ecstasy“? Der Titel seiner Dissertation erscheint verdächtig. Haber war 1891 (nicht 1898, wie Fromberg behauptet hatte) an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin bei Prof. Carl Liebermann mit der Arbeit „Ueber einige Derivate des Piperonals“ promoviert worden [12]. Piperonal, ein organischer Duftstoff, der z. B. im Blütenöl von Veilchen und Robinien vorkommt, ist tatsächlich ein „typischer“ Ausgangspunkt für die MDMA-Synthese [25]. Doch die genaue Untersuchung der Dissertation erhärtet den Verdacht der „Vaterschaft“ Habers nicht.

Nach einer theoretischen Einführung beschrieb Haber im experimentellen Teil seiner Arbeit zunächst die Nitrierung von Piperonal durch Einbringen in Salpetersäure. Er überführte dann o-Nitropiperonal in Bidioxymethylenindigo. Die Reduktion des o-Nitropiperonals zum Amidopiperonal erwies sich als unergiebig. Anschließend stellte Haber eine Reihe von Derivaten des o-Nitropiperonals dar, bei denen „ein Übergang der offenen Seitenketten in einen geschlossenen Ring unter Bildung eines Indazolderivates erwartet werden konnte“. Doch diese Reaktion erfolgte nicht. Zuletzt überführte Haber das Piperonal in Dioxymethylenchinaldin. Dabei gewann er u. a. Piperonylacrylsäuremethylketohydrazon, Piperonylacrylsäuremethylketoxim und Isopiperonylacrylsäuremethylketoxim. Diese Moleküle stehen chemisch dem MDMA nahe, doch Haber hatte unzweifelhaft weder MDMA synthetisiert noch hatte er es in der Dissertation in irgendeiner Weise erwähnt. Dies gilt im Übrigen auch für die Arbeiten aus dem Umfeld der Dissertation, die Haber teils allein [11], teils zusammen mit seinem Doktorvater [15] publizierte. Haber kann also nicht als Entdecker von „Ecstasy“ gelten.

Offen bleibt die Frage, wie diese Auffassung aufkommen konnte. E. Fromberg, der diese Angabe als erster publizierte, bezog sich nach eigener Aussage auf eine mündliche Mitteilung von A. Shulgin, die er (Fromberg) „für sicher angenommen habe“ [8]. Shulgin selbst verwies in seinen einschlägigen Werken [24, 25, 26] jedoch an keiner Stelle auf Haber.

Die Firma Merck und MDMA

Unabhängig von der Firma Merck wurde als erste Substanz aus der Reihe der psychoaktiven Methylendioxyamphetamine das MDA (Methylendioxyamphetamin) synthetisiert, die einschlägige Publikation von C. Mannich und W. Jacobsohn erschien 1910 [3, 17, 23]. Aus diesem Molekül hätte man in einem weiteren chemischen Schritt MDMA herstellen können, doch der Weg zum MDMA verlief anders.

Es war ein Mitarbeiter der Firma Merck in Darmstadt, der zum ersten Mal MDMA synthetisierte. Über die Hintergründe erschien schon 1998 eine kurze Notiz; in dieser Notiz wurde auf eine Anfrage einer Doktorandin aus der Arbeitsgruppe von A. Gamma (Universität Zürich) und auf die nachfolgende Antwort des Merck-Firmenarchivs verwiesen [9]. Frau Dr. I. Possehl vom Merck-Archiv in Darmstadt, die im Dezember 1997 die Anfrage der Doktorandin P. Gucker beantwortet hatte, stellte freundlicherweise für die vorliegende Studie einen Auszug aus ihrem Brief (der in der Publikation von Gamma nur verkürzt wiedergegeben ist) zur Verfügung. Sie hatte demnach im Dezember 1997 an P. Gucker Folgendes geschrieben:

„Man stieß bei Merck auf die heute als MDMA oder Ecstasy bezeichnete Substanz bei Versuchen, Hydrastinin zu synthetisieren. Hydrastinin wurde seit 1890 u. a. als gefäßzusammenziehendes und blutstillendes Mittel vertrieben; man gewann es durch Oxidation des Alkaloids Hydrastin. Die Syntheseversuche liefen über mehrere Jahre, und vorsorglich meldete man, wie das üblich war, das Herstellungsverfahren für das dabei angefallene MDMA und chemisch verwandte Verbindungen zum Patent an. Inwieweit und mit welchem eventuellen Ergebnis das MDMA bei Merck pharmakologisch geprüft wurde, läßt sich leider nicht mehr ermitteln; die Aufzeichnungen des Wissenschaftlichen Labors jener Zeit enthalten dazu keine Angaben. Auszuschließen ist jedoch, wie das immer wieder in der Presse oder auch in seriöseren Publikationen nachzulesen ist, daß die Substanz als ‚Appetitzügler‘ entwickelt und patentiert worden ist — eine Indikation, die 1912 nicht aktuell war. Mit Sicherheit läßt sich außerdem sagen, daß das MDMA von Merck nicht zu Verkaufszwecken produziert worden ist; die Preislisten liegen uns aus den in Frage kommenden Jahren bis heute lückenlos vor“ [18].

