Depressive Störungen sind bei körperlich Kranken häufig und führen bei den betroffenen Patienten zu zusätzlichem, oft erheblichem Leidensdruck. Sie wirken sich auf den Verlauf der körperlichen Erkrankung im Allgemeinen ungünstig aus. Es bestehen vielfältige psychologische und biologische Verbindungen zwischen körperlichen Erkrankungen und unterschiedlichen depressiven Syndromen. Ausmaß und Konsequenzen dieser Komorbidität, ihre sozioökonomischen Implikationen, aber auch die vorhandenen effizienten therapeutischen Möglichkeiten stehen in einem erstaunlichen Kontrast zu einer in der medizinischen Routineversorgung körperlicher Kranker nach wie vor mangelhaften Diagnostik und Therapie depressiver Störungen.

Diagnostik depressiver Störungen bei körperlich Kranken

Abgrenzung von Trauer und Depression

Die Diagnostik depressiver Erkrankungen orientiert sich auch bei körperlich Kranken grundsätzlich an den von international akzeptierten Klassifikationen (ICD-10/ DSM-IV) vorgegebenen diagnostischen Kriterien. Alle Arten depressiver Störungen kommen bei körperlich Kranken vor, jedoch unterscheidet sich die Verteilung der einzelnen Kategorien und die Symptomausprägung von denjenigen, die bei psychiatrischen Patienten ohne somatische Komorbidität anzutreffen sind. Psychoreaktive Störungen im Sinne der Anpassungsstörungen kommen vergleichsweise häufiger vor. Auch scheint die Symptomatik anderer Depressionsformen oft weniger stark ausgeprägt und durch andere Symptomkonstellationen gekennzeichnet (s. unten).

Als besonderes hinderlich für eine sachgerechte Diagnostik und Therapie depressiver Störungen muss die Vorstellung angesehen werden, einem körperlich Kranken, insbesondere einem Schwerkranken, solle angesichts der gegebenen Lebensumstände und -erwartungen ärztlicherseits eine Depression als normale Reaktion zugestanden werden. Dieser Standpunkt impliziert die Verwischung des Unterschieds zwischen Trauer und Depression und führt letztlich zu therapeutischer Untätigkeit mit allen Konsequenzen in einer Situation, in der Patienten durchaus noch an Lebensqualität gewinnen können.

Bei Patienten mit körperlichen Erkrankungen, insbesondere beim Vorliegen schwerer und chronischer Verläufe, kommt es zunächst darauf an, Trauer, pathologische Trauer und Depression voneinander abzugrenzen. Obwohl die wissenschaftliche Diskussion um die diagnostische Validierung von Trauerreaktionen noch im Fluss ist [8, 45, 55], ist eine Abgrenzung dieser Zustände in der Praxis von erheblicher Bedeutung.

Trauer stellt einen normalen und letztlich gesundheitsfördernden Prozess dar, während pathologische Trauer und erst recht eine Depressionserkrankung mit einer qualitativ bedeutsamen, psychopathologischen Symptomatik, deutlichen Einschränkungen im Erleben und Verhalten und einem Chronifizierungsrisiko einhergehen. Die Abgrenzung von Trauer, pathologischer Trauer und Depression kann schwierig sein, nicht zuletzt, da die Grenzen der entsprechenden psychopathologischen Syndrome fließend sind.

Trauer

Trauer ist eine „natürliche“ Reaktion auf einen Verlust, in deren Rahmen sich der Trauernde intensiv mit dem verlorenen Objekt auseinander setzt, wobei typischerweise verschiedene Phasen durchlaufen werden [45]. Dieser Prozess ist verbunden u. a. mit Trennungsschmerz, häufiger innerer Beschäftigung mit dem Verlorenen (womit nicht nur eine Person, sondern auch eigene Lebensumstände und -wünsche, von denen der Betreffende sich verabschieden muss, gemeint sind) und intensiver Sehnsucht; er mündet jedoch schließlich in die emotionale und kognitive Akzeptanz des Verlusts und die innere Lösung vom verlorenen Objekt. Hiermit kann ein geliebter Mensch ebenso gemeint sein wie die eigene körperliche Gesundheit und Unversehrtheit.

Pathologische Trauerreaktion

Die pathologische Trauerreaktion unterscheidet sich von der normalen Trauerreaktion dahingehend, dass dieser Prozess von intensiveren Symptomen begleitet wird, länger anhält und nicht zu einer inneren Lösung vom verlorenen Objekt führt. Er ist mit signifikanten Beeinträchtigungen in der Lebensführung verbunden, die sich auch für die weitere Lebensgestaltung nachteilig auswirken können. Die pathologische Trauerreaktion wird in ICD-10 und DSM-IV als depressive Reaktion (Anpassungsstörung) aufgefasst. Es lassen sich 2 Subtypen der pathologischen Trauer abgrenzen:

  • Die gehemmte Trauerreaktion wird im Allgemeinen als die typische Form der pathologischen Trauer angesehen. Diese Form der Trauer ist dadurch gekennzeichnet, dass der entsprechend der Auslösesituation erwartbare Affekt der Traurigkeit nicht wahrgenommen bzw. ausgedrückt werden kann. An seine Stelle tritt häufig eine emotionale Reglosigkeit bis zur affektiven Versteinerung, oft begleitet von Interessenverarmung, Schwunglosigkeit, diffusen körperlichen (!) Beschwerden und sozialem Rückzug.

  • Die traumatische Trauerreaktion kann ebenfalls als Sonderform der pathologischen Trauer angesehen werden. Zu dieser empirisch inzwischen recht gut untersuchten Form pathologischer Trauer [46, 55, 87] gehören insbesondere intrusive Gedanken und Erinnerungen an das Verlorene, Gefühle der Einsamkeit, innerer Leere und Sinnlosigkeit, Gefühle emotionaler Betäubung und Unempfänglichkeit sowie die Weigerung, den Verlust zu akzeptieren.

Während die Symptomkonstellation der gehemmten Trauerreaktion Ähnlichkeiten mit der somatisierten Depression aufweist, sind bei der traumatischen Trauerreaktion eher symptomatische Überschneidungen mit der posttraumatischen Belastungsstörung erkennbar.

Depressive Erkrankungen

Depressive Erkrankungen sind gekennzeichnet durch das Vorliegen eines depressiven Kernsyndroms mit traurig-gedrückter Verstimmung und Freudlosigkeit, Verminderung von Interesse und Aktivität sowie psychomotorischer Beeinträchtigung. Hinzu treten fakultativ somatische und kognitive Beschwerden und Symptome oder auch psychotische Merkmale.

Besonderheiten der Depressionsdiagnostik bei körperlich Kranken

Mit vielen akuten und chronischen körperlichen Erkrankungen gehen Abgeschlagenheit, Müdigkeit und erhöhte Erschöpfbarkeit, aber auch Appetitmangel und Libidoverlust einher. Diese Beschwerden und Krankheitsmerkmale können daher bei den betroffenen Patienten diagnostisch nicht a priori als Symptome einer Antriebsstörung bzw. Vitalstörung im Rahmen einer Depressionserkrankung gewertet werden. Die Diagnose einer depressiven Erkrankung sollte sich zumindest bei schwerer körperlich Erkrankten weniger auf die Feststellung von Antriebsdefiziten, psychomotorischen Defiziten und Vitalstörungen beziehen, als vielmehr auf kognitive Inhalte sowie insbesondere auf die Qualität und das Ausmaß der Verstimmung. Dieser Leitgedanke manifestiert sich in einem praktikablen Entwurf für diagnostische Kriterien, den Endicott [26] ursprünglich für depressive Störungen bei Krebserkrankungen vorgelegt hat und der inzwischen mehrfach validiert wurde (Tabelle 1). Die DSM-IV-Kriterien der 4 „somatischen“ Symptome Verlust von Appetit/Gewicht, Schlaflosigkeit oder übermäßiges Schlafbedürfnis, Verlust von Energie bzw. erhöhte Erschöpfbarkeit und verminderte Konzentrationsfähigkeit werden ersetzt durch 4 „nichtsomatische“ Symptome: depressives oder ängstliches Erscheinungsbild, vermindertes Sprechen und sozialer Rückzug, Freudlosigkeit und verminderte Aufheiterbarkeit sowie pessimistisch bestimmte Grübelneigung. Auch wenn diese Kriterien nicht unumstritten sind und andere Ansätze vorgeschlagen wurden (z. B. [76]), haben sie Eingang in Praxis und Forschung gefunden. Für die Praxis ist es ratsam, diese für die Beurteilung von Schwerkranken entwickelten Kriterien und die dahinter stehende Grundüberlegung im Kontext mit der eigenen klinischen Erfahrung als diagnostische Leitlinie aufzugreifen, sie jedoch nicht schematisch in jedem Verdachtsfall anzuwenden, da sie (insbesondere bei leichter körperlich Kranken) zur Unterschätzung depressiver Morbidität führen können.

Tabelle 1 Modifizierte Kriterien zur Diagnostik einer schweren Depression („major depression“) bei körperlichen Erkrankungen nach Endicott (1984)

In medizinischen Behandlungskontexten, in denen viele körperlich kranke Patienten versorgt werden (Allgemeinarztpraxis, Krankenhaus), wäre es von großem Nutzen, wenn komorbide Depressionserkrankungen frühzeitig und mit ernst zu nehmender Validität diagnostiziert würden. Hierfür bietet sich die Benutzung von Screeninginstrumenten an, die auch von medizinisch weniger gut Ausgebildeten angewendet werden können. Das gut validierte und derzeit vermutlich geeignetste Instrument ist die Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS, [40], 105]). Die deutsche Adaptation basiert auf 14 Merkmalen, aus denen je eine Angst- und Depressivitäts-Subskala gebildet werden. Auch diese Skala verzichtet auf die körperliche Dimension psychischen Befindens, die bei somatisch Kranken häufig Ausdruck der körperlichen Krankheit und nicht einer psychischen Störung ist. Die Erreichung eines kritischen Punktwerts (>10) legt den Verdacht auf das Vorliegen einer Depression oder Angststörung nahe und sollte zur eigentlichen psychiatrischen Diagnostik Anlass geben.

Häufigkeit und Verlauf depressiver Störungen bei körperlich Kranken

Ein Überblick über Häufigkeit und Verlauf depressiver Störungen bei Patienten mit somatischen Erkrankungen kann durch Untersuchungen größerer Stichproben in Allgemeinkrankenhäusern und Allgemeinarztpraxen gewonnen werden. Die Häufigkeit (Punktprävalenz) depressiver Störungen bei Allgemeinkrankenhauspatienten beträgt etwa 15%. Die hierzu vorliegenden empirischen Untersuchungen, die mit strukturierten bzw. standardisierten Interviews durchführt wurden, stimmen bezüglich dieser Prävalenzrate erstaunlich gut überein [2]. Wird zwischen verschiedenen Depressionsformen differenziert, zeigt sich, dass etwa 30–50% der Gesamtmorbidität auf schwere und etwa 50–70% auf leichtere Depressionsformen („major depression“ vs. „minor depression/dysthymia“) entfallen. So ergab z. B. die Differenzierung in der Lübecker Allgemeinkrankenhausstudie die folgenden Prävalenzraten: 0,3% organische (sekundäre) Depression, 3,8% depressive Episoden, 4,3% Dysthymien und 7,3% depressive Reaktionen [4], wobei keine signifikanten Unterschiede zwischen der internistischen und der chirurgischen Stichprobe gefunden wurden. Wancata et al. [100] fanden bei ähnlich hoher Gesamtmorbidität eine etwas geringere Prävalenz depressiver Erkrankungen in der Chirurgie, während sich in der Gynäkologie und auf Rehabilitationsstationen bei etwa gleicher Gesamtmorbidität die Schweregrade in Richtung auf leichtere Depressionen verschoben zeigten. In diesen Stichproben zeigte sich auch, dass das Risiko, an einer Depression zu leiden, durch eine höhere subjektive Beeinträchtigung und insbesondere durch mögliche Lebensbedrohlichkeit aufgrund der somatischen Erkrankung erhöht ist [39, 95]. Weiterhin sollte auch die substanzielle Komorbidität mit anderen psychischen Störungen bedacht werden, insbesondere mit Alkoholabhängigkeit/-missbrauch und Angsterkrankungen [3, 72].

Die genannten Untersuchungen liefern aus versorgungsepidemiologischer Perspektive die Grundlage für eine Schätzung der psychischen Gesamtmorbidität in Stichproben von Krankenhausabteilungen, weshalb hinsichtlich der jeweiligen somatischen Erkrankungen sehr heterogene Stichproben untersucht wurden. Wird die Häufigkeiten depressiver Störung jedoch auf einzelne somatische Erkrankungsbilder (d. h. homogenere Stichproben) bezogen, so findet sich eine erhebliche Variation mit den höchsten Morbiditätsraten (etwa 30–60%) bei Krebserkrankungen und zerebralem Insult (s. unten).

Zum weiteren Verlauf depressiver Störungen nach Beendigung der Krankenhausbehandlung liegen erstaunlich wenige Untersuchungen vor; es ist jedoch mit einer Persistenz depressiver Erkrankungen über 1 Jahr bei etwa 30–40% der betroffenen Patienten zu rechnen [75]. Dieser Gesichtspunkt erscheint umso problematischer, als dass im Allgemeinkrankenhaus zwar, relativ gesehen, ein beträchtlicher Anteil von Konsilen wegen Problemen angefordert werden, die im Zusammenhang mit depressiven Erkrankungen stehen, die Anforderungsraten von Konsilen mit im Mittel etwa 2% weit unterhalb der Morbiditätsraten bzgl. psychischer Störungen liegen [6].

Auch in der Klientel von Hausärzten und Internisten findet sich eine substanzielle, psychiatrische Morbidität. Die methodisch sorgfältig angelegte und in mehreren Ländern durchgeführte WHO-Studie lässt auf eine Häufigkeit depressiver Erkrankungen von etwa 12–13% schließen [35, 65, 66]. Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, dass in diese Prävalenzrate sowohl Menschen eingehen, die neben Ihrer körperlichen Erkrankung an einer komorbiden Depression leiden, als auch solche, die mit psychischen Symptomen bzw. körperlichen Symptomen ohne organische Ursache in die Arztpraxis kommen und bei denen eine Depression ohne körperliche Erkrankung besteht. Das Vorliegen einer körperlichen Erkrankung stellt aber auch in diesen Stichproben ein Risiko für Depression dar und bildet einen ungünstigen Faktor für die weitere Prognose der depressiven Störung. Eine Nachuntersuchung der deutschen Teilstichprobe der WHO-Hausarzt-Studie ergab, dass nach 1 Jahr bei 1/3 der Fälle ein rezidivierender oder chronischer Verlauf vorlag, der auch zu einem hohen Grad von sozialer Behinderung führte [59].

Typologie pathogenetischer Zusammenhänge

Von verschiedenen Autoren wurden Klassifikationsvorschläge für mögliche Zusammenhänge zwischen körperlichen und psychischen Erkrankungen gemacht. Im Wesentlichen ist derzeit die folgende Typologie entsprechender Zusammenhänge (mit Beispielen) akzeptiert:

  • Psychische und körperliche Erkrankung bestehen unabhängig voneinander.

    Dieser Zusammenhangstypus ist vermutlich der häufigste. In einer Allgemeinkrankenhausstichprobe wurden über die Hälfte der depressiven Episoden, aber auch der Dysthymien als unabhängig von der körperlichen Erkrankung eingeschätzt [4].

  • Die psychische Erkrankung wird durch die körperliche Erkrankung verursacht.

    Häfner [38] hat darauf hingewiesen, dass für diesen Zusammenhangsmodus im Wesentlichen 3 Mechanismen erkennbar sind.

    1. 1.

      Durch eine psychische (Fehl-?)Verarbeitung einer körperlichen Erkrankung wird eine depressive Symptomatik hervorgerufen. Dies ist in erster Linie bei der depressiven Reaktion der Fall.

    2. 2.

      Die depressive Symptomatik wird durch die körperliche Erkrankung selbst oder ihre Behandlung hervorgerufen. Dies ist z. B. bei organischen Hirnerkrankungen oder bei der Behandlung von Hepatitis C mit Interferon-α (s. unten) der Fall.

    3. 3.

      Ein gemeinsamer Faktor verursacht wesentlich sowohl die körperliche wie auch die psychische Erkrankung. Dies könnte z. B. bei chronischem Stress der Fall sein, der zum einen ein erhöhtes Depressionsrisiko bedingt, zum anderen z. B. ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung eines metabolischen Syndroms und damit ein kardiovaskuläres Risiko darstellt [71].

  • Die psychische Erkrankung wird durch die körperliche Erkrankung verschlimmert.

    Eine bereits vorbestehende Depression kann durch das Hinzukommen einer körperlichen Erkrankung sowohl hinsichtlich ihrer Symptomausprägung wie ihres Verlaufs verschlimmert werden. Eine derartige Verschlimmerung fand sich bei etwa 1/3 depressiver Allgemeinkrankenhauspatienten [4]

  • Die körperliche Erkrankung wird durch die psychische Erkrankung verursacht.

    Eine solcher Zusammenhangstypus könnte dem epidemiologisch nahezu gesicherten Befund zugrunde liegen, dass insbesondere schwere Depressionen einen unabhängigen Risikofaktor für die Entstehung von kardiovaskulären Erkrankungen darstellen. Allerdings sind aufgrund der gegenwärtigen Datenlage auch andere Interaktionsmodi denkbar, wie z. B. die (Mit-)Verursachung durch einen gemeinsamen Faktor, z. B. psychosozialen Stress oder sogar die Auslösung einer Depression durch subtile entzündliche Veränderungen am arteriellen Gefäßsystem.

  • Die körperliche Erkrankung wird durch die psychische Erkrankung verschlimmert.

    So wird z. B. das Mortalitätsrisiko nach einem überstandenen Herzinfarkt durch eine schwere Depression um das 3-bis 5fache erhöht. Die Prognose von Brustkrebserkrankungen, möglicherweise auch anderer Krebserkrankungen, wird verschlechtert.

  • Die körperlichen Symptome sind nicht körperlichen, sondern psychischen Ursprungs (Somatisierung).

Die Aufklärung dieser Zusammenhänge bei einzelnen somatischen Krankheitsbildern stellt weiterhin eine besondere wissenschaftliche Herausforderung dar. Diese Bemühungen sind insofern praktisch bedeutsam, als sich hieraus wirksame Interventionsstrategien ergeben können. So wird z. B. mit großer Intensität an der Aufklärung der biologischen Verbindungen zwischen schwerer Depression und kardiovaskulärer Erkrankung gearbeitet. Gleichzeitig wird in der Praxis versucht, mit Hilfe von Interventionen nicht nur das Ausmaß individueller Depressivität zu vermindern, sondern auch die kardiale Prognose zu verbessern, derzeit allerdings (noch?) ohne greifbaren Erfolg.

Einfluss depressiver Störungen auf den Verlauf körperlicher Erkrankungen

Es kann davon ausgegangen werden, dass das Vorliegen einer depressiven Erkrankung in vielen Fällen einen negativen Einfluss auf den Verlauf einer körperlichen Erkrankung hat (Übersicht: [54]). Dies gilt insbesondere für die koronare Herzerkrankung; bei anderen Krankheiten, wie z. B. Krebserkrankungen oder terminaler Niereninsuffizienz ist dieser Zusammenhang jedoch umstritten. In einer nicht nach Krankheitsgruppen ausgewählten internistisch-stationären Stichprobe fand sich bei konsekutiv untersuchten Aufnahmen ein unabhängiger Einfluss von Depressivität (dimensional) auf die Gesamtmortalität [41].

Das Risiko für „Non-Compliance“ bezüglich einer medizinischen Behandlung ist bei Depressiven im Mittel um das etwa 3fache (!) erhöht, wie eine von DiMatteo et al. [25] durchgeführte Metaanalyse über 12 Studien zeigte. Hierfür können zum einen die mit depressiven Erkrankungen verbundene, resignative Bedrücktheit und Antriebshemmung, möglicherweise aber auch eine brüchigere soziale Integration sowie kognitive Defizite im Rahmen der Depressionserkrankung verantwortlich gemacht werden.

Studien aus dem letzten Jahrzehnt zeigen aber zunehmend, dass insbesondere die schwere Depression („major depression“) über verschiedene biologische Wege Einfluss auf den Verlauf einer körperlichen Erkrankung nimmt, wobei insbesondere die mit schweren Depressionen einhergehenden biologischen Veränderungen als „Kandidaten“ für mögliche Einflussnahmen auf körperliche Erkrankungen gelten (Tabelle 2). Hierzu zählen der veränderte Tonus des vegetativen Nervensystems, die Hochregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, die vermehrte Thrombozytenaggregation sowie die komplexen Veränderungen immunologischer Subsysteme, insbesondere die Aktivierung proinflammatorischer Mechanismen [15, 24].

Tabelle 2 Mit Depression und psychosozialem Stress assoziierte biologische Mechanismen, die zur Entstehung körperlicher Erkrankungen führen bzw. diese signalisieren können

Besonders deutlich wird der negative Einfluss depressiver Erkrankungen auf den Verlauf einer körperlichen Erkrankung bei überstandenem Herzinfarkt. Das Vorliegen einer schweren Depression ist als unabhängiger Prädiktor für die Mortalität zu sehen, der die kardiale Mortalität etwa um das 3fache erhöht [34]. Aber auch bei Patienten nach zerebrovaskulären Insulten ist die Mortalität bei bestehender Depression signifikant erhöht [48]. Ein erhöhtes Mortalitätsrisiko scheint aber nicht nur für ein Spektrum vaskulärer Erkrankungen zu bestehen, sondern wird auch für Krebserkrankungen, insbesondere das Mammakarzinom diskutiert [81].

Depression bei bestimmten körperlichen Erkrankungen

Im Folgenden wird auf diejenigen körperlichen Erkrankungen bzw. Erkrankungsgruppen eingegangen, die hinsichtlich ihres ambulanten und stationären medizinischen Versorgungsbedarfs besonders ins Gewicht fallen und bei denen Depressionen signifikant gehäuft vorkommen.

Koronare Herzerkrankung

Die Beziehungen zwischen koronarer Herzerkrankung und depressiven Störungen haben seit etwa 10 Jahren intensives Forschungsinteresse auf sich gezogen. Zu dieser Thematik liegen vielfältige, umfassende und praxisrelevante Übersichtsarbeiten vor [42, 61].

Die Beziehungen zwischen Depressionsneigung und koronarer Herzerkrankung sind komplex und möglicherweise auch wechselseitig. In jüngerer Zeit wurde insbesondere der Einfluss depressiver Störungen auf die kardiale Morbidität und Mortalität untersucht. Bei zunächst Herzgesunden muss das Vorliegen einer schweren (aber auch einer leichteren) Depression heute als unabhängiger Risikofaktor neben den bekannten Risikofaktoren für die Entwicklung einer koronaren Herzerkrankung angesehen werden. Schwere Depressionen scheinen das Risiko um das etwa 3- bis 4fache zu erhöhen [34]. Beim Vorliegen einer koronaren Herzerkrankung bzw. nach überstandenem Myokardinfarkt muss bei etwa 20% der Patienten mit dem Vorliegen einer schweren Depression gerechnet werden [79]. Werden leichtere Depressionsformen (einschließlich depressiver Reaktionen) mit einbezogen, ist die Prävalenzrate mit 40% doppelt so hoch [92]. Etwa 2/3 beider Depressionsformen scheinen zumindest über Monate zu persistieren. Das Vorliegen einer Depression stellt einen unabhängigen Risikofaktor für kardiale Mortalität nach einem Herzinfarkt dar und erhöht das Risiko eines Herztods um das etwa 3fache. Der Schweregrad der depressiven Symptomatik nach dem Infarkt scheint mit dem Mortalitätsrisiko zu korrelieren, selbst noch nach 5 Jahren [62].

Eine Metaanalyse von 29 Studien hat gezeigt, dass Patienten mit einer koronaren Herzerkrankung von einer Rehabilitation profitieren, die psychosoziale Interventionen mit einschließt [67]. Über die Anwendung verschiedener Verfahren wie Stressmanagement, Gruppen und Einzelpsychotherapie hinweg konnte ein signifikant positiver Einfluss auf verlaufsprädiktiv wichtige Parameter, wie z. B. subjektiven Stress, Herzfrequenz, systolischen Blutdruck und Cholesterinspiegel gezeigt werden. Das (Wieder-)Auftreten von Infarkten und die Mortalität der unbehandelten Kontrollgruppe waren mit einem relativen Risiko von 1,8 bzw. 1,7 in einem Zeitraum von 2 Jahren signifikant erhöht.

Insgesamt scheinen nach derzeitigem Kenntnisstand Rehabilitationsprogramme, in denen somatische Rehabilitation, stressreduzierende Maßnahmen sowie individuelle Psychotherapie kombiniert werden, ein geeignetes Mittel zur Prävention weiterer kardialer Ereignisse zu sein. Zwar existieren bisher keine Studien, die die Effektivität von psychotherapeutischen Maßnahmen in Bezug auf eine Reduktion der Mortalität bestätigen. Andererseits sind aber auch keine kardiotoxischen Wirkungen der Psychotherapie bekannt [14]. Erste Ergebnisse größerer Interventionsstudien, wie der Enhancing Recovery in Coronary Heart Disease Study (ENRICHD), in der Patienten, die nach erlittenem Herzinfarkt an einer Depression litten, verhaltenstherapeutisch behandelt wurden, zeigen, dass antidepressive Interventionen zwar die Lebensqualität der Betroffenen verbesserten, jedoch wider Erwarten nicht in der Lage waren, das Wiederauftreten von Infarkten oder die kardiale Mortalität zu senken (24,4% Todesfälle in der Interventionsgruppe, 24,2% in der Kontrollgruppe nach im Mittel 41-monatiger Beobachtungszeit [69]. Eine Verbesserung der sozialen Unterstützung hingegen scheint einen günstigen Effekt auf die kardiale Mortalität zu haben [19]. Die weitergehende Analyse der Studiendaten, sowie die Ergebnisse anderer Studien sollten jedoch vor einer definitiven Schlussfolgerung abgewartet werden.

Im Hinblick auf eine antidepressiv wirksame Pharmakotherapie ist die Anwendung von klassischen trizyklischen Antidepressiva (TCA) mittlerweile zumindest umstritten. Die relativ hohe Rate an kardiovaskulären Nebenwirkungen, wie z. B. die Auslösung und Verstärkung von Reizleitungsstörungen insbesondere am vorgeschädigten Herzen, die Zunahme der Schlagfrequenz, orthostatische Beschwerden sowie die Auslösung deliranter Syndrome hat zu größter Zurückhaltung im Einsatz dieser Präparate in der kardiologischen Rehabilitation geführt. Es ließ sich sogar zeigen, dass mit TCA behandelte Patienten eine größere kardiale Mortalität aufwiesen als Patienten, die überhaupt nicht oder mit SSRI behandelt wurden [17]; entsprechende Risiken wurden im Tierexperiment bestätigt. Die Zurückhaltung gegenüber einer ausreichend dosierten und konsequenten Pharmakotherapie wirkt in der Praxis offenbar bis heute fort, obwohl sich die Behandlung mit SSRI inzwischen nicht nur als effektiv bezüglich der Depressionsbehandlung, sondern auch als risikoarm zeigt. Die Ergebnisse von Untersuchungen in den 90er-Jahren, aber auch erster gezielter Interventionsstudien weisen darauf hin, dass SSRI (Sertralin, Paroxetin) von Patienten nach einem Herzinfarkt gut vertragen werden und ohne zusätzliche kardiale Gefährdung zur Reduktion der depressiven Symptomatik führen [69, 94]. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass das Infarktrisiko bei gefährdeten Personen (Rauchern), die noch keinen Infarkt erlitten haben, durch die Einnahme von SSRI vermindert wird [91]. Allerdings ließ sich bisher nicht zeigen, dass eine medikamentöse Reduktion der Depressivität zu einer geringeren kardialen Mortalität führt.

Die derzeitige Evidenzlage rechtfertigt eine antidepressive, medikamentöse Behandlung zumindest zur Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen. Zu beachten ist aber das nicht unbeträchtliche Interaktionspotential mancher SSRI mit häufig eingesetzten, kardial wirksamen Medikamenten. So wird u. a. der Abbau von Antiarrhythmika, Betablockern und Kalziumantagonisten bei gleichzeitiger Gabe von SSRI über eine durch das Cytochrom-p450-System vermittelte kompetitive Abbauhemmung verzögert. Bevorzugt werden sollten daher SSRI bzw. „dual“ (serotonerg und noradrenerg) wirksame Antidepressiva mit möglichst geringem Interaktionspotenzial.

Herzinsuffizienz

Ausgehend von der Häufigkeit depressiver Syndrome beim Vorliegen einer koronaren Herzerkrankung kann in jüngster Zeit ein zunehmendes Interesse am Zusammenhang von Herzinsuffizienz und Depression beobachtet werden. Dieses Interesse ist auch insofern nachvollziehbar, als ein Großteil der Herzinsuffizienzen aus koronaren Erkrankungen entsteht und es sich vor allem um symptomatisch bedeutsame und mit Einschränkungen verbundene Erkrankungen handelt. Freedland et al. [32] haben gezeigt, dass bei Herzinsuffizienz 20% der Betroffenen an einer schweren und 16% an einer leichteren Depression leiden. Auf der Grundlage einer Selbstbeurteilungsskala (Beck-Depressionsinventar) zeigten sich bei insgesamt 51% der Patienten erhöhte Werte (>10). Das Vorliegen einer Depression scheint die kardiale Mortalität bei dieser Patientengruppe etwa zu verdoppeln und führt zu häufigeren Rehospitalisierungen [52]. Eine Depression scheint andererseits einen unabhängigen Risikofaktor für die Entwicklung einer Herzinsuffizienz zumindest bei Frauen darzustellen [103].

Bei Herzinsuffizienz haben sich verhaltenstherapeutisch orientierte Stressmanagementprogramme bewährt. Für die Pharmakotherapie gelten die gleichen Überlegungen wie allgemein im Fall der koronaren Herzerkrankung.

Zerebraler Insult

Es ist seit langem bekannt, dass nach zerebralen Insulten gehäuft depressive Störungen auftreten [48]. Whyte und Mulsant [102] stellten die Punktprävalenzraten für die Major Depression nach Schlaganfall in Abhängigkeit vom Abstand zum Ereignis aus den derzeit vorliegenden Studien zusammen. Innerhalb eines Zeitraums von 2 Wochen entwickeln etwa 25% der Patienten eine Major Depression, nach 3–4 Monaten sind die Prävalenzraten im Mittel noch genauso hoch, nach 1 Jahr liegen sie etwa bei 10–15%. In 2 Untersuchungen wurden nach 2 Jahren noch Raten um 20% gefunden. Eine systematische Übersicht über die möglichen Risikofaktoren für die „poststroke-depression“ [88] ergab, dass als wahrscheinliche Risikofaktoren zu gelten haben: Depression in der Anamnese, psychiatrische Symptome in der Anamnese, Dysphasie, funktionelle Einschränkungen nach dem Insult, Alleinleben und soziale Isolation nach dem Insult. Weniger eindeutig ist der Einfluss von Alter, Geschlecht, sozioökonomischem Status, sozialem Stress vor dem Insult, Abhängigkeit von der Hilfe anderer nach dem Insult.

Die Mechanismen, die nach einem Insult an der Entstehung eine Depression beteiligt sind, lassen sich also in eher psychologische und eher biologische Faktoren aufteilen. Zu den psychologischen Mechanismen gehören zum einen die durch eine psychiatrische Vorgeschichte gekennzeichneten, persönlichkeitsgebundenen Probleme, die nach dem Insult zu einer verringerten Fähigkeit zur Krankheitsbewältigung (Coping) führen können. Andererseits ist aber auch gut nachvollziehbar, dass ausgedehnte Läsionen (direkte Beziehung zu Depressionshäufigkeit) und die hiermit verbundenen funktionellen Einschränkungen nur schwerlich bewältigt werden können (d. h. die Coping-Fähigkeit überfordern). Als biologischer Mechanismus kann eine genetische Prädisposition für depressive Erkrankungen angenommen werden, die sich unter bestimmten Lebensumständen realisiert. Zum anderen können aber auch die Infarktbezirke gerade jene Hirnreale betreffen, die in Stimmungs- und Antriebsregulation involviert sind, z. B. linksanteriore Areale und die Basalganglien. Die Frage, inwieweit eine depressive Störung einen wichtigen Prädiktor für die Letalität nach einem Insult darstellt, wird aufgrund der Studienlage kontrovers beurteilt [48].

Die Entwicklung der „poststroke-depression“ stellt ein komplexes Geschehen dar, in dem die jeweiligen pathogenetischen Anteile im klinischen Einzelfall herausgearbeitet werden sollten. Hieran wird sich weniger die Indikation zur Pharmakotherapie als vielmehr zur Möglichkeit, Differenzialindikation und Erfolgsaussicht psychotherapeutischer Interventionen entscheiden. Als hilfreich haben sich bisher insbesondere psychosoziale Interventionen in der Familie der Betroffenen herausgestellt. Pharmakotherapeutisch sinnvoll erscheinen heute in erster Linie SSRI (Übersicht: [102]). In randomisierten, placebokontrollierten Studien wurden bisher Nortriptylin, Trazodon, Fluoxetin und Citalopram erfolgreich geprüft. Auch die Effektivität von EKT ist belegt. Einzelne, erfolgreiche Versuche wurden auch mit Psychoanaleptika (z. B. Methylphenidat) unternommen.

Krebserkrankungen

Es kann als gesichert angesehen werden, dass depressive Störungen nach der Diagnose einer Krebserkrankung deutlich gehäuft auftreten mit einer Punktprävalenz von etwa 40%, wobei jeweils etwa 20% auf schwere bzw. leichtere depressive Störungen entfallen [73, 77]. Das Risiko, während einer Krebserkrankung an einer Depression zu erkranken, scheint abhängig zu sein von dem Vorliegen einer Depression in der Anamnese oder in der Familie, Alkoholabhängigkeit, fortgeschrittenem Stadium der Erkrankung, unzureichender Schmerztherapie, medizinischen Komplikationen und depressiogener Pharmakotherapie [73]. Auch für Depressionen bei Krebserkrankungen lassen sich eher psychologische von eher biologischen Entstehungsmechanismen abgrenzen. Während über Coping-Mechanismen/Adaptation eine Fülle an Literatur vorliegt, bleiben die möglichen biologischen Mechanismen der Depressionsentstehung noch unklar.

Das Vorliegen einer Depression scheint andererseits die Entstehung von Krebserkrankungen nicht bzw. nicht wesentlich zu begünstigen. Zwar weisen einzelne Studien auf ein leicht erhöhtes diesbezügliches Risiko hin, die derzeit vorliegenden großen Kohortenstudien sprechen jedoch dagegen (Übersicht: [31]; jüngste Studie: [22]).

Eine Vielzahl von Untersuchungen deutet jedoch darauf hin, dass der Verlauf bestimmter Krebserkrankungen mit der Krankheitsbewältigung und damit auch mit der Neigung zur Depressivität zusammenzuhängen scheint. Auch wenn sowohl Stichprobeneffekte als auch die Heterogenität der Konzepte zur Messung von Coping berücksichtigt werden müssen, stellt der Zusammenhang zwischen aktiver, „kämpferischer“ Auseinandersetzung mit der Erkrankung und einer höheren Rezidivfreiheit bzw. Überlebensrate ein eindrucksvolles Ergebnis dar [99]. Eine depressive Verarbeitung der Erkrankung hat andererseits eine eher nachteilige Wirkung. So bedingt z. B. das Vorliegen einer Depression ein unabhängiges (z. B. von Suiziden), erhöhtes Mortalitätsrisiko beim Mammakarzinom [44].

Unterschiedlichste Therapieformen haben sich in den jeweiligen Studien als nützlich herausgestellt, insbesondere, wenn hierdurch Depressivität und Angst reduziert werden. Unter unterschiedlichen Therapieformen verbessert sich die Lebensqualität, und die Fähigkeiten zum aktiven Coping mit der Erkrankung nehmen zu. Die bisher vorliegenden, 10 randomisierten Studien haben allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt: jeweils 5 fanden einen signifikant positiven bzw. keinen Einfluss auf die Überlebenszeit. Bei der Interpretation dieser Befunde muss berücksichtigt werden, dass in den Stichproben der Studien jeweils verschiedene Krebsformen vorlagen und dass zudem selbst die Stichproben in den einzelnen Studien ausgesprochen heterogen zusammengesetzt waren. Außerdem wurden unterschiedliche psychotherapeutische Interventionsformen gewählt: psychodynamisch-supportive, kognitiv-behaviorale, Entspannungsverfahren und Hypnose. Es lässt sich in der Analyse der entsprechenden Studien keine klare Überlegenheit eines psychotherapeutischen Verfahrens bzw. von Verfahren bei einer bestimmten Form der Krebserkrankung erkennen. Spiegel [96] argumentiert, dass die augenfälligen Veränderungen in der Krebstherapie der 90er-Jahre (verbesserte Früherkennung, innovative Behandlungsprinzipien) die Beobachtung, dass insbesondere neuere Studien keinen Einfluss auf die Überlebenszeit nachweisen konnten, mit bedingen könnten. Die Neuerungen in Krebsdiagnostik und -therapie hätten möglicherweise einen so starken Effekt, dass die vergleichsweise schwachen Effekte von Psychotherapie auf die Überlebenszeit verdeckt würden.

Bezüglich der Pharmakotherapie konnte in verschiedenen placebokontrollierten Studien ein antidepressiver Effekt bei Krebspatienten nachgewiesen werden. Dies gilt sowohl für TCA, als auch für SSRI. Obwohl die Gabe von SSRI wegen geringerer Nebenwirkungen und eines geringeren Interaktionspotenzials heute die First-line-Therapie darstellt, sollte das augmentierende Potenzial der TCA bei der Analgetikagabe mit berücksichtigt werden.

Zu beachten sind die Interaktionen zwischen Antidepressiva und Chemotherapeutika. Zwar liegen kaum systematische Studien zu diesem Themenkomplex vor, aber aus Kasuistiken werden verschiedene Wechselwirkungen beschrieben. Viele Antibiotika, Virostatika, Antimykotika, Immunsuppressiva und weitere Chemotherapeutika werden genauso wie viele Antidepressiva über das Cytochrom-p450-System verstoffwechselt. Hierdurch kann über eine kompetitive Enzymhemmung (z. B. bei Ciclosporin, Erythromycin, Ketokonazol) eine erhöhte Serumkonzentration dieser Substanzen bzw. der Antidepressiva zustande kommen. Andererseits kann eine Enzyminduktion (z. B. bei Rifampicin) in der Leber auftreten mit der Folge einer verminderten Serumkonzentration antidepressiver Wirkstoffe. Eine Überwachung der Serumkonzentration („drug-monitoring“) ist bei Kombinationstherapien daher sinnvoll, um Über- oder Unterdosierungen zu vermeiden (Übersicht: [58]).

Außerdem besitzen verschiedene Chemotherapeutika ein depressiogenes Potenzial (Tabelle 3). Auch zu diesem Themenbereich sind Informationen überwiegend aus Einzelfallberichten verfügbar; systematische Untersuchungen fehlen für die meisten Präparate. Isoniazid wirkt vermutlich über einen Vitamin-B6-Antagonismus depressiogen. Bei Amphotericin B werden eine erhöhte Sensibilität der Nervenzellen und eine Stimulation der Prostaglandinsynthese als Ursache depressiver Symptomatik vermutet. Zum depressiogenen Effekt von Glukokortikoiden liegt eine hohe epidemiologische Evidenz vor. Als Mechanismus wird der Einfluss der Kortikoide auf die Strukturen des Hippocampus diskutiert. Das Zytostatikum Vincristin soll über eine Aktivitätsminderung der Dopamin-β-Hydroxylase, einem Schlüsselenzym der Biosynthese des Noradrenalins, Depressionen auslösen können. Virostatika (z. B. Acyclovir) bewirken eine Steigerung des Dopaminumsatzes (zur Übersicht: [53]). Bei der Evaluation der depressiven Symptomatik eines Krebspatienten unter Chemotherapie sollten die depressiogenen Effekte der Chemotherapeutika in die differenzialdiagnostischen Überlegungen einbezogen werden, auch wenn bisher wenig harte Evidenz verfügbar ist. Auch bei mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Chemotherapeutika induzierter Depression ist meist aus vitaler Indikation eine Reduktion oder Absetzen des Chemotherapeutikums nicht möglich. Daher sollten interaktions- und nebenwirkungsarme Antidepressiva unter Berücksichtigung der oben genannten Vorsichtsmaßnahmen zum Einsatz kommen, weil sie auch bei Patienten unter Chemotherapie eine spürbare Besserung der Symptomatik bewirken können.

Tabelle 3 Depressiogene Wirkung von Pharmaka (Mod. und ergänzt nach [53])

Niereninsuffizienz

Während die Datenlage zur Prävalenz depressiver Störungen, ihrer Entstehungsbedingungen und Behandlungsmöglichkeiten bei der chronischen Niereninsuffizienz ausgesprochen dürftig ist, können diese Fragestellungen bei der terminalen Niereninsuffizienz bzw. bei dialysepflichtigen Patienten als recht gut untersucht gelten. Bei der terminalen Niereninsuffizienz stellt das Auftreten einer depressiven Symptomatik neben psychoorganischen Beeinträchtigungen eines der häufigsten Probleme dar. Im zeitlichen Querschnitt weisen etwa 50% aller Patienten eine signifikante depressive Symptomatik auf. Werden anstelle dimensional angelegter Messinstrumente diagnostische Interviews eingesetzt, so zeigt sich, dass im Mittel etwa 15–25% der Patienten an einer kategorial als Depression zu klassifizierenden Störung erkrankt sind, wobei wiederum etwa jeweils die Hälfte an einer schweren („major depression“) bzw. einer leichteren („minor depression“, Dysthymia) Depression leiden (Übersicht: [93]). Bemerkenswert ist die Untersuchung von Fukunishi et al. [33], im Rahmen derer die Inzidenz von psychischen Störungen während eines Dialysejahres herausgearbeitet wurde: Eine Major Depression trat bei insgesamt 2,5% der Patienten neu auf. Symptome einer Demenz zeigten 2,5%, Verwirrtheitszustände 3,4%. Wenn sich eine depressive Symptomatik herausgebildet hat, bleibt diese weitgehend stabil [49]. Als Risikofaktoren für die Entstehung einer Depression werden körperliche Einschränkungen und die hiermit verbundene, zunehmende soziale Desintegration angesehen. Das Vorliegen einer depressiven Störung scheint einen ungünstigen Effekt auf die Progression der Niereninsuffizienz und die Überlebenszeit zu haben, wesentlich vermittelt über mangelhafte soziale Unterstützung, negative Wahrnehmung der Erkrankungsfolgen und mangelhafte Compliance [56]. Ähnlich wie im Fall der koronaren Herzerkrankung ergeben sich Hinweise darauf, dass immunologische Parameter, die als Marker für die Prognose einer Niereninsuffizienz angesehen werden (Serumalbuminkonzentration, Serumkonzentration von Interleukin-6), durch das Vorliegen einer Depression beeinflusst werden können, da bei Patienten mit depressiven Störungen milde Entzündungsreaktionen mit erhöhten hepatischen Entzündungsparametern (C-reaktives Protein, α2–Makroglobulin) und Aktivierung proinflammatorischer Zytokine (IL-1β, IL-6) des angeborenen Immunsystems auftreten können [64, 90]. Obwohl nahe liegend, ist jedoch noch unklar, ob die depressions- oder auch stressbedingte Förderung proinflammatorischer Immunreaktionen einen bedeutsamen Faktor für eine Verschlechterung der Prognose einer (terminalen) Niereninsuffizienz darstellt.

Morbus Parkinson

Bei im Mittel etwa 40% aller Patienten mit Morbus Parkinson besteht eine depressive Störung [60, 84], wobei jeweils etwa die Hälfte der Prävalenzrate auf schwere und auf leichtere Depressionsformen entfällt. In einer signifikanten Anzahl der Fälle tritt die depressive Störung vor der Ausbildung motorischer Symptome auf und kann als Syndrom im Rahmen der Erstmanifestation gesehen werden. Aber auch nach Diagnosestellung bleibt das Depressionsrisiko erhöht, auch im Vergleich zu anderen chronischen Erkrankungen wie Diabetes Typ II und Osteoporose [29, 82]. Das Ausmaß der Depressivität ist nicht mit Art und Ausmaß motorischer Symptome korreliert. Wenn auch die körperliche Behinderung und die hierdurch mit bedingten sozialen Einschränkungen einen Einfluss auf die Depressionsentstehung haben können, so scheinen jedoch auch unabhängige, biologische Verbindungen zwischen neurodegenerativen Mechanismen im Rahmen der Grunderkrankung und dem Auftreten einer depressiven Störung eine wichtige Rolle zu spielen [74, 97]. Dabei ist vermutlich nicht nur die Verminderung des Dopamin-, sondern wohl auch des Serotoninumsatzes maßgeblich.

Für die Behandlung der Depression bei Morbus Parkinson liegen bisher keine großen, randomisierten, placebokontrollierten Studien vor, die eine gute Evidenz für die Behandlung depressiver Syndrome bieten könnten. Open-label-Studien legen jedoch nahe, dass Antidepressiva effektiv in der Behandlung sein könnten. Es kommen in erster Linie selektive Serotonin /bzw. Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer in Frage. Obwohl empirisch nicht ausreichend belegt, weisen die bisher erhobenen Daten auf eine gute Wirksamkeit von SSRI hin [60]. Allerdings existieren einige Fallberichte, in denen die Gabe von SSRI möglicherweise die motorische Parkinsonsymptomatik verschlechterte. Die Behandlung mit Levodopa scheint bei einigen Patienten depressionsmindernde Effekte zu haben.

In jüngster Zeit haben Beobachtungen besonderes Interesse hervorgerufen, dass die bilaterale elektrische Stimulation des Nucleus subthalamicus nicht nur zu einer erheblichen Verbesserung der motorischen Funktionen, sondern auch kognitiver Defizite und depressiver Syndrome führen kann [23]. Die mögliche Beteiligung der Basalganglien an der Depressionsentstehung ist auch von einigem theoretischem Interesse. Da Elektrokrampftherapie sowohl bei Morbus Parkinson als auch bei schweren, melancholischen Depressionen indiziert ist, liegt nahe, dieses Verfahren auch bei Parkinson-assoziierter Depression einzusetzen. Da kontrollierte Studien bisher nicht vorliegen, bleibt der Einsatz dieser Therapie jeweils eine Einzelfallentscheidung [30].

HIV-Erkrankung

Eine vor kurzem durchgeführte Metaanalyse über 10 Studien zeigte, dass HIV-Infizierte im Vergleich zu Gesunden ein etwa doppelt so hohes Risiko haben, an einer Depression zu erkranken [16]. Dies galt sowohl für die schwere Depression als auch für die Dysthymia. Allerdings betrugen die Querschnittsprävalenzen für schwere Depression unter HIV-Infizierten nur 9,4% und für Dysthymia 4,2%. An Aids erkrankte HIV-Infizierte litten nicht häufiger an einer Depression als asymptomatische HIV-Infizierte. In die Metaanalyse wurden nur Studien einbezogen, in denen eine standardisierte Diagnostik erhoben wurde und HIV-negative Vergleichsgruppen mit untersucht wurden. Einzelne Untersuchungen, die in der Metaanalyse nicht berücksichtigt wurden, kommen jedoch zu höheren Prävalenzraten für schwere Depression von etwa 20–30% (Übersicht: [98]). In einer umfangreichen Komorbiditätsstudie wurden depressive Symptome (dimensionale Einschätzung) von etwa 35% der HIV-Infizierten ohne Aids und von 65% mit Aids angegeben [85]. Unterschiedliche Zusammensetzungen der Patientenkollektive und Methoden bei der Depressionsdiagnostik könnten für die Diskrepanz der Ergebnisse verantwortlich sein. Jedenfalls stellen depressive Erkrankungen unzweifelhaft ein klinisch bedeutsames Problem für HIV-Infizierte dar.

Depressive Symptome, als Stressoren erlebte „live events“ sowie mangelnde soziale Unterstützung scheinen einen ungünstigen Einfluss auf die Progression der HIV-Erkrankung, die Entwicklung einer manifesten AIDS-Symptomatik und die Mortalität zu haben [50, 85]. Denkbar wäre, dass eine komorbide Depression über die Verminderung der Aktivität der natürlichen Killerzellen, der CD4+-Lymphozyten und eine Vermehrung der aktivierten CD8+-Zellen sowie der Virusmenge zu einer Verschlechterung der Prognose beiträgt [28, 50, 85].

In therapeutischer Hinsicht ist die Wirksamkeit von TCA und SSRI etwa gleich zu bewerten, SSRI werden aufgrund geringerer Nebenwirkungen jedoch meist bevorzugt. Dabei muss das Interaktionspotenzial der Antidepressiva beachtet werden, da HIV-Infizierte häufig gleichzeitig mit verschiedenen Chemotherapeutika und Virostatika behandelt werden (Stoffwechsel über das Cytochrom-p450-System).

Depression im Zusammenhang mit medizinischen Behandlungsmaßnahmen

Nicht nur psychosoziale Faktoren und erkrankungsassoziierte biologische Faktoren, sondern auch verschiedene medizinische Behandlungsmaßnahmen können zur Auslösung einer depressiven Symptomatik führen. Zum einen muss wohl koinzidiert werden, dass moderne, ausgesprochen invasive Therapieverfahren, wie z. B. die Knochenmarkstransplantation (KMT), extrakorporale Kreislaufaufrechterhaltung oder Implantation eines Defibrillators, psychisch traumatisierend und depressionsfördernd wirken können. Dieser Aspekt moderner klinischer Therapie ist bisher erstaunlich wenig untersucht.

In einer großen Untersuchung an 437 Patienten zeigten 31% depressive Symptome (dimensionale Einschätzung) vor der Knochenmarkstransplantation [7]. In einer prospektiven Studie, in der Patienten vor und nach KMT evaluiert wurden, konnte keine Veränderung bezüglich depressiver Symptome im Zeitverlauf festgestellt werden [101]. Während der Isolationszeit nach KMT wurden bei 47,5% der Patienten eine Anpassungsstörung mit depressiver Verstimmung und bei 5% eine organisch bedingte affektive Störung diagnostiziert [93]. Das Vorhandensein von depressiver Symptomatik hatte in einer anderen Studie keinen Einfluss auf die Prognose [51]. Colon et al. [18] hingegen beobachteten eine schlechtere Prognose bei Patienten mit depressiven Symptomen. Die Datenlage ist unbefriedigend, sodass derzeit noch keine abschließende Beurteilung vorgenommen werden kann. Einzelne Ergebnisse sprechen aber dafür, dass die Konfrontation mit der Krebsdiagnose letztlich belastender sein könnte als die Durchführung der KMT [78].

Nach Implantation eines Defibrillators wegen lebensbedrohlicher, rezidivierender, ventrikulärer Rhythmusstörungen wurden vor allem Angstsymptomatiken, aber auch depressive Störungen berichtet. In einer 35 Patienten umfassenden Studie wurde bei 8,6% der Patienten unmittelbar nach Implantation eine schwere Depression diagnostiziert. Neun bis 18 Monate nach Implantation hatten 7,4% der Patienten zusätzlich eine schwere Depression entwickelt [20].

Eine große Anzahl breit eingesetzter Medikamente kann eine depressive Symptomatik verursachen. Hierbei spielen sehr unterschiedliche Wirkprinzipien eine Rolle, wobei die Mechanismen in vielen Fällen noch nicht endgültig geklärt sind. Tabelle 4 gibt einen Überblick über Medikamentengruppen, Wirkstoffe, vermutete Pathomechanismen und Evidenzgrad.

In jüngerer Zeit sind insbesondere die immunologisch basierten Therapieverfahren bei Krebserkrankungen und bei Hepatitis C, nämlich die Behandlung mit Interleukin-2 bzw. Interferon-α, in den Fokus wissenschaftlichen Interesses geraten. Die Inzidenz einer schweren Depression bei der Behandlung der Hepatitis C mit Interferon-α liegt bei etwa 25–40%, tritt in 2/3 aller Fälle innerhalb der ersten 8 Behandlungswochen auf und korreliert mit dem Ausmaß der Depressivität zu Beginn der Behandlung [9, 47]. Die Gabe von Interferon-α führt zu komplexen Veränderungen zellulärer Immunfunktionen und der Zytokinausschüttung. In engem Zusammenhang mit der Depressionsauslösung steht jedoch eine Verminderung der Tryptophanverfügbarkeit [13], vermutlich über die Aktivierung der Indolamin-2,3-Dioxygenase, dem Enzym, das Tryptophan zu Kynurenin abbaut. Eine placebokontrollierte Interventionsstudie von Capuron et al. [12] zeigt, dass die prophylaktische Gabe von Paroxetin eine depressive Symptomatik insbesondere im Hinblick auf Verstimmung und Angst günstig beeinflusst, nicht jedoch Vitalsymptome wie Müdigkeit und Appetitverlust, die möglicherweise eher mit der Grunderkrankung assoziiert sind.

Todeswünsche und Suizidalität

Gerade auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatte über die Möglichkeit der „Euthanasie“ bei terminalen Erkrankungen hat die Frage der Todeswünsche bzw. der tatsächlichen Suizidgefährdung zu Recht Aufmerksamkeit erregt. Seit längerem ist bekannt, dass somatische Erkrankungen als Risikofaktor für Suizidalität zu gelten haben; in Stichproben von Menschen nach Suizid ist die Prävalenz signifikanter körperlicher Erkrankungen mit etwa 35% höher als in der altersentsprechenden Allgemeinbevölkerung [70]. Bestimmte körperliche Erkrankungen scheinen mit einer deutlich erhöhten Suizidneigung einherzugehen. Hierzu zählen neurologische Erkrankungen, wie z. B. amyotrophe Lateralsklerose, multiple Sklerose, Krebserkrankungen des ZNS, sowie insbesondere HIV/Aids.

Todeswünsche und Suizidgedanken korrelieren mit der subjektiv empfundenen Hoffnungslosigkeit, der Wahrnehmung, der Umgebung zur Last zu fallen, dem Verlust der Kontrolle über die eigene Person, aber auch mit dem Fortschreiten der körperlichen Erkrankung und insbesondere mit nicht erträglichen Schmerzen [10, 57]. Gerade die erste Faktorengruppe zeigt die Nähe zu einer genuin depressiven Symptomatik und lässt deutlich werden, wie schwierig im Einzelfall die Diagnose einer Depression sein kann, bei der letztlich entschieden werden muss, ob die genannten Wahrnehmungen den Tatsachen entsprechen oder der typischen, depressionsbedingten Verzerrung unterliegen.

Das Vorliegen einer Depression bedeutet nicht per se eine Suizidneigung. So konnten Akechi et al. [1] zeigen, dass bei Krebserkrankten mit einer schweren Depression 51,4% Suizidgedanken hatten. Dabei bildeten sich der Schweregrad der Depression, schlechter körperlicher Gesundheitszustand und berufliche Integration als prädiktiv im Vergleich zu depressiven Patienten ohne Suizidgedanken ab.

Aus den Gesagten geht hervor, dass bei aller Verständlichkeit von Todeswünschen und aktiven Suizidgedanken insbesondere bei infaust kranken Menschen die diagnostische Einschätzung und ggf. Behandlung einer depressiven Störung eine unverzichtbare Notwendigkeit darstellt, ebenso wie eine adäquate Schmerzbehandlung und die Unterstützung der körperlichen Funktionsfähigkeit.

Therapie depressiver Störungen bei körperlichen Erkrankungen

Eine wirksame Therapie depressiver Störungen ist auch bei schweren körperlichen Erkrankungen grundsätzlich geboten, da sie die Lebensqualität erhöht, die psychische Belastung des Patienten und der Familie lindert und die Compliance fördert. Bei allem offenkundigen Nutzen zielgerichteter und qualifizierter therapeutischer Interventionen muss jedoch bedacht werden, dass eine rezidiv- bzw. progressionsverhindernde und lebensverlängernde Wirkung derzeit nicht als belegt gelten kann, obwohl einzelne Studien auf entsprechende Zusammenhänge hinweisen. In diesem Punkt zeigen sich auch keine Unterschiede zwischen psychotherapeutischen Interventionen und Pharmakotherapie. In die Indikationsstellung zur antidepressiven Behandlung bei körperlich Kranken müssen Besonderheiten mit einbezogen werden, die sowohl das Setting als auch die Erkrankung selbst betreffen.

Psychotherapie

Für die Psychotherapie depressiver Störungen bei körperlichen Erkrankungen kommen im Prinzip dieselben Verfahren in Betracht wie für körperlich Gesunde, also im Wesentlichen kognitiv-behaviorale, interpersonelle und psychodynamische Psychotherapie. Jedoch müssen diese Verfahren unter anderen Voraussetzungen durchgeführt werden als im Fall körperlich gesunder Patienten. Zunächst sind Schweregrad und Prognose/Chronizität der körperlichen Erkrankung zu berücksichtigen und die Frage zu beantworten, welche innere Bereitschaft angesichts dieser Situation beim Patienten vorliegt, sich auf eine Psychotherapie einzulassen. Weiterhin wird einzuschätzen sein, welche Zeit für eine psychotherapeutische Intervention (noch) zur Verfügung steht. Berücksichtigt werden muss auch, ob die Therapie unter stationären Bedingungen im Rahmen einer somatischen Station oder ambulant stattfindet. Auch der Faktor der sozialen Unterstützung, der sich in einigen Studien als prognostisch günstig herausgestellt hat, sollte bedacht werden. Je schwerer die Erkrankung, je ungünstiger die Prognose und je stärker das Setting durch stationäre Behandlung gekennzeichnet ist, desto supportiveren Charakter sollte die Behandlung tragen.

Die supportive Psychotherapie ist eine eigenständige Form der Psychotherapie, die mit Erfolg bei psychischen Störungen verschiedener Art und Schweregrade eingesetzt werden kann (Übersicht: [104]). Es handelt sich um eine geplante, an den Ressourcen des Patienten (auf personeller und sozialer Ebene) orientierte und auf die Lösung der jeweiligen Problemkonstellation ausgerichtete Intervention. Die supportive Psychotherapie sollte nicht mit einer allgemein unterstützenden ärztlichen Haltung bzw. mit Beratung verwechselt werden, wie dies in Deutschland bedauerlicherweise oft der Fall ist. Die supportive Psychotherapie ist vielmehr ein komplexes und gleichzeitig zeitlich hoch verdichtetes Verfahren, das seine höchste Effizienz nur auf dem Boden einer entsprechend qualifizierten, psychodynamischen oder verhaltenstherapeutischen Ausbildung und Erfahrung erreichen kann. In den USA sind mehrere Manuale/Lehrbücher (z. B. [83, 86, 89]) zu diesem für die Praxis bedeutsamen Verfahren erschienen. Die supportive Psychotherapie wurde im Zusammenhang mit körperlichen Erkrankungen in den USA als „Medical Psychotherapy“ auf psychodynamischer Grundlage modifiziert [68] und kann dort als Behandlungsstandard für die Konsiliar-/Liaisonpsychiatrie gelten.

Die Behandlung körperlich Kranker mit psychischen Störungen, insbesondere mit depressiven Erkrankungen bzw. mit depressiven Mustern in der Krankheitsbewältigung und mit physiologischer oder traumatischer Trauer ist eine Domäne der supportiven Psychotherapie. Dies gilt insbesondere dann, wenn, wie z. B. während eines Krankenhausaufenthalts, nur wenig Zeit zur Verfügung steht. In der Lübecker Allgemeinkrankenhausstudie, in deren Rahmen auch differenziert Indikationsstellungen für psychotherapeutische Verfahren erhoben wurden, zeigte sich, dass im Mittel etwa 80% aller Indikationsstellungen zur Psychotherapie die supportive Psychotherapie betrafen gegenüber spezifischeren, also i.e.S. verhaltenstherapeutischen oder psychodynamischen Interventionen.

Im ambulanten Bereich, insbesondere dann, wenn für die Psychotherapie mehr Zeit zur Verfügung steht, können über den supportiven Ansatz hinaus verhaltenstherapeutische oder psychodynamische Therapieelemente eingesetzt werden, so z. B. um die aktive, „kämpferische“ Krankheitsbewältigung zu fördern oder die Fähigkeit zur Trauer und Bewältigung von Verlusten zu stärken. Muthny [80] weist zu Recht darauf hin, dass es angesichts der Häufigkeit und Bedeutung von Bewältigungsprozessen bei somatischen Erkrankungen erstaunlich wenig Forschung zur Anwendung psychotherapeutischer Methoden im Rahmen von Bewältigungsstrategien gibt.

Pharmakotherapie

Es liegt eine Vielzahl von Studien vor, in denen die Effektivität verschiedener antidepressiv wirksamer Substanzen bei körperlich Kranken mit depressiven Störungen geprüft wurden. Einen ausführlichen Überblick geben Goodnick und Hernandez [36]. Die derzeitige Evidenzlage spricht dafür, vorzugsweise selektiv rezeptorwirksame Substanzen zu verwenden. Das praktische Vorgehen gleicht der Depressionsbehandlung bei körperlich Gesunden, wobei berücksichtigt werden sollte, dass Schweregrad und Chronizität der Depression bei körperlich Kranken häufig weniger ausgeprägt sind. Daher kann therapeutisch oftmals mit einer mittleren Dosis ausgekommen werden, selbstverständlich mit der Option und ggf. Notwendigkeit der Ausdosierung, die auch bei selektiv rezeptorwirksamen Substanzen recht unproblematisch ist.

Gerade bei der Behandlung von (schwer) körperlich Kranken, die aufgrund ihrer somatischen Erkrankungen bereits mit einer Vielzahl von Medikamenten behandelt werden sind, die vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten mit Antidepressiva zu beachten (Übersicht: [58]). Die Sorge vor möglichen Interaktionen (die im Übrigen ja auch zwischen zahlreichen internistischen Medikamenten bestehen) sollte jedoch in einem realistischen Rahmen bleiben und grundsätzlich nicht von der Einleitung einer antidepressiven Therapie abhalten.

Andere somatische Verfahren

Bei Versagen einer psychotherapeutischen bzw. pharmakotherapeutischen Intervention und insbesondere dann, wenn ein melancholischer („endogener“) Subtypus einer schweren Depression vorliegt (ggf. mit Wahnbildung), ist die Anwendung der Elektrokrampftherapie (EKT) indiziert—auch bei körperlich Kranken. Im Wesentlichen müssen das Risiko einer Kurznarkose und die Gefahr einer Asystolie unter dem Krampfereignis beherrscht werden. Die EKT ist immer Teil eines gesamten Behandlungsplans und wird durch eine erneute Pharmakotherapie sowie psychotherapeutische Interventionen ergänzt.

Insbesondere in der Rehabilitationsmedizin, hat die systematische, gestufte körperliche Belastung im Sinne des Ausdauertrainings große Bedeutung. Ein solches Training (vorzugsweise 4-mal 1 h pro Woche unter entsprechender Anleitung) hat nicht nur eine günstige körperliche Wirkung, z. B. in der kardiologischen Rehabilitation, sondern darüber hinaus noch einen deutlichen, adjuvanten antidepressiven Effekt [11], der therapeutisch gut nutzbar gemacht werden kann.

Soziale Unterstützung

Patienten mit Depressionserkrankungen weisen z. T. erhebliche Defizite in ihrer sozialen Integration und Funktionsfähigkeit auf (Übersicht: [43]). Die Förderung der sozialen Integration und Funktionsfähigkeit in der Therapie depressiver Erkrankungen ist von erheblicher Bedeutung, nicht zuletzt, da die Besserung der psychopathologischen Symptomatik nicht zwingend mit einer Veränderung sozialer Bezüge und Fähigkeiten einhergeht. Es gibt aber auch zahlreiche Hinweise darauf, dass die Förderung der sozialen Integration/Unterstützung einen wichtigen Faktor bei der Behandlung einer depressiven Symptomatik bei körperlich Kranken darstellt (z. B. [27, 37]). Hierbei könnte es von Bedeutung sein, dass die soziale Integration Depressiver bei gleichzeitiger körperlicher Morbidität außerordentlich zu variieren scheint, und zwar in Abhängigkeit vom Subtypus der depressiven Erkrankung mit größten Defiziten bei Patienten mit Dysthymien [5].

Fazit und Ausblick

Krankheitswertige depressive Störungen liegen im Durchschnitt bei etwa 15% aller Menschen mit einer körperlichen Erkrankung vor, bei Patienten mit schwereren und chronischen Erkrankungen liegt die Prävalenzrate für depressive Störungen bei etwa 30–40%, wobei jeweils etwa die Hälfte der Prävalenzrate schwere bzw. leichtere depressive Syndrome betrifft. Eine möglichst frühzeitige, sachgerechte und intensive Behandlung depressiver Störungen bei körperlichen Erkrankungen erhöht die Lebensqualität der Patienten, mindert aber vermutlich auch die negativen Auswirkungen auf den Verlauf der somatischen Erkrankung. Sie trägt ebenfalls zur Vermeidung zusätzlicher (!) sozialen Funktionseinbußen bei und entlastet nicht zuletzt die Angehörigen des komorbid Erkrankten.

Von der Perspektive einer frühzeitigen und fachgerechten Diagnostik und Therapie sind wir in der klinischen und ambulanten Versorgungspraxis körperlich Kranker in Deutschland offenkundig weiter entfernt, als dies angesichts der in unserem Land prinzipiell vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten nötig wäre. Hindernisse bestehen diesbezüglich nicht nur auf der Seite der Patienten, sondern auch aufgrund von substanziellen Weiter- und Fortbildungsmängeln in den „somatischen“ medizinischen Fachgebieten. Aber auch die Angebotsstrukturen in Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie und Medizinischer Psychologie, die im Hinblick auf die Versorgung körperlich Kranker nicht nur von Defiziten in der Personalbemessung betroffen sind, sondern innerhalb derer vielerlei Überlappungen, Unklarheiten und Berufsgruppeninteressen feststellbar sind, gehen in der täglichen Versorgungspraxis zu Lasten der Patienten und wirken vermutlich auch Kosten treibend.

Aufgabe einer in Deutschland in diesem Bereich noch zu wenig entwickelten Versorgungsforschung stellt die Verbesserung der Erfassung depressiver Störungen im klinischen Alltag und die Evaluation von Therapieprogrammen dar, aber auch die Erforschung der Interaktionen zwischen Krankheitsbewältigung (Coping) und psychotherapeutischen Interventionsstrategien. Wesentliche Einblicke in das Zusammenwirken (neuro)biologischer und psychologischer Faktoren sind von einer grundlagenorientierten, klinischen Forschung zu erwarten, deren Aufgabe es sein wird, die verschiedenen Kandidaten für „links“ zwischen Depressionserkrankungen und körperlichen Erkrankungen im Detail nachzuvollziehen, nicht zuletzt in der begründeten Hoffnung, dass sich auf dieser Basis in Zukunft neuartige Therapiestrategien entwickeln lassen.

Fragen zur Zertifizierung

1. Welche Aussagen zu Depression und Herzerkrankung sind richtig?

  1. I.

    Die Prävalenz für eine komorbide Depression bei Patienten mit koronarer Herzerkrankung ist gegenüber der Allgemeinbevölkerung ca. 3- bis 4fach erhöht.

  2. II.

    Eine erfolgreiche, medikamentös-antidepressive Therapie senkt die Mortalitätsrate bei Patienten mit koronarer Herzerkrankung.

  3. III.

    Eine erfolgreiche Depressionsbehandlung verbessert bei Herzkranken die Lebensqualität.

  4. IV.

    SSRI gelten gegenwärtig als Mittel der Wahl in der medikamentösen antidepressiven Therapie Herzkranker.

  5. V.

    Bei Herzinsuffizienz haben sich verhaltenstherapeutische Stressmanagementprogramme bewährt.

  1. a.

    Alle Antworten sind richtig.

  2. b.

    I, II, IV und V sind richtig.

  3. c.

    II, III und IV sind richtig.

  4. d.

    I, III, IV und V sind richtig.

  5. e.

    Nur IV ist richtig.

2. Welche Aussage zur Depression bei Krebserkrankungen trifft nicht zu?

  1. a.

    Eine Depression erhöht die Wahrscheinlichkeit, eine Krebserkrankung zu erleiden.

  2. b.

    Bei Krebskranken stellt soziale Unterstützung einen wichtigen protektiven Faktor gegen eine komorbide Depressionserkrankung dar.

  3. c.

    Eine depressive Krankheitsverarbeitung senkt die Überlebensrate bei Krebskranken.

  4. d.

    Antidepressive Therapie mit SSRI ist bei Krebskranken effektiv.

  5. e.

    Antidepressive Therapie mit trizyklischen Antidepressiva ist bei Krebskranken effektiv.

3. Welche der folgenden psychischen Reaktionen auf eine schwere körperliche Erkrankung kann als physiologisch gelten?

  1. I.

    Posttraumatische Belastungsstörung.

  2. II.

    Depressive Episode.

  3. III.

    Trauer.

  4. IV.

    Traumatische Trauer.

  5. V.

    Pathologische Trauer.

  1. a.

    Alle Antworten sind richtig.

  2. b.

    I, III, IV und V sind richtig.

  3. c.

    III, IV und V sind richtig.

  4. d.

    I und III sind richtig.

  5. e.

    Nur III ist richtig.

4. Welche Aussagen sind richtig? Supportive Psychotherapie ...

  1. I.

    Entspricht im Wesentlichen einer Beratung.

  2. II.

    Wird von vielen in der somatischen Medizin tätigen Ärzten praktiziert.

  3. III.

    Ist ein eigenständiges Psychotherapieverfahren.

  4. IV.

    Kann im stationären Setting gut eingesetzt werden.

  5. V.

    Ist bei schwer körperlich Erkrankten meist nicht mehr hilfreich.

  1. a.

    I und II sind richtig.

  2. b.

    I, II und IV sind richtig.

  3. c.

    III und V sind richtig.

  4. d.

    Nur III ist richtig.

  5. e.

    III und IV sind richtig.

5. Welche Aussage zu Depressivität bei Morbus Parkinson trifft nicht zu?

  1. a.

    Die Prävalenz depressiver Störungen bei Morbus Parkinson ist gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht.

  2. b.

    SSRI können Parkinson-Symptome verstärken.

  3. c.

    SSRI wurden bei depressiven Patienten mit Morbus Parkinson erfolgreich eingesetzt.

  4. d.

    Das Ausmaß der Depressivität bei Morbus Parkinson ist mit der Art und dem Ausmaß der motorischen Symptome korreliert.

  5. e.

    Elektrokrampftherapie stellt eine Option bei Komorbidität von Depression und Morbus Parkinson dar.

6. Welche Aussage zur Diagnostik depressiver Störungen bei körperlichen Erkrankungen trifft nicht zu?

  1. a.

    Eine ursächliche Zuordnung von Vitalsymptomen zur körperlichen Erkrankung oder zur Depression ist oft schwierig.

  2. b.

    Eine Abgrenzung zwischen Trauer und Depression ist wichtig für die Einleitung therapeutischer Schritte.

  3. c.

    Die Erkennungsrate durch somatisch tätige Ärzte liegt bei ca. 50%.

  4. d.

    Qualität und Ausmaß der Verstimmung sind entscheidend in der Diagnostik.

  5. e.

    Die Evaluation kognitiver Fähigkeiten ist hilfreich für die Diagnostik.

7. Welche der folgenden Medikamente haben depressiogenes Potenzial?

  1. I.

    Kortikoide.

  2. II.

    Betablocker.

  3. III.

    Kalziumantagonisten.

  4. IV.

    Orale Kontrazeptiva.

  5. V.

    Interferone.

  1. a.

    Alle Antworten sind richtig.

  2. b.

    Keine Antwort ist richtig.

  3. c.

    I und V ist richtig.

  4. d.

    II und III sind richtig.

  5. e.

    I, IV und V sind richtig.

8. Welcher der folgenden Faktoren erhöht nicht die Prävalenz für eine depressive Störung nach zerebralem Insult?

  1. a.

    Depression in der Anamnese.

  2. b.

    Höheres Lebensalter.

  3. c.

    Soziale Isolation.

  4. d.

    Dysphasie.

  5. e.

    Ausmaß der funktionellen Einschränkung.

9. Über welchen Mechanismus wirkt Acylovir wahrscheinlich depressiogen?

  1. a.

    Serotonin-Aufnahme-Steigerung.

  2. b.

    Steigerung des Dopaminumsatzes.

  3. c.

    Antiadrenerge Wirkung.

  4. d.

    5-HT2-Agonismus.

  5. e.

    Antidopaminerge Wirkung (D2/D3-Antagonismuis).

10. Welche antidepressiv wirksamen Substanzen werden bei HIV und Depression bevorzugt eingesetzt?

  1. a.

    Trizyklische Antidepressiva.

  2. b.

    Tetrazyklische Antidepressiva.

  3. c.

    MAO-Hemmer.

  4. d.

    SSRI.

  5. e.

    Psychostimulanzien.