In Deutschland wurden in den 1970er Jahren insbesondere auf der Basis der Analysen und Forderungen der Enquetekommission der Bundesregierung nach dem Vorbild Großbritanniens eine Reduktion der Bettenzahl in psychiatrischen Großkliniken und der Aufbau psychiatrischer Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern erreicht [23]. Damit konnte die Gesamtzahl der psychiatrischen Betten von 120.000 im Jahre 1979 auf etwa 70.000 Anfang der 90er Jahre reduziert werden. Die Liegedauer sank von 150 Tagen auf etwa 40 Tage [15, 16].

Die ambulante Betreuung schwer psychisch erkrankter Menschen wurde jedoch schon bald insbesondere deshalb kritisiert, weil parallel zur Enthospitalisierung nicht ausreichend Dienste und Ressourcen bereitgestellt wurden, um den besonderen Versorgungsbedürfnissen der chronisch Erkrankten Rechnung zu tragen. Nicht die Entlassung von Langzeitpatienten, sondern der mangelnde Aufbau einer adäquaten medizinischen, aber auch sozialen wohnortnahen Versorgung und die möglichen Folgen von Vernachlässigung, häufigen Exazerbationen und krisenbedingten Klinikaufnahmen standen im Zentrum der kritischen Diskussion um die Umgestaltung der psychiatrischen Dienste [2, 63]. Vor dem Hintergrund einer wenig integrierten psychiatrischen Versorgungslandschaft in Deutschland, starken regionalen Unterschieden in der Ausgestaltung gemeindepsychiatrischer Dienste, einer konstant hohen Wiederaufnahmerate und neuer gesetzlich eingeführter Leistungen wie der Soziotherapie stellt sich die Frage nach einer weiteren sinnvollen Umgestaltung des Versorgungssystems, die insbesondere den schwer Erkrankten gerecht wird. Hierbei steht einerseits die Vernetzung der psychiatrischen Behandlungskette im Sinne der Behandlungsoptimierung, aber auch die Integration medizinischer und sozialer, d. h. beschäftigungs- und wohnbezogener rehabilitativer Versorgungsansätze im Zentrum.

Gegenwärtig wird diskutiert, inwiefern neue Versorgungsformen wie integrierte Versorgung und Disease-Management-Programme eine qualitativ bessere und kosteneffektivere psychiatrische Versorgung erreichen können [20]. Bisher wurde in Deutschland allerdings kaum versucht, die Umstrukturierung komplexer Versorgungssysteme bei psychischen Erkrankungen mit wissenschaftlicher Evidenz zu begründen oder zu untermauern. Es ist jedoch international unstrittig, dass sich nicht nur die pharmakologische Behandlung und einzelne spezifische psychotherapeutische und psychosoziale Interventionen, sondern die Gestaltung des Versorgungssystems insgesamt auf die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien stützen müssen. Dieses Konzept der evidenzbasierten psychiatrischen Versorgungspraxis („evidence-based mental health services“ oder „evidence-based mental health practices“) ist die konsequente Weiterentwicklung einer evidenzbasierten Medizin, die sich bisher häufig auf die wissenschaftliche Erforschung einzelner Medikamente und Behandlungsverfahren beschränkte [1]. Diese Forderung stößt jedoch in ihrer Umsetzung auf erhebliche Widerstände. Einerseits basiert die in den Regionen vorherrschende psychiatrische Versorgung häufig auch auf Traditionen, Anpassungen an gesetzliche und finanzielle Vorgaben, Präferenzen der Therapeuten, pharmazeutischem Marketing und klinischer Erfahrung [17]. Andererseits spielen ethische Standards und gesellschaftliche Wertesysteme in der Psychiatrie eine nicht mittels randomisierter Studien hinterfragbare Rolle. Die Integration von ethischen und gesetzlichen Prinzipien und von Patientenpräferenzen ist daher eine besondere Herausforderung in der Umsetzung der Forschungsergebnisse, wofür die evidenzbasierte Medizin derzeit wenig Unterstützung bietet [21]. Zudem setzt die Beurteilung komplexer psychiatrischer Versorgungssysteme weitreichende Kontrollen unspezifischer Einflüsse voraus. Diese Einflüsse können lediglich durch eine randomisierte Zuweisung zu verschiedenen Versorgungsstrukturen kontrolliert werden. Außerhalb eines streng kontrollierten experimentellen Settings können lediglich Hinweise auf die unterschiedliche Effizienz psychiatrischer Versorgungsbestandteile gewonnen werden.

Die vorliegende Arbeit stellt das Ergebnis einer systematischen Recherche und Bewertung von Metaanalysen und kontrollierten Studien zu definierten Bestandteilen und Strukturen gemeindepsychiatrischer Versorgung als Alternative zur stationären Therapie bei schweren psychischen Erkrankungen dar. Auf der Basis der Ergebnisse der Studien wird zu künftigen Anforderungen und Weiterentwicklungen in der Psychiatrie und zur Deckung des Versorgungsbedarfs in Deutschland Stellung bezogen. Grundlegende Fragen sind:

  • Welche Komponenten gemeindepsychiatrischer Versorgung sind wissenschaftlich belegt?

  • Auf welche Weise ist ein Teil der psychiatrischen Krankenhausaufnahmen bei schweren psychischen Erkrankungen wie der Schizophrenie vermeidbar?

  • Welche Formen gemeindepsychiatrischer Dienste und welche Alternativen zur stationären Behandlung sollten in Deutschland stärker gefördert werden?

Methoden

Suchstrategie und Studienauswahl

Nach der Identifikation validierter Ergebnisparameter in der psychiatrischen Versorgungsforschung wurde ein systematischer Literatur-Review zur Auswirkung einzelner Bestandteile psychiatrischer Versorgungssysteme mit dem Schwerpunkt wohnortnaher nichtstationärer Versorgung auf unterschiedliche Outcomes unternommen. Die Auswahl der einzelnen Interventionen und Strukturen erfolgte nach folgenden Kriterien:

  • Es handelt sich um eine definierte psychiatrische Versorgungsform, für die personelle, technische und organisatorische Ressourcen explizit beschrieben sind.

  • Die Versorgungsform ist Bestandteil psychiatrischer Routineversorgung in definierten Regionen.

  • Das konkrete Ziel der Versorgungsform ist eindeutig operationalisiert.

  • Die Zielgruppe sind Menschen mit schweren chronisch verlaufenden psychischen Erkrankungen, insbesondere Menschen mit Schizophrenie.

  • Es liegen kontrollierte Studien mit validierten Outcomeparametern vor.

Zunächst wurde eine Suche nach systematischen Metaanalysen und kontrollierten Studien in den Cochrane-Datenbanken (The Cochrane Library und The Cochrane Schizophrenia Group’s Register of Trials, bis Juni 2003), in der DARE-Datenbank [Database of Reviews of Effectiveness] (bis Juni 2003), in MEDLINE (1966–Juni 2003), in EMBASE (bis Juni 2003), in relevanten HTA (Health Technology Assessment)-Datenbanken und über eine Handsuche in aktuellen psychiatrischen Zeitschriften unternommen.

Die Metaanalysen und die kontrollierten Studien wurden auf ihre methodische Qualität nach dem Jadad-Score unter besonderer Berücksichtigung der Randomisierung, der Verblindung, der Auswertung von Studienabbrechern und der Angemessenheit der statistischen Verfahren beurteilt [28]. Metaanalysen ohne systematische Literaturrecherche, narrative Reviews, Reviews mit Einschluss von Studien ohne Kontrollgruppe und Analysen bei anderen Zielgruppen als Schizophrenie oder schwerer chronisch verlaufender psychischer Erkrankung („severely mentally ill“) wurden ausgeschlossen. Wenn qualitativ hochwertige Reviews vorlagen, wurden die Ergebnisse anhand der Originalveröffentlichungen nachvollzogen und lediglich eine aktualisierte Suche nach neueren kontrollierten Studien unternommen. Wenn keine systematischen Reviews vorlagen, wurden eine vollständige Suche nach randomisierten kontrollierten Studien unternommen und deren Ergebnisse nach systematischer Qualitätsbeurteilung auf die einzelnen Ergebnisparameter bezogen dargestellt. Studien mit einer Studienabbruchrate von mehr als 50% wurden ausgeschlossen. Die Ergebnisse wurden nur dann als statistisch signifikant angesehen, wenn die Konfidenzintervallgrenzen der gepoolten Ergebnismaße (odds ratio und relative risk) die 1 nicht überdeckten oder eine adäquate statistische Berechnung eine Überlegenheit bezüglich des primären Outcomeparameters in Einzelstudien zeigte.

Ergebnisse

Für folgende Komponenten gemeindepsychiatrischer oder anderer nichtstationärer Versorgungsbestandteile wurden kontrollierte Studien identifiziert: gemeindepsychiatrische Teams (Community Mental Health Teams, CMHTs), Case Management und Intensive Case Management (CM, ICM), Assertive Community Treatment (ACT), (Akut-)Tageskliniken, Kriseninterventionsteams und Arbeitsförderungsstrukturen. Primär psychotherapeutische Einzelinterventionen wie kognitive Verhaltenstherapie, Psychoedukation, „social skills training“ oder andere Versorgungsbestandteile wie Familieninterventionen, Angehörigenbetreuung oder komplementäre Wohneinrichtungen wurden nicht als psychiatrische Versorgungssysteme gewertet.

Zur facharztzentrierten ambulanten psychiatrischen Behandlung bei schweren psychischen Erkrankungen, zur Soziotherapie, wie sie im deutschen Sozialgesetzbuch vorgesehen ist, zu Disease-Management-Programmen und zu anderen Formen integrierter Versorgung konnten keine kontrollierten Studien identifiziert werden. Die Ergebnisse sind im Überblick in Tabelle 1 dargestellt.

Tabelle 1 Ergebnisse kontrollierter Studien zu Versorgungssystemen im Überblick

Gemeindepsychiatrische Teams

Community Mental Health Teams (CMHTs) sind multidisziplinäre, gemeindeorientierte Teams unter Beteiligung unterschiedlicher Professionen, die ambulante psychiatrische Routineversorgungsaufgaben übernehmen. Die CMHTs als Kern der sektorisierten psychiatrischen Dienste in Großbritannien sind zuständig für die Erhebung des Versorgungsbedarfs, die Überwachung und Verschreibung von Medikamenten und die Bereitstellung verschiedener Formen psychosozialer Interventionen unter Einschluss von Familieninterventionen, insbesondere für schwerer psychisch Erkrankte [54]. In der Regel bestehen die Teams aus Psychiatern, psychiatrischen Krankenschwestern und anderem Fachpersonal wie Psychologen oder Sozialarbeitern.

Im einem Cochrane-Review auf der Basis von 5 randomisierten kontrollierten Studien (Studieneinschluss bis 1998) zeigte sich, dass die Suizidraten bei Patienten mit CMHT-Versorgung geringer waren als bei Standardtherapie, die Zufriedenheit der Betroffenen vergrößert und die Zufriedenheit der Angehörigen verringert wurde. Die psychiatrischen Wiederaufnahmen sanken, klinische und soziale Ergebnisparameter wurden jedoch nicht beeinflusst [62]. Der Autor schloss, dass CMHTs gegenüber nicht teamorientierter gemeindepsychiatrischer Versorgung nicht schlechter abschnitten, sondern vielmehr von den Betroffenen besser akzeptiert werden. Allerdings spielte die Personalausstattung eine erhebliche Rolle in der Varianz der Ergebnisse zwischen verschiedenen gemeindepsychiatrischen Teams. Spezifische Komponenten, die mit einer erhöhten Wirksamkeit der CMHTs verbunden sind, konnten nicht herausgearbeitet werden. Die einzige neuere Studie, die PRiSM-Studie (Psychiatric Research in Service Measurement“) in London [4, 5, 29, 35, 42, 55, 56, 58, 61], war kontrolliert, aber nicht randomisiert und diente dem Nachweis, ob die positiven Wirkungen gemeindepsychiatrischer Teams aus den experimentellen Studien nach Implementation in die Routineversorgung erhalten bleiben. Im Ergebnis zeigte sich eine signifikante Überlegenheit der intensiven CMHTs im Vergleich zur standardgemeindepsychiatrischen Behandlung bezüglich sozialer Funktionen und sozialer Netze, der Verbesserung des Kontaktes zu Angehörigen und der Bedarfsdeckung. Die psychiatrische Symptomatik und die Lebensqualität wurden jedoch nicht beeinflusst. Die Autoren der PRiSM-Studie weisen darauf hin, dass die positiven Effekte der intensiven Teams möglicherweise durch eine größere Abhängigkeit der Betroffenen vom Versorgungssystem erkauft würden.

Case Management

Case Management (CM) wurde als Versorgungsform für chronisch psychiatrisch Erkrankte in den 1970er Jahren in den USA eingeführt, um eine Koordination gemeindebezogener Gesundheitsleistungen zu erreichen [27]. Vorrangiges Ziel war es, den Kontakt zu den Erkrankten aufrecht zu erhalten und die von verschiedenen Institutionen angebotenen Dienste zu koordinieren. Ein wesentlicher Bestandteil des CM ist die Zuordnung einer Schlüsselperson als Case-Manager zu einem Patienten. Dieser soll die Inanspruchnahme der Gesundheitsdienste individuell koordinieren. Von den verschiedenen Modellen sind das „Brokerage“ Intensive Case Management (ICM) in den USA, charakterisiert durch eine hohe Betreuungsintensität, und der Care Programme Approach (CPA) in England, der insbesondere auf eine Priorisierung psychiatrischer Patienten bezüglich der Zuweisung zu spezialisierter psychiatrischer Versorgung zielt, am bekanntesten [44].

Eine Abgrenzung zum Assertive Community Treatment (ACT) ist insbesondere bei den weiterentwickelten neueren Formen des CM nicht eindeutig möglich. Im Gegensatz zum ACT steht beim CM jedoch die teambasierte Versorgung der Patienten nicht im Vordergrund. Beide Systeme gewannen mit zunehmender Enthospitalisierung an Bedeutung und wurden damit im Zusammenhang auch in Deutschland erforscht [49]. Es liegen jedoch keine deutschen randomisierten Studien zum CM vor. Die ambulante Soziotherapie dürfte am ehesten dem CM-Konzept entsprechen [8].

Zum CM konnten zwei systematische Reviews und eine neuere große randomisierte Studie identifiziert werden. Im Cochrane-Review von 1998 unter Einschluss von 10 kontrollierten Studien wurde die Wirksamkeit des CM im Vergleich zur Standardversorgung oder im Vergleich zur normalen gemeindepsychiatrischen Behandlung, ohne ausdrückliche Differenzierung zwischen CM und ACT, untersucht [40]. Es zeigte sich, dass CM mit erhöhtem Kontakt zum Versorgungssystem verbunden war und die Zahl der stationären Einweisungen erhöhte. In der metaanalytischen Auswertung war kein Unterschied in der Psychopathologie, im sozialen Funktionsniveau oder in der Lebensqualität zwischen CM und Standardbehandlung zu erkennen. Eine Studie wies eine signifikant bessere Compliance in der CM-Gruppe nach. Die Ergebnisse eines neueren systematischen Reviews zum CM sind jedoch teilweise im Widerspruch zum Cochrane-Review [66]. Im diesem Review erwies sich klinisches CM im Vergleich zur Standardbehandlung als wirksamer in der Verbesserung der sozialen Anpassung, der Psychopathologie und der Zufriedenheit der Patienten und Angehörigen. Auch die Versorgungslast der Angehörigen wurde verringert. Die Auswirkungen des CM auf die gesamte psychiatrische Versorgung der chronischen Patienten wurden jedoch als gering bis mäßig angesehen. CM erhöhte nach den Ergebnissen des Reviews nicht den Anteil der stationär aufgenommenen Patienten, sondern die Zahl der stationären Aufnahmen. Die gesamte Verweildauer im Krankenhaus war allerdings verringert, da sich die stationären Aufnahmen verkürzten. Diese unterschiedlichen Ergebnisse können teilweise dadurch erklärt werden, dass im neueren Review nicht durchgehend zwischen ACT und CM unterschieden, sondern vielmehr ACT als besonders intensive Form des CM betrachtet wurde. In einer Subgruppenauswertung ergab sich daher auch, dass ACT wirksamer als CM den Anteil der stationären Aufnahmen und die gesamte Verweildauer reduzierte.

Die in London und Manchester durchgeführte neuere UK700-Studie fand bezüglich klinischer, sozialer, kriminologischer Outcomes und der Lebensqualität keine Vorteile einer Intensivierung des CM, d. h. einer Reduktion des Betreuungsschlüssels von 30 Patienten pro Betreuer (Standard-CM) auf 15–20. Die These, dass eine isolierte Erniedrigung des „case-load“ das Behandlungsergebnis verbessert, wurde zurückgewiesen [10].

Assertive Community Treatment

Das ACT (aufsuchende gemeindepsychiatrische Behandlung) wird von ambulanten, mobilen multidisziplinären Teams, die aus Krankenschwestern, Sozialarbeitern und zumeist auch Psychiatern und Psychologen bestehen, geleistet. Diese Teams haben einen niedrigen Betreuungsschlüssel und sehen die akut erkrankten, unkooperativen, suizidalen oder potenziell aggressiven Patienten zum Teil mehrmals wöchentlich in ihrer gewohnten Umgebung. Im Gegensatz zum ICM liegt der Schwerpunkt nicht auf der persönlichen Verantwortung des Case-Managers, sondern auf der Teamarbeit. Ziel der Versorgung durch das Team ist es, Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen im Kontakt zum Versorgungssystem zu halten, Krankenhausaufnahmen zu vermeiden und Behandlungsergebnisse, vor allem Lebensqualität und soziale Anpassung, zu verbessern [7, 43]. ACT-Teams übernehmen in der Regel die gesamte psychiatrische und soziale Versorgung der Betroffenen, möglichst ohne Überweisung an andere Institutionen. Auch Hausbesuche oder Besuche am Arbeitsplatz sind häufig [41].

Ein Cochrane-Review, der 26 kontrollierte Studien einschloss [41], arbeitete heraus, dass Patienten im ACT im Vergleich zu normaler gemeindepsychiatrischer Behandlung eher in Kontakt zum Versorgungssystem bleiben und dass die ACT-Versorgung die Wahrscheinlichkeit stationärer Aufnahmen verringert. Die Verweildauer im Krankenhaus wurde durchschnittlich um 50% reduziert. Allerdings waren keine Unterschiede in der klinischen Symptomatik zwischen den Gruppen erkennbar. Die Vorteile im Ausmaß unabhängiger Lebensführung der Patienten und in der Reduktion der Arbeitslosigkeit waren signifikant. Die Autoren und auch andere Reviewer gehen von einem eindeutigen Nachweis der Wirksamkeit des ACT aus. In Subgruppenauswertungen stellten sich insbesondere die regelmäßigen Hausbesuche und die gemeinsame Verantwortung für die medizinisch-psychiatrische und die soziale Versorgung als wirksame Bestandteile heraus [9].

In den neueren Studien zeigten sich weniger deutliche Vorteile des ACT im Vergleich zur Standardbehandlung [11, 14, 25]. Das soziale Funktionsniveau bei den Teilnehmern in den ACT-Gruppen war nicht schlechter als bei Standardbehandlung. Bei den von ACT versorgten Patienten waren stationäre Aufnahmen allerdings nur für Kriseninterventionen bei durchgehend kürzerer Verweildauer notwendig. Die geringeren Unterschiede zur Standardversorgung in den neueren Studien werden dadurch erklärt, dass insbesondere in England wesentliche Prinzipien der aufsuchenden gemeindepsychiatrischen Teams mittlerweile in die Routinebehandlung übergegangen sind.

Tageskliniken

Seit den 1950er Jahren wurden in den USA tagesklinische Zentren aufgebaut, die heute ein festes Element in der Behandlung chronisch erkrankter Menschen darstellen [48]. Es wurden zwei systematische Reviews (beide Cochrane-Reviews) identifiziert, in denen Tageskliniken als Alternative zur ambulanten Behandlung [39] bzw. als Alternative zur stationären Aufnahme [37] verglichen wurden. Tageskliniken erwiesen sich in der Metaanalyse von 9 kontrollierten randomisierten Studien bezüglich klinischer und ökonomischer Ergebnisse insgesamt nicht wirksamer als eine kontinuierliche ambulante Therapie. Nur eine Studie zeigte, dass bei tagesklinischer Behandlung die Symptome stärker gebessert wurden als in der ambulanten Gruppe. Die Wiederaufnahmeraten waren bei ambulanter oder tagesklinischer Behandlung im Verlauf nicht unterschiedlich.

Die metaanalytische Auswertung der 9 Studien, in denen Tageskliniken als Alternative zur stationären Aufnahme untersucht wurden, zeigte, dass initial tagesklinisch behandelte Patienten nach einem Jahr deutlich weniger Tage in vollstationärer Behandlung verbrachten als initial stationär behandelte. Die Zeit, die insgesamt stationär oder teilstationär in der Klinik verbracht wurde, unterschied sich jedoch nicht zwischen den Gruppen. Bei den tagesklinisch behandelten Patienten verbesserte sich die psychiatrische Symptomatik allerdings signifikant schneller. Es blieb unklar, ob die tagesklinische Behandlung zu einer Reduktion der Wiederaufnahmeraten führt. Die Versorgungslast der Angehörigen und das soziale Funktionsniveau waren zwischen den Behandlungsgruppen gleich. Insgesamt führte die tagesklinische Behandlung zu einer Kosteneinsparung zwischen 21% und 37%.

Die Autoren empfehlen, den Aufbau von Tageskliniken dann zu erwägen, wenn ein starker stationärer Aufnahmedruck besteht und stationäre Einrichtungen leicht in Tageskliniken umgewandelt werden. Bei Vorhandensein anderer wirksamer gemeindepsychiatrischer Versorgungssysteme wird die Einrichtung von Akuttageskliniken nicht empfohlen [38]. Der Anteil der geeigneten psychiatrischen Patienten wird auf etwa 40% der bisher stationär behandelten geschätzt [12], wobei berücksichtigt wurde, dass die personellen und räumlichen Strukturen angepasst werden sollten, wenn der Anteil an schwerer erkrankten Patienten in Tageskliniken zunimmt.

Seit 2001 wird eine randomisierte kontrollierte Studie an 5 europäischen Zentren, u. a. auch in Dresden und London, zur Wirksamkeit tagesklinischer Behandlung durchgeführt (http://www.edenstudy.com) [31]. Ergebnisse sind jedoch erst im Laufe des Jahres 2004 zu erwarten.

Kriseninterventionsteams

Als Kriseninterventionsdienst wird jede Art von krisenorientierter aufsuchender Behandlung einer akuten psychiatrischen Episode durch ein Team bezeichnet, das für solche Situationen speziell ausgebildet ist — im Gegensatz zur Standardbehandlung, bei der eine Krankenhausaufnahme während der Krise stattfindet. Regelmäßige Bestandteile und Wirkfaktoren der Arbeit von Kriseninterventionsteams sind Hausbesuche, das so genannte „home treatment“, die ärztlich-psychiatrische Beteiligung und die permanente und rasche Verfügbarkeit. Weitere Kriterien für effektive Kriseninterventionsdienste sind die Fähigkeit, flexibel mit dem Patienten und seinem sozialen Netzwerk zu kommunizieren und auf dessen Bedürfnisse einzugehen, die konsequente Einbeziehung sozialer Faktoren, die für die Krise mitverantwortlich sind, die Möglichkeit der Gabe von Medikamenten und die Supervision der Einnahme, die unterstützende therapeutische Haltung, die kontinuierliche Betreuung bis zum Ende der Krise und die Gewährleistung kontinuierlicher Nachbetreuung bei gleichzeitiger Kompetenz zur Steuerung stationärer Aufnahmen („gatekeeping“) [52].

Ein Cochrane-Review ergab starke Evidenz dafür, dass Kriseninterventionsteams die Wahrscheinlichkeit einer stationären Aufnahme verringern. Stationäre Aufenthalte wurden im Durchschnitt um mehr als 60% reduziert [30]. Dies galt allerdings nur für die Zeit, während der die Patienten von den Teams betreut wurden. Es konnte nicht gezeigt werden, dass die Wahrscheinlichkeit einer Wiederaufnahme nach Abschluss der Krisenintervention gesenkt wird. In den Studien zeigte sich ein Trend zu einer Verkürzug der Dauer der stationären Aufnahmen, die Ergebnisse waren jedoch nicht einheitlich. Obgleich keine Wirkung auf die Psychopathologie oder die Suizidraten herausgearbeitet werden konnte, waren die Patienten zufriedener im Vergleich zur Standardversorgung. Auch Kontaktverluste zum Versorgungssystem traten seltener auf. Einzelne Studien berichten, dass Angehörige eher bereit waren, Betroffene zuhause zu versorgen, wenn ein Kriseninterventionsteam verfügbar war.

Strukturen der Arbeitsförderung

In Deutschland existiert derzeit eine Vielfalt von Programmen zur beruflichen Rehabilitation, die jedoch häufig in ihrer Funktion als Ort langfristiger Beschäftigungsmöglichkeiten in Anspruch genommen werden. Die Werkstätten für behinderte Menschen (WfB) sind neben Selbsthilfefirmen und verschiedenen Zuverdienstprojekten dem komplementären Arbeitsbereich zuzuordnen und sollen den Erkrankten eine langjährige Teilnahme an der Arbeitswelt ermöglichen, von der sie ohne WfB ausgeschlossen wären. Außerdem gibt es eine Reihe von beruflichen Förderungswerken für psychisch Erkrankte mit dem Ziel der Berufsberatung, -vorbereitung und Umschulung und Rehabilitationseinrichtungen (RPKs) der Sozialversicherungsträger, die jedoch nur einer eng begrenzten Klientel zur Verfügung stehen.

Ein Cochrane-Review, der 18 kontrollierte Studien einschloss, brachte das robuste Ergebnis, dass für Menschen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen, die arbeiten möchten, die berufsbegleitende Rehabilitation mit rascher Platzierung an einem Arbeitsplatz (das so genannte „supported employment“) wirksamer ist als längere Berufsvorbereitungen („prevocational training“) [13]. Zentraler Outcomeparameter war der Anteil der Erkrankten, die in der Nachbehandlung in einem Beschäftigungsverhältnis waren. Zudem wurden die Zahl der Arbeitsstunden und der Monatsverdienst verglichen. Deutlich mehr Erkrankte, die in Supported-employment-Programmen waren, arbeiteten auf dem Arbeitsmarkt und verdienten mehr. Bei den durchgeführten berufsvorbereitenden Trainingsverfahren verbesserte eine Bezahlung die beruflichen Ergebnisse. Die Autoren schlussfolgerten, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, die arbeiten möchten, berufsbegleitende Rehabilitationsprogramme direkt am Arbeitsplatz angeboten werden sollen. Alle relevanten Studien wurden jedoch in den USA durchgeführt. Auch eine neuere kontrollierte Studie aus den USA zu einem Individual-Placement-and-Support (IPS)-Programm mit rascher Platzierung am Arbeitsplatz zeigte, dass diese Art der Beschäftigungsförderung deutlich wirksamer ist als eine schrittweise Heranführung an eine Beschäftigung [36].

Bedeutung für die psychiatrische Behandlung und Versorgung in Deutschland

Seit dem Bericht der Enquetekommission des Bundestages wurden von Seiten der öffentlichen Hand und der Sozialversicherungen erhebliche Investitionen in Modellprogramme, Forschungsvorhaben und in neue Versorgungsstrukturen getätigt. Die Reform der psychiatrischen Versorgung erfolgte jedoch in Deutschland im Wesentlichen ohne qualitativ hochwertige wissenschaftliche Begleitevaluation.

Betrachtet man die Ergebnisse wissenschaftlicher Versorgungsforschung, muss festgestellt werden, dass von den Kernbestandteilen, die für eine effiziente und patientenorientierte Versorgung schwerer psychischer Erkrankungen international als wichtig erachtet werden [18], nur Teile in Deutschland implementiert sind. Obgleich die Verfügbarkeit ambulanter und stationärer psychiatrischer Versorgung einschließlich medikamentöser Behandlung flächendeckend gegeben ist und eine Reihe von komplementär-psychiatrischen Einrichtungen vorhanden ist, findet sich keine der wissenschaftlich belegten gemeindepsychiatrischen Versorgungsmodule in nennenswertem Umfang. Sowohl die organisatorische Integration von klinisch tätigen, ambulant fachärztlich praktizierenden und in sozialpsychiatrischen Diensten angestellten Psychiatern im Sinne einer aufsuchenden wohnortnahen Versorgung als auch effektive Kriseninterventionsdienste, ambulante teambasierte Versorgungsformen oder berufsbegleitende Rehabilitationsprogramme mit rascher Beschäftigungsförderung konnten bisher nicht ausreichend implementiert oder genutzt werden. Andererseits fehlt für die aktuell diskutierten Versorgungsinnovationen wie Disease Management oder die integrierte Versorgung mittels Verträgen zwischen organisatorisch unabhängigen Leistungserbringern hochwertige wissenschaftliche Evidenz bei der Gruppe der schwer psychisch Erkrankten.

Auffällig ist, dass in Deutschland kaum psychiatrische Versorgungsforschung mit Kontrollgruppendesigns betrieben wurde und somit Aussagen zu den Auswirkungen innovativer Versorgungssysteme meist aus dem angloamerikanischen Raum übernommen werden müssen. Dies wirft die Frage auf, ob gemeindepsychiatrische Versorgungsmodelle nach Übertragung in andere Gesundheitssysteme ähnliche Effekte haben können. Hierbei stellt sich die Frage nach dem Begriff der Evidenz in der Versorgungsforschung. Wenn mehrere Einzelstudien in Metaanalysen gepoolt werden, kann die Wahrscheinlichkeit zufälliger Ergebnisse zwar reduziert und die Anwendbarkeit der Ergebnisse auf breitere Patientenpopulationen verbessert werden [26]. Bei großer Heterogenität und unterschiedlicher Ausgestaltung der einzelnen Intervention in den Studien, wie dies bei komplexen Versorgungssystemen zu erwarten ist, ist das Risiko von Verfälschungsmöglichkeiten (Bias) auch für Metaanalysen gegeben [22], wobei allerdings hochwertige systematische Metaanalysen wie diejenigen der Cochrane Collaboration mittels statistischer Methoden die Heterogenität der Ergebnisse untersuchen und diese in den Empfehlungen berücksichtigen. Auch die fehlende Möglichkeit der Verblindung der Patienten und Behandler in der Versorgungsforschung kann zu einer Überschätzung der Effektgrößen führen. Die Nutzung wissenschaftlicher Evidenz in der Versorgungsforschung muss berücksichtigen, dass im Vergleich zu klinisch-experimentellen Studien eine ungleich größere Zahl nicht kontrollierbarer Einflussparameter vorliegt, die eine Erklärung differenzieller Einflüsse einzelner Versorgungsbestandteile erschweren. Die Grundaussagen zur Über- oder Unterlegenheit von Versorgungsmodulen bezüglich definierter Outcomeparameter im jeweiligen Gesundheitssystem bleiben davon jedoch unberührt, so dass kaum Argumente gegen die Nutzung von Kontrollgruppenstudien als Basis für evidenzbasierte gesundheitspolitische Entscheidungen verbleiben. Allerdings bleibt die Frage nach der Übertragbarkeit der Ergebnisse in andere Gesundheitssysteme, da wirksame Bestandteile der Intervention oft nicht eindeutig zu definieren sind und die Standardbehandlung, gegen die verglichen wird, variiert.

Mögliche strukturelle Ursachen für die unzureichende Datenbasis zur Evaluation nichtstationärer psychiatrischer Versorgungsmodelle in Deutschland sind einerseits die unterschiedliche Organisation und Budgetierung des ambulanten und stationären Versorgungssektors und andererseits die Vielfalt der Finanzierungsträger (gesetzliche Krankenversicherung, Renten- und andere Sozialversicherungsträger, öffentliche Hand, Kirchen). Diese Vielfalt lässt eine gegenseitige Verschiebung der Finanzierungslasten zu und führt zu einer Institutionszentriertheit der Versorgung anstelle einer wünschenswerten Integration und Patientenorientiertheit der Versorgungskette. Der personenzentrierte Ansatz, der einen Paradigmenwechsel darstellt [34], scheint ohne finanzielle Gesamtverantwortung für die Versorgung definierter Patientengruppen, klare Kooperationsmodelle oder Vergütungsanreize nicht realisierbar. Die Soziotherapie als Abrechnungsposition für den vertragsärztlich tätigen Arzt ist lediglich eine Einzelleistung und gewährt keine Integration der Versorgung. Zudem ist das traditionelle Modell des CM, dem die Soziotherapie in Deutschland verpflichtet ist, international verlassen worden zugunsten des teambasierten ACT. Die Soziotherapie, wie sie im Gesetzestext vorgesehen ist, kann daher primär nicht als psychosoziale Intervention mit dem Ziel der gesellschaftlichen Wiedereingliederung verstanden werden, sondern stellt ein begrenztes ambulantes Behandlungsverfahren im medizinisch-psychiatrischen Sinne dar, welches insbesondere der Vermeidung von Krankenhausbehandlungen und der Verringerung einer Drehtür-Psychiatrie dienen soll [19].

Im gegenwärtigen System der gesetzlichen Krankenversicherung scheinen wenig Instrumente zur Verfügung zu stehen, um über den gesamten Verlauf schwerer psychischer Erkrankungen integrierte Versorgungsformen zu etablieren. Zudem ist die Erfassung der Kosteneffektivität als gesundheitspolitisch zentralen Parameter zu Steuerungszwecken in einem fragmentierten Gesundheitswesen schwierig. Die Bestimmung der Kosteneffektivität ist daher eine der großen Herausforderungen für die psychiatrische Versorgung in Deutschland [33]. Aktuell erprobte Modellversuche nach SGB V, wie in Itzehoe oder Frankfurt, erscheinen insbesondere dann erfolgsträchtig, wenn regionale Psychiatriebudgets dazu führen, dass das Morbiditätsrisiko bei allen Leistungserbringern liegt und teambasierte Versorgungsmodelle unter Einschlus evidenzbasierter psychosozialer Interventionen entstehen. Insgesamt scheint die Einführung innovativer gemeindepsychiatrischer Versorgungssysteme in nationalen Gesundheitsdiensten wie in Großbritannien, Australien und skandinavischen Ländern oder in integrierten Versorgungssystemen mit finanzieller Gesamtverantwortung wie einigen Health Maintenance Organizations in den USA aufgrund struktureller Voraussetzungen einfacher zu erreichen. Ob die psychiatrischen Institutsambulanzen eine integrierte Versorgung bei schwer Erkrankten zu leisten imstande sind, bleibt in Abwesenheit einer soliden wissenschaftliche Evaluation offen [53]. Tageskliniken, deren Fortentwicklung in England aufgrund der Konzentration auf gemeindepsychiatrische Teams nicht verfolgt wurde, können offensichtlich nur dann als kosteneffektive Einrichtung zur Fortentwicklung des psychiatrischen Versorgungssystems beitragen, wenn sie als Ersatz für stationäre Aufnahmen dienen und personell und fachlich entsprechend ausgestattet werden.

Vor dem Hintergrund der Studienlage sollte die organisatorische Trennung zwischen ärztlichen und nichtärztlichen sozialarbeiterischen Diensten überwunden und finanzielle Anreize zur Ausgestaltung interdisziplinär arbeitender Teams gegeben werden. Einerseits ist eine Abkopplung sozialpsychiatrisch Tätiger von den modernen insbesondere medikamentösen Behandlungsverfahren und der Umsetzung neuer Forschungsergebnisse zur psychiatrischen Diagnostik und Therapie zu vermeiden. Andererseits muss den klinisch tätigen Psychiatern Gelegenheit gegeben werden, die Einbettung der Patienten in psychosoziale Bezüge sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie zu berücksichtigen. Dass die aufsuchende fachliche Betreuung chronisch Erkrankter verstärkt von niedergelassenen Ärzten übernommen werden kann, wie dies die DGPPN in ihrem Positionspapier 1998 feststellt [15], muss im gegenwärtigen Versorgungssystem bezweifelt werden, da sie weder regelmäßige Hausbesuche noch eine Integration sozialer und medizinisch-psychiatrischer Versorgung leisten können. Zudem gab es kaum Vergütungsanreize für sozialpsychiatrische Schwerpunktpraxen.

Eine geringere, aber stabile Zahl an verfügbaren psychiatrischen Betten erscheint weiterhin notwendig innerhalb eines gemeindenahen psychiatrischen Versorgungssystems. Die wissenschaftliche Evaluation der Schließung von Großkrankenhäusern in England zeigte, dass bei finanziellem Druck mit erheblichen Engpässen insbesondere in der Versorgung schwer Erkrankter zu rechnen ist. Die englischen Fehlentwicklungen haben sich jedoch im Verlauf des Prozesses korrigiert [3]. Die Ergebnisse der englischen TAPS-Studie (Team for the Assessment of Psychiatric Services) wurden so interpretiert, dass etwa 9% der früheren Langzeitpatienten zu einem beliebigen Zeitpunkt ein Bett auf einer Akutstation benötigen [51]. Unter Berücksichtigung der Verhältnisse des englischen Gesundheitssystems wurde aus den vorliegenden Studien geschätzt, dass integrierte psychiatrische Versorgungssysteme mit dem Ziel der Verkürzung stationärer Behandlungsepisoden die Bettennutzung um 20–40% reduzieren können [57].

Eine moderne und integrierte Psychiatrie mit der psychiatrischen Klinik als einem von vielen Bestandteilen ist in jedem Fall nicht komplementär, sondern als Alternative zur traditionellen klinikzentrierten und krisenorientierten Versorgung schwer psychisch Erkrankter zu sehen [59]. Ein Anforderungsprofil an derartige moderne psychiatrische Dienste und ihre Schnittstellen entwickelten Thornicroft und Tansella (Tabelle 2). Vor dem Hintergrund dieses Profils kann auch die Entwicklung patientenzentrierter Versorgungsstrukturen in der deutschen Psychiatrie diskutiert werden [60]. Die Evaluation der sich in England rasch weiterentwickelnden und vom Gesundheitsministerium unterstützten ACT-Teams in London zeigte, dass die Versorgung schwer psychisch erkrankter Menschen wohnortnah und ohne große Institutionen möglich, die Zufriedenheit mit den Diensten gut ist und die Belastung der Teams durch die intensive Arbeit mit schwierigen Patienten in Grenzen gehalten werden kann [6]. Entscheidend für den Erfolg der Teams war jedoch die Anwesenheit eines Psychiaters, eine adäquate personelle Ausstattung, die Verfügbarkeit einer Mindestzahl an psychiatrischen Betten und die Einhaltung grundlegender Prinzipien des Versorgungsmodells („model fidelity“). Für das Ziel einer Verringerung der Krankenhausaufnahmen waren die Integration medizinischer und sozialer Dienste und regelmäßige Hausbesuche die bedeutendsten Faktoren [65]. Allerdings wurde im Durchschnitt bei 20% der Patienten im 9-Monats-Follow-up eine stationäre Aufnahme in einer psychiatrischen Klinik gegen den Willen der Patienten veranlasst [45]. Die Häufigkeit dieses im Gegensatz zu regulären Krankenhausaufnahmen stets unerwünschten Outcomes weist darauf hin, dass das ACT-Modell nicht für alle Patienten geeignet ist und weiterentwickelt werden sollte, bzw. dass ein gewisses Maß an stationären Aufnahmen bei schwer psychisch Erkrankten, die grundsätzlich wohnortnah versorgt werden, akzeptiert werden muss.

Tabelle 2 Grundlegendes Profil psychiatrischer Dienste

Aus den Versorgungsstudien können drei wichtige Erfolgsfaktoren für eine integrierte psychiatrische Versorgung bei schweren psychischen Erkrankungen herausgearbeitet werden:

  • konkrete verbindliche Kooperationsmodelle oder personelle und finanzielle Gesamtverantwortung für die Gewährleistung einer modernen wissenschaftlich fundierten sektorisierten gemeindepsychiatrischen Behandlung,

  • die Organisation von Hausbesuchen für Schwersterkrankte und

  • die Zusammenstellung von multiprofessionellen Teams, die Kompetenzen und Fähigkeiten zur psychiatrischen Behandlung als auch der sozialen arbeits-, beschäftigungs- und wohnbezogenen Versorgung besitzen.

Bei der Evaluation und Implementierung von Einrichtungen und Angeboten stellt die Verminderung der Psychopathologie nur eines von vielen Ergebniskriterien dar. Eine flächendeckende individuelle Betreuung in wohnortnahen Einrichtungen als Alternative zur Hospitalisierung oder zu häufigen Wiederaufnahmen ist eine der wesentlichen Forderungen der WHO zu Mindeststandards in der Versorgung psychisch Kranker [62]. Die medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten, deren Erfolg vorwiegend anhand der akuten Psychopathologie beurteilt wird, gewährleisten alleine offensichtlich keine deutliche Verbesserung der langfristigen sozialen Situation chronisch schizophren Erkrankter [45]. Psychiatrische Versorgungssysteme müssen daher auf verschiedenen Ebenen und im Hinblick auf verschiedene Ergebnisperspektiven evaluiert werden. Aspekte der Lebensqualität und der Bedarfsdeckung werden zunehmend neben ärztlich bestimmte Erfolgsdefinitionen treten [24, 32], was zu einer veränderten Priorisierung und Ausgestaltung der psychiatrischen Dienste im Sinne einer besseren Patientenorientierung führen dürfte

Interessenkonflikt

Der korrespondierende Autor versichert, dass keine Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt, bestehen.