Es sei nur am Rande vermerkt, dass die Behauptung, MDMA sei als Appetitzügler konzipiert worden, schon 1990 von Shulgin zurückgewiesen worden war [25]. Der (maschinenschriftliche) Jahresbericht der Firma Merck für das Jahr 1912 [14] ist im Übersichtsteil übrigens nicht fehlerfrei. Man hatte MDMA (C-Methyl-Safrylamin) synthetisiert, indem man bromiertes Safrol (eine Vorstufe von MDA alias Safrylamin) mit einer Methylaminlösung reagieren ließ. Doch bei der Darstellung wurde die Strukturformel von MDMA (genauer: von seinem Hydrochlorid) falsch wiedergegeben (Abb. 1). Dies wurde in Bezug auf eine Verbindungslinie erkannt und revidiert. Dabei ist unklar, von wem die Verbesserung (Durchstreichung) stammt. Allerdings hätte der Korrektor auch das zu der durchgestrichenen Bindung gehörende C-Atom streichen müssen, was er offenbar vergaß. Aus der Reaktionsbeschreibung geht aber eindeutig hervor, dass es sich an dieser Stelle um das Hydrochlorid von MDMA handelt (ein Intermediärprodukt, aus dem ohne weitere Maßnahme MDMA entsteht) [5].

Abb. 1
figure 1

Die erste Strukturformel von MDMA (genauer: von seinem Hydrochlorid) wurde fehlerhaft gezeichnet. Es ist unklar, von wem die Verbesserung (Durchstreichung) stammt. Abbildung (Auszug aus S. 22) aus dem Jahresbericht für 1912 des Wissenschaftlichen Laboratoriums der Firma Merck (mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. I. Possehl, Merck-Archiv, Darmstadt)

Im Jahresbericht der Firma Merck für 1912 wurde im Übrigen ein Dr. Köllisch als Ersthersteller von MDMA namentlich erwähnt [14]. Zu diesem Chemiker konnte noch Folgendes eruiert werden:

„Dr. Anton Köllisch, geb. am 16.3.1888, trat am 1.10.1911 als Chemiker bei Merck ein. Er war in der Forschung, im ‚Wissenschaftlichen Laboratorium‘, tätig. Er ist im Krieg (September 1916) gefallen. Wann er eingezogen wurde, ist aus unseren Akten nicht ersichtlich. Köllisch hat sich mit Hydrastinin und dessen Derivaten etc. beschäftigt, wie aus den Jahresberichten 1912 und 1913 des Wissenschaftlichen Labors hervorgeht [...]“ [19].

Die Firma Merck (Köllisch wird in dem Patent nicht erwähnt) beantragte am 24.12.1912 ein Patent für das angewandte Azetylierungsverfahren. Die Patentschrift mit der Nummer 274350 des Kaiserlichen Patentamtes trug den Titel „Verfahren zur Darstellung von Alkyloxyaryl-, Dialkyloxyaryl- und Alkylendioxyarylaminopropanen bzw. deren am Stickstoff monoalkylierten Derivaten“ [13]. Das Patent wurde am 16.05.1914 erteilt. Es war ein rein chemisches Patent. Zu den beispielhaft angeführten Verbindungen, die mit dem Verfahren gewonnen wurden, zählte neben MDA auch MDMA. Angaben zur Wirkung dieser Substanzen wurden nicht gemacht. Es hieß lediglich: „Die (erhaltenen Verbindungen) sind wichtige Zwischenprodukte zur Herstellung therapeutisch wirksamer Verbindungen“ [13]. Tier- oder Menschenversuche mit MDA oder MDMA wurden zu dieser Zeit nicht durchgeführt. Auch die nächste Veröffentlichung zu MDMA war eine chemische Patentschrift. 1921 erhielt die Firma Merck vom Reichspatentamt ein Patent (der Patentschutz begann am 08.07.1919) auf eine Technik der N-Formylierung von sekundären Aminen mittels Chloralhydrat [20]. Eines der Amine, das dabei formyliert wurde, war MDMA.

Damit endet die Frühgeschichte von MDMA. Es ist aber ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass MDMA auch vor der „Popularisierung“ immer wieder einmal hergestellt wurde. 1927 wurde es noch einmal bei Merck synthetisiert und wegen seiner dem Ephedrin und dem Adrenalin nicht unähnlichen Struktur auch pharmakologisch geprüft [3]. Auch 1952 und 1959 soll es bei Merck nachsynthetisiert worden sein, wobei der Kontext bislang nicht bekannt ist [3]. 1953 und 1954 fanden von der US-Armee geförderte toxikologische Tierversuche sowohl mit MDA als auch mit MDMA an der Universität Michigan statt [26]. Hintergrund war die Suche nach einer „truth drug“, die bei Vernehmungen eingesetzt werden sollte [26]. 1960 wurde MDMA noch von S. Biniecki und E. Krajewski, zwei polnischen Chemikern, nach dem Merck-Verfahren hergestellt [24, 26].

Schlussbemerkung

Mehrere europäische Autoren lassen die Geschichte von MDMA mit der (zumeist falsch datierten) Dissertation des Chemikers Fritz Haber beginnen. Doch weder in der Dissertation Habers (1891) noch in den Arbeiten aus dem Umfeld wurde die Synthese von MDMA beschrieben. Das Gerücht, dass Haber der Ersthersteller gewesen sei, soll laut Fromberg auf A. Shulgin zurückgehen, der selbst allerdings in seinen Publikationen Haber an keiner Stelle erwähnte. Der wahre Ersthersteller war der Chemiker Dr. Anton Köllisch von der Firma Merck in Darmstadt. Er stieß auf die Substanz beim Versuch, Hydrastinin, ein blutstillendes Mittel, zu synthetisieren. Merck meldete 1912 ein allgemeines Patent auf das dabei verwendete Azetylierungsverfahren an, das 1914 erteilt wurde. Eine pharmakologische Prüfung erfolgte zu dieser Zeit allerdings nicht.