Die ungeeignete Stabilisierung einer Fraktur kann zu Heilungsverzögerungen führen. Um die Frakturheilung zu verbessern, ist es deshalb wichtig, den Zusammenhang zwischen der Stabilität und dem Heilungsprozess zu verstehen. Dieser Review analysiert tierexperimentelle Studien, welche den Einfluss der Stabilität auf die Knochenheilung beschreiben. Aus der Analyse dieser Studien und Erkenntnissen zum Einfluss der Mechanik auf Zellen sowie mithilfe numerischer Verfahren wird eine allgemeingültige Gewebedifferenzierungshypothese entwickelt. Damit ist es möglich, die Knochenheilung in Abhängigkeit von der Stabilität der Frakturfixation zu beschreiben und verbesserte Osteosynthesen zu entwickeln.

Hintergrund

Trotz großer Fortschritte in der Osteosynthesetechnik [47] kommt es immer noch bei ca. 5–10 % der Patienten zu einer verzögerten oder gar ausbleibenden Knochenheilung [16, 17]. Hauptursache dieser Heilungsstörungen ist eine gestörte Durchblutung, v. a. durch große Weichteilschäden und eine insuffiziente Stabilisierung der Frakturen.

Mit Einführung der operativen Frakturbehandlung mit Implantaten in den 50er Jahren, v. a. durch die Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO), lag das Hauptaugenmerk der klinischen und experimentellen Forschung auf der Erzielung einer möglichst hohen mechanischen Stabilität der Osteosynthese durch geeignete biomechanische Verfahren [48]. Unter absoluter Stabilität der Frakturfixation, wie z. B. der Druckplattenosteosynthese, wurde eine direkte Knochenheilung (primäre Heilung) beobachtet und eine Kallusbildung als Zeichen einer unerwünschten Instabilität angesehen. Für eine hohe Stabilität war jedoch manchmal ein übermäßiger Einsatz von Implantaten nötig, was zusätzliches intraoperatives Trauma bedeutete und teilweise Knochennekrosen, Osteopenien und Refrakturen hervorrief [14, 18, 47].

Als Folge daraus wurde seit den 1990er Jahren [18] die minimal-invasive Osteosynthese unter Schonung der Vaskularität und mit einem möglichst geringen Einsatz von Implantaten propagiert. Nicht der Stabilität der Osteosynthese, sondern dem Erhalt der Durchblutung wurde der Vorrang gegeben und die Erkenntnis berücksichtigt, dass die unter flexibler Frakturfixation auftretende Kallusheilung der diaphysären Knochen eine schnelle und gute Knochenheilung ermöglichen kann.

Unter welchen biomechanischen Bedingungen eine möglichst schnelle und gute Frakturheilung zu erreichen wäre, ist seit langer Zeit Gegenstand intensiver Forschung.

Aussagefähige klinische Studien, die biomechanische Messungen durchführen und den Einfluss verschiedener biomechanischer Bedingungen auf die Heilung untersuchen, gibt es leider nicht [10]. Da in den üblichen klinischen Studien die mechanischen Eigenschaften der Osteosynthesen und die Belastungen der Knochen nicht erfasst werden können, außerdem die Beurteilung des Heilungsergebnisses schwierig ist, besteht keine Möglichkeit, durch klinische Studien den Einfluss der Osteosynthesestabilität auf die Knochenheilung zu quantifizieren. Es bleiben deshalb nur tierexperimentelle Untersuchungen, die in kontrollierten und standardisierten Frakturheilungsmodellen die Wechselwirkung zwischen biomechanischen Bedingungen und der Knochenheilung untersuchen. Klinisch nicht zu vermeidende Einflüsse, wie unterschiedliche Vaskularitätsstörungen, Knochenerkrankungen und Komorbiditäten, können dabei ausgeschlossen werden. Der Einfluss der lokalen biomechanischen Bedingungen auf Gewebedifferenzierung und zelluläre Aktivität im Heilungsgebiet wird dabei als Mechanobiologie bezeichnet.

Im folgenden Artikel soll ein Überblick über experimentelle Studien zