Suizid und Risikofaktoren

Unter „Suizid“ wird ein Todesfall verstanden, der durch eine Handlung oder die Unterlassung einer Handlung der verstorbenen Person absichtsvoll herbeigeführt wurde [13]. Führt eine absichtliche, selbstschädigende Handlung nicht zum Tode, so spricht man von Parasuizid (früher: Suizidversuch). Als besondere Risikogruppen für Suizid gelten psychisch Kranke, Alte, Vereinsamte, Arbeitslose, chronisch körperlich Kranke und Menschen mit vorangegangenem Suizidversuch [1, 11, 13, 25]. Männer sind im Allgemeinen stärker durch Suizid gefährdet als Frauen. Ein wichtiger Risikofaktor auf gesellschaftlicher Ebene ist eine soziale Fragmentierung, die sich in einem Verlust gemeinsamer Werte und Bedeutungen (Anomie) oder in fehlender sozialer Unterstützung ausdrücken kann [34]. Da Migration und das Leben in einer fremden Kultur potenziell mit Anomie auf individueller Ebene oder innerhalb der Migrantenbevölkerung einhergehen, gelten Migranten ebenfalls als Risikogruppe für Suizid [15].

Suizidraten in Deutschland und international

In Deutschland ereigneten sich 1999 insgesamt 11.157 Todesfälle durch Suizid. Die Suizidrate betrug 13,6 je 100.000 Personen und Jahr. Sie unterscheidet sich bei Männern (20,2 je 100.000) und Frauen (7,3 je 100.000) deutlich. Die Männer-Frauen-Quote (MFQ) der Suizidraten liegt damit bei 2,8. In der deutschen Bevölkerung steigt die Suizidrate mit zunehmendem Alter, besonders deutlich ab dem 60. Lebensjahr [5]. Dies ist jedoch kein universelles Phänomen; in England und Wales beispielsweise ist die Suizidrate in der Altersgruppe 25–34 Jahre am höchsten [15].

International bestehen erhebliche Unterschiede in der Suizidsterblichkeit (Abb. 1). Die weltweit höchsten Raten werden aus einigen der früheren Ostblockländer berichtet, so beispielsweise aus Litauen mit 73,8 bzw. 13,6 Suiziden je 100.000 Männer bzw. Frauen und Jahr. In südeuropäischen Ländern liegen die Raten teilweise um den Faktor 5–10 niedriger [5, 10]. Auch bei der MFQ bestehen Unterschiede: In ländlichen Gebieten Chinas z. B. haben jüngere Frauen ein deutlich höheres Suizidrisiko als Männer [16].

Abb. 1
figure 1

Suizidraten je 100.000 Männer und Frauen in ausgewählten Ländern. (Quelle: WHO, http://www5.who.int/mental_health/main.cfm?p=0000000149, letzter Zugriff am 1.8.2002)

Migration und Suizidrisiko weltweit

In Migrantenpopulationen liegen die Suizidraten zunächst oft in der Größenordnung des Herkunftslandes. Aufgrund der großen internationalen Unterschiede in den Suizidraten (Abb. 1) können sich große Unterschiede zu den Raten im Aufnahmeland ergeben, sowohl hin zu deutlich höheren als auch zu deutlich niedrigeren Raten [29]. Vielfach wird angenommen, dass sich die Suizidraten von Migranten mit zunehmender Aufenthaltsdauer oder innerhalb der nächsten Generation den Raten des Aufnahmelandes angleichen [15, 25]. Auch gibt es Beobachtungen, dass Migrantinnen aus vielen Herkunftsländern ein höheres Suizidrisiko haben als die weibliche Bevölkerung des aufnehmenden Landes [14].

Migration und Suizidrisiko in Deutschland

Über das Suizidrisiko von Migranten in Deutschland liegen widersprüchliche Einschätzungen vor. Es werden 2 Ursachenkomplexe für ein möglicherweise erhöhtes Risiko diskutiert. Zum einen wird akkulturationsbedingtem Stress eine Rolle zugesprochen. Hierzu tragen z. B. Sprachprobleme oder die Anforderung an Einzelne und an Familien, sich einem anderen gesellschaftlichen Wertesystem anpassen zu müssen, bei. Zum anderen haben Migranten einen im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung schlechteren Zugang zu den Gesundheitsdiensten, was zu einer verzögerten Diagnosestellung und Therapie psychiatrischer Erkrankungen führen könnte.

Kinder von Migranten sind möglicherweise besonders suizidgefährdet. Storch und Poustka untersuchten ein stationäres Kollektiv von jugendlichen mediterranen und deutschen psychiatrischen Patienten und fanden bei Mädchen und jungen Frauen aus dem Mittelmeerraum signifikant häufiger die Einweisungsdiagnose Parasuizid als bei ihren deutschen Altersgenossinnen [28]. Obwohl gerade türkische Jugendliche in der untersuchten Stichprobe relativ zu ihrem Bevölkerungsanteil eher überrepräsentiert waren, lassen sich aus Krankenhausdaten nur sehr vorsichtige Rückschlüsse auf die tatsächlichen Parasuizidrate ziehen. Sollte diese unter Mädchen und jungen Frauen aus dem Mittelmeerraum tatsächlich höher liegen, so wäre das ein Hinweis auf eine möglicherweise erhöhte Suizidrate, denn die Raten von Parasuizid und Suizid korrelieren unter jungen Menschen in vielen Ländern Europas positiv [7].

Fichter et al. (1988) zeigten allerdings, dass das Risiko psychischer Erkrankungen bei Migranten niedrig sein kann. Sie fanden bei griechischen Jugendlichen in Deutschland eine bessere psychische Gesundheit als bei Gleichaltrigen in Griechenland und bei deutschen Jugendlichen. Daraus schlossen sie, dass positive Auswahlprozesse bei der Migration das Risiko für psychische Erkrankungen stärker determinieren als die Auswirkungen von akkulturationsbedingtem Stress [4]. Ihrer Ansicht nach kommt eine solche positive Auswahl u. a. durch die Gesundheitsuntersuchung zustande, der sich die erste Generation der Arbeitsmigranten vor der Einreise nach Deutschland unterziehen musste [4, 32].

Aus der Türkei, dem Herkunftsland der größten Migrantengruppe in Deutschland, gibt es keine verlässlichen Daten zur Suizidsterblichkeit. Laut Todesursachenstatistik lag die Suizidrate 1995 mit 3,3 Fällen je 100.000 Personen und Jahr im Vergleich zu Deutschland und zu anderen europäischen Ländern sehr niedrig [24]. Lediglich in Griechenland findet sich mit 3,4/100.000 (1994) eine vergleichbar niedrige Rate [10]. Bei Parasuiziden hingegen besteht ein viel geringerer Unterschied zwischen der Türkei und Deutschland: Eine retrospektive Analyse von Krankenhausdaten aus dem Raum Ankara ergab eine Rate von 125 je 100.000 Personen und Jahr [24]. Die entsprechenden Schätzungen für Deutschland auf der Grundlage einer methodisch ähnlichen Studie aus Würzburg liegen bei 77 für Männer und 127 für Frauen [25].

Datenlage und Fragestellung

In Deutschland wurden—mit Ausnahme Nordrhein-Westfalens [31]—einzelne ausländische Nationalitäten bislang in der Suizidstatistik nicht gesondert ausgewiesen. In publizierten Studien waren ausländische Staatsbürger insgesamt sowohl bei Suiziden als auch bei Suizidversuchen unterrepräsentiert [18, 22, 25]. Allerdings wiesen diese Studien kleine Fallzahlen oder kurze Beobachtungszeiträume auf und erlaubten keine spezifischen Aussagen über Trends unter den rund 2 Mio. türkischen Staatsbürgern in Deutschland. Angesichts des hohen Suizidrisikos unter jungen Migrantinnen in andern Ländern und der Möglichkeit, dass Migration mit einer sozialen Fragmentierung und dadurch mit einem erhöhten Suizidrisiko einher geht, untersuchten wir 2 Hypothesen:

  1. 1.

    Die Suizidsterblichkeit unter türkischen Frauen und Männern in Deutschland steigt an.

  2. 2.

    Türkische Mädchen und junge Frauen haben ein höheres Suizidrisiko als türkische Jungen und junge Männer.

Material und Methoden

Datenerhebung und Analyse

Als Datenbasis diente eine Sonderauswertung der Todesursachenstatistik, die wir mit Hilfe des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg durchführten. Dazu wurden in den 11 alten Bundesländern für den Zeitraum 1980–1997 alle Todesfälle durch Suizid (ICD 9: E 950–E 959) unter in Deutschland gemeldeten Personen türkischer und deutscher Nationalität erhoben. Auf der Basis von Zahlen aus der Bevölkerungsfortschreibung berechneten wir jeweils die Bezugsbevölkerung zur Jahresmitte („Mid-year-population“, detailliert erläutert in einer früheren Arbeit [20]). So konnten wir alters- und geschlechtsspezifische Suizidraten und die zugehörigen 95%-Konfidenzintervalle (KI) für in Westdeutschland lebende Türken und für Deutsche berechnen. Wir mussten unsere vergleichenden Analysen auf Personen im Alter unter 65 Jahren beschränken, da die Zahlenangaben für die ausländische Bevölkerung in höherem Alter nicht mehr nach Altersgruppen aufgeschlüsselt werden. Angesichts des sehr kleinen Anteils der türkischen Bevölkerung in höherem Alter reduziert dies die Aussagekraft der Studie nur geringfügig. Für Vergleiche der Suizidsterblichkeit insgesamt berechneten wir altersadjustierte Raten und relative Risiken mittels der Mantel-Haenszel-Methode [8] bzw. führten eine direkte Altersstandardisierung durch. Wir setzten für alle Berechnungen Stata 7.0 ein [27].

Beurteilung der Datenqualität

Die Zuschreibung und Kodierung der Todesursache „Suizid“ in der Todesursachenstatistik gilt als problematisch. Möglicherweise werden Suizide als Unfälle oder Todesfälle unklarer Ursache missklassifiziert oder kaschiert [5, 12]. Die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Suizid als Unfall missklassifiziert bzw. kaschiert wird, hängt von der gewählten Methode ab. Eine Aufschlüsselung nach der Methode war bei türkischen Todesfällen nicht möglich, da dies zu sehr kleinen Fallzahlen in den Geschlechts- und Alterskategorien einzelner Jahre geführt und damit gegen Datenschutzbestimmungen verstoßen hätte. Um dennoch nationalitätenabhängige Unterschiede bei Kaschierungstendenzen erfassen zu können, verglichen wir den Anteil unterschiedlicher Methoden an den Suizidtodesfällen unter Deutschen und Ausländern insgesamt im Jahr 1998. Um Aussagen über die Präzision der Todesursachenzuschreibung in Abhängigkeit von der Nationalität der Verstorbenen machen zu können, verglichen wir die Quote von Suiziden zu Todesfällen mit unklarer Todesursache („Symptome und schlecht bezeichnete Affektionen“, ICD-9 780–799) jeweils bei Türken und Deutschen. Eine niedrigere Quote kann ein Hinweis auf einen größeren Anteil missklassifizierter Todesfälle durch Suizid sein. Wir berechneten diese Quote auch für aufeinander folgende Zeitperioden, um beurteilen zu können, ob Trends in den Suizidraten mit einer veränderten Praxis der Todesursachenzuschreibung erklärt werden können. In einer Sensitivitätsanalyse untersuchten wir schließlich die (extreme) Annahme, alle Todesfälle mit unklarer Todesursache seien in Wirklichkeit Suizide gewesen. Dazu summierten wir Suizide und Todesfälle durch unklare Todesursachen und berechneten erneut die altersadjustierten relativen Risiken von Türken gegenüber Deutschen.

Ergebnisse

Im Untersuchungszeitraum 1980–1997 betrug die Gesamtzahl der erfassten Suizide unter in Westdeutschland lebenden Türkinnen und Türken 1.192, darunter 1.186 im Alter unter 65 Jahre; für Deutsche dieser Altersgruppe waren es 143.318 Todesfälle durch Suizid. Tabelle 1 zeigt eine Aufschlüsselung der absoluten Fallzahlen nach Geschlecht, Nationalität und Altersgruppe. Niedrige Fallzahlen unter Türkinnen und Türken in der Altersgruppe ab 45 Jahre ergeben sich zunächst aufgrund der im Vergleich zu den Deutschen jüngeren Altersstruktur dieser Teilbevölkerung.

Tabelle 1 Todesfälle durch Suizid nach Altersgruppe, Geschlecht und Nationalität, 1980–1997

Abbildung 2 zeigt die Suizidraten der türkischen Wohnbevölkerung nach Alter und Geschlecht. Sowohl bei Männern als auch bei Frauen ist die Sterblichkeit durch Suizid in der Altersgruppe 18–29 Jahre am höchsten. Bei Frauen ab 30 Jahre scheinen die Raten mit steigendem Alter tendenziell zu sinken. Bei Männern ab 30 Jahre ist ein solcher Trend nicht auszumachen. Die Suizidraten der Männer liegen deutlich höher als die der Frauen, mit Ausnahme der Altersgruppe 10–17 Jahre. Hier beträgt die MFQ 0,61 (95% KI: 0,42–0,86), das heißt, türkische Mädchen und junge Frauen haben eine höhere Suizidsterblichkeit als Jungen und junge Männer. In den anderen Altersgruppen liegen die MFQ zwischen 1,5 und 2,2, jeweils mit Konfidenzintervallen, die 1 nicht enthalten (Daten nicht gezeigt).

Abb. 2
figure 2

Suizidraten in der türkischen Wohnbevölkerung in Deutschland, 1980–97: Todesfälle ICD E950–959 je 100.000 Personen der betreffenden Alters- und Geschlechtsgruppe. Balken: 95%-Konfidenzintervalle

Im Vergleich zu Deutschen liegen die Suizidraten der türkischen Wohnbevölkerung deutlich niedriger. Tabelle 2 zeigt altersadjustierte relative Risiken von Türkinnen und Türken gegenüber Deutschen. Eine Ausnahme bilden die türkischen Mädchen und jungen Frauen im Alter unter 18 Jahren; bei ihnen ist das relative Risiko mit 1,79 (95% KI: 1,41–2,27) deutlich erhöht. Sie haben somit nicht nur ein signifikant höheres Risiko als türkische Jungen und junge Männer, sondern auch als ihre deutschen Altersgenossinnen.

Tabelle 2 Altersadjustierte relative Risiken für Suizid, Türkinnen und Türken vs. Deutsche

Die zeitliche Entwicklung der Suizidsterblichkeit türkischer Männer und Frauen untersuchten wir in 3 Sechs-Jahres-Perioden. Veränderungen in der Altersstruktur glichen wir durch eine direkte Standardisierung aus (Standard: Altersverteilung der türkischen Wohnbevölkerung ab Alter 10 Jahre). Bei den türkischen Männern ist tendenziell ein Anstieg der Suizidraten erkennbar, bei den türkischen Frauen ein signifikanter Rückgang (Tabelle 3).

Tabelle 3 Suizidsterblichkeit türkischer Männer und Frauen nach Zeitperioden, altersstandardisiert

Tabelle 4 zeigt den Anteil verschiedener Methoden an allen Todesfällen durch Suizid im Jahr 1998, aufgegliedert nach deutscher und nichtdeutscher Nationalität. Es fällt der etwas höhere Anteil von Todesfällen durch Feuerwaffen bei deutschen gegenüber nichtdeutschen Männern auf (10,1% vs. 6,9%, p<0,06), daneben der geringfügig niedrigere Anteil von Arzneimittelvergiftungen bei nichtdeutschen gegenüber deutschen Frauen (13,5% vs. 19,1%, p<0,15).

Tabelle 4 Anteil verschiedener Methoden an allen Suiziden, 1998, nach Nationalität

Tabelle 5 zeigt die Quote von Suiziden zu Todesfällen durch „Symptome und schlecht bezeichnete Affektionen“ (ICD-9 780–799) bei Türken und Deutschen. Bei Frauen unter 25 Jahren findet sich kein Unterschied. Bei Männern und im Alter ab 45 Jahre liegt die Quote bei Türken deutlich niedriger als bei Deutschen, d. h. relativ zur Zahl der berichteten Suizide wird bei ihnen eine größere Zahl von Todesfällen als „unklar“ kategorisiert. Im Verlauf der 3 in Tabelle 3 untersuchten Zeitperioden sank die Quote von Suiziden zu unklaren Todesfällen bei Türken ab (Daten nicht gezeigt).

Tabelle 5 Quote der Suizide zu den ungeklärten Todesursachen, Türken und Deutsche

In der Sensitivitätsanalyse kombinierten wir die Suizide mit den Todesfällen unklarer Ursache sowohl bei Türken als auch bei Deutschen und berechneten erneut die altersadjustierten relativen Risiken wie in Tabelle 2. Für die türkischen jungen Frauen ergab sich keine Veränderung, bei den jungen Männern stieg das relative Risiko von 0,34 auf 0,48. In der Altersgruppe 18–64 Jahre stieg das relative Risiko türkischer Männer von 0,27 auf 0,43, das der Frauen von 0,41 auf 0,51.

Diskussion

Interpretation der Ergebnisse

Dies ist eine der ersten Studien in Deutschland, in der Suizidraten von Menschen türkischer und deutscher Nationalität verglichen werden konnten. Frühere Studien berichteten bereits von einer im Vergleich zu Deutschen niedrigen Suizidsterblichkeit unter ausländischen Staatsbürgern insgesamt [18, 22], jedoch waren jeweils die Fallzahlen kleiner und eine Aufschlüsselung nach Nationalität nicht möglich. Suizidraten aus Nordrhein-Westfalen liegen zwar nach Nationalität aufgeschlüsselt vor, aber nur für einen kurzen Zeitraum und in grober Altersaufschlüsselung [31]. Wir fanden in der türkischen Wohnbevölkerung eine im Vergleich zu Deutschen insgesamt deutlich niedrigere Suizidrate. Angesichts ihrer durchschnittlich schlechteren sozioökonomischen Situation erscheint dies zunächst als Paradox. Wählt man jedoch die Bevölkerung der Türkei als Vergleichsstandard, so liegt die Suizidrate unter Türkinnen und Türken in Deutschland in einer ähnlichen Größenordnung. Offenbar wird ihr Suizidrisiko immer noch stärker durch Einflüsse determiniert, die auch im Herkunftsland zu niedrigen Raten führen, als durch Einflüsse aus Deutschland mit den vergleichsweise höheren Suizidraten. Die niedrige Suizidsterblichkeit in der Türkei wird von Sayil unter anderem mit religiösen Verboten des Suizids und einer stark ausgeprägten sozialen Kohärenz erklärt [24]. Auch in der türkischen Migrantenbevölkerung in Deutschland ist eine solche Kohärenz nachweisbar. Sie drückt sich zum einen in einer ausgeprägten Reziprozität sozialer Beziehungen aus [33], zum anderen in einem betonten Zusammenhalt und Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb türkischer Migrantenfamilien [9, 26].

Türkische Mädchen und junge Frauen allerdings haben ein höheres Suizidrisiko als ihre gleichaltrigen deutschen Geschlechtsgenossinnen und auch als gleichaltrige türkische Jungen und junge Männer in Deutschland. Diese Beobachtung ist von besonderer Relevanz, da für Mädchen und junge Frauen nach den „klassischen“ Risikofaktoren für Suizid ein niedriges Risiko zu erwarten gewesen wäre. Unsere Studie zeigt einmal mehr, dass ein Vergleich roher oder altersadjustierter Raten allein nicht ausreichend ist. Erst durch die geschlechtsspezifische Analyse und eine gleichzeitige Stratifizierung nach Altersgruppen konnten wir die besondere Gefährdung der jungen Türkinnen der Altersgruppe 10–17 Jahre in Deutschland ermitteln. Zu beachten ist allerdings, dass die absolute Zahl der Suizide in dieser Gruppe über den gesamten Beobachtungszeitraum lediglich 74 beträgt, bei insgesamt 1.181 Todesfällen durch Suizid unter Türkinnen und Türken.

Die vergleichsweise höhere Suizidsterblichkeit türkischer Mädchen und junger Frauen lässt sich, anders als bei jungen Frauen im ländlichen China [16], kaum durch fehlende soziale Unterstützung erklären. Türkische Eltern verhalten sich gegenüber ihren Kindern empathisch-liebevoll und neigen nicht dazu, ihre Forderungen rigide durchzusetzen [26]. Allerdings ist gerade für junge Frauen die Spannung zwischen traditionellen Rollenerwartungen und moderner Lebensform groß [9]. Konflikte zwischen Eltern und Töchtern entstehen häufig aus Normverletzungen, z. B. beim Umgang der Töchter mit Männern [26]. Sie können als Verletzung der Familienehre empfunden werden und zu eskalierenden Zwangsmaßnahmen führen [9]. Zukünftige Studien müssen klären, ob das Suizidgeschehen bei jungen türkischen Frauen mit solchen familiären Krisensituationen bzw. kulturellen Konflikten [33] assoziiert ist.

Die höhere Suizidsterblichkeit der jungen Türkinnen deutet nicht notwendigerweise auf eine erhöhte Prävalenz von psychiatrischen Erkrankungen hin. So fand sich unter jungen indischstämmigen Frauen in England eine im Vergleich zu jungen englischen Frauen deutlich erhöhte Suizidrate, die jedoch seltener auf vorbestehende psychiatrische Erkrankungen zurückzuführen war. Hingegen waren indischstämmige junge Frauen überproportional gefährdet, wenn sie verheiratet waren [17]. Aus der Türkei wird von einer früher hohen Suizidsterblichkeit junger verheirateter Frauen berichtet, die zeitgleich mit einem Anstieg der Scheidungsraten zu sinken begann [2]. In unserem Datensatz sind Angaben zum Familienstand der durch Suizid Verstorbenen nicht enthalten, ebenso fehlen Informationen zum Migrationsstatus. Es bleibt daher zu klären, ob die betroffenen türkischen jungen Frauen ledig oder verheiratet waren und ob sie in Deutschland geboren oder durch „Heiratsmigration“ erst kürzlich zugewandert waren. Angesichts der vergleichsweise hohen Suizidrate unter türkischen Mädchen und jungen Frauen in Deutschland sollte zudem untersucht werden, ob diese Gruppe auch in der Türkei besonders gefährdet ist.

Unter den türkischen Männern ist die Altersgruppe 18–29 Jahre am stärksten gefährdet, anders als bei deutschen Männern, deren Suizidrisiko mit dem Alter stark ansteigt. Das Muster unter türkischen Männern in Deutschland ähnelt eher dem in England und Wales. Dort war ein Anstieg der Suizidraten in der Altersgruppe 25–34 Jahre bis über das Niveau der älteren Männer hinaus zu beobachten, zeitgleich mit steigender Arbeitslosigkeit und zunehmendem Drogengebrauch [11, 15]. In Deutschland stieg die Arbeitslosenquote im Beobachtungszeitraum ebenfalls an: Im Jahr 1980 betrug sie insgesamt 3,5%, in der türkischen Bevölkerung jedoch 6,3%; 1997 lag sie in der türkischen Bevölkerung mit 24,0% mehr als doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung (10,7%) [3]. Viele Migrantenfamilien empfinden die Teilhabe am Arbeitsmarkt als besonders wichtigen Beitrag zur Integration [26], Arbeitslosigkeit könnte also auch in dieser Bevölkerungsgruppe ein Risikofaktor für Suizid sein. Da uns keine Angaben zur Arbeitslosigkeit auf individueller Ebene zur Verfügung standen, können mögliche ursächliche Parallelen zur Entwicklung in England und Wales zwar vermutet, aber nicht belegt werden.

Ein Auswahleffekt durch eine Gesundheitsuntersuchung vor der Migration [4] erscheint als Erklärung für die anhaltend niedrige beobachtete Suizidsterblichkeit von erwachsenen Türkinnen und Türken unwahrscheinlich. Ein solcher „Healthy-migrant“-Effekt würde kaum über Jahrzehnte anhalten [19]. Dieser Erklärung widerspräche auch, dass ein Teil der türkischen Arbeitsmigranten [35], insbesondere aber zahlreiche nachgezogene Familienangehörige, ohne Gesundheitsuntersuchung nach Deutschland eingereist sind. Alternativ wäre ein kontinuierlicher positiver Auswahlprozess durch die Remigration erkrankter oder sozial weniger erfolgreicher Einzelpersonen und Familien zu bedenken [20].

Mögliche Fehlerquellen und methodische Einschränkungen

Die insgesamt vergleichsweise niedrigen Suizidraten der türkischen Wohnbevölkerung lassen sich nicht allein durch Ungenauigkeiten in der Bezugsbevölkerung erklären, etwa durch eine Überschätzung der Bevölkerungszahl aufgrund Rückkehr in die Türkei ohne Abmeldung [23]. Zum einen findet sich eine insgesamt niedrige Sterblichkeit unter türkischen Staatsbürgern in Deutschland nicht nur in Registerstudien [20], sondern auch in Panelstudien, in denen die Bezugsbevölkerung jährlich aufgesucht wird [21]. Zum anderen ergaben sich bei der letzten Volkszählung für die türkische Wohnbevölkerung im Vergleich zu anderen ausländischen Nationalitäten nur geringe Unterschiede von +1,9% zwischen Zählergebnis und Bevölkerungsfortschreibung [6].

Wir haben in dieser Studie verschiedene Indikatoren für das Ausmaß einer Missklassifizierung von Suiziden bzw. für Kaschierungstendenzen untersucht. Der Vergleich der Anteile verschiedener Methoden an allen Todesfällen durch Suizid bei Nichtdeutschen und Deutschen (Tabelle 4) ergab keine signifikanten Unterschiede und damit keine Hinweise auf nationalitätenabhängige Unterschiede bei Kaschierungstendenzen. Ungenauigkeiten bei der Zuschreibung der Todesursache Suizid gibt es—neben den höheren Altersgruppen, die in unsere Analyse nicht einbezogen sind—vor allem unter Jugendlichen [5, 7, 12]. Ein Anzeichen für eine selektive Missklassifizierung von Suiziden als Unfälle wäre eine im Vergleich zu Deutschen auffallend hohe Sterblichkeit an Verkehrsunfällen unter jungen Erwachsenen ausländischer Nationalität; diese liegt aber sowohl für ausländische Jugendliche im Alter von 15–24 Jahren insgesamt [30] als auch für Türkinnen und Türken im Alter von 15–29 Jahren in Nordrhein-Westfalen [31] deutlich niedriger als in der deutschen Bevölkerung.

Ein weiterer Indikator für das mögliche Ausmaß einer Missklassifizierung von Suiziden ist die Quote von Suiziden zu ungeklärten Todesfällen. In Westdeutschland liegt diese Quote in der Altersgruppe 15–19 Jahre im europäischen Mittelfeld (England und Wales: 1,16; Westdeutschland: 6,82; Norwegen: 24,75; Zeitraum jeweils 1980–1994, Quelle: [12]). In unserer Analyse (Tabelle 5) fanden wir eine niedrigere Quote—und damit einen vergleichsweise höheren Anteil an ungeklärten Todesfällen—bei Türken relativ zu Deutschen. Da die Quote aber über die Zeit nicht ansteigt, lässt sich der zunehmende Trend in der Suizidrate unter türkischen Männern nicht als Artefakt durch eine veränderte Praxis der Todesursachenzuschreibung erklären. Unsere Sensitivitätsanalyse zeigt, dass auch unter Einbeziehung aller ungeklärten Todesfälle die Suizidsterblichkeit von erwachsenen Türkinnen und Türken deutlich niedriger liegt als die von Deutschen. Selbst eine massive Missklassifizierung würde also die beobachteten Unterschiede nicht erklären.

Eine weitere methodische Einschränkung ergibt sich daraus, dass die Nationalität nicht identisch mit der Herkunft ist. So haben besonders seit 1994 viele in Deutschland lebende Jugendliche türkischer Nationalität die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen [3]. Suizide in dieser Untergruppe werden somit als deutsche Fälle kategorisiert. Da auch die Bevölkerungszahlen entsprechend angepasst werden, hätten Wechsel der Staatsbürgerschaft nur dann einen Einfluss auf die beobachteten türkischen Suizidraten, wenn Türken, welche die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, ein vom Durchschnitt der türkischen Wohnbevölkerung abweichendes Suizidrisiko aufweisen würden.

Schlussfolgerungen

Trotz einiger Einschränkungen zeigt unsere Studie erstmals, dass unter Türkinnen und Türken in Deutschland das Suizidrisiko anders verteilt ist als in der deutschen Allgemeinbevölkerung. Gefährdet sind vor allem jüngere Menschen, insbesondere Mädchen und junge Frauen. Interventionen zur Suizidprävention bei Türken müssen sich daher auch gezielt an diese Gruppen richten. Einen Anstieg der Suizidraten fanden wir nur als Tendenz und nur bei türkischen Männern. Diese Beobachtung sowie die insgesamt niedrige Suizidsterblichkeit von Türkinnen und Türken in Deutschland dürfen aber nicht als Hinweis auf eine überdurchschnittlich gute psychische Gesundheit interpretiert werden. Ein Suizid ist vielmehr Endpunkt eines multikausalen Geschehens, das von weiteren individuellen und gesellschaftlichen Faktoren determiniert wird, die sich für Türken und Deutsche deutlich unterscheiden können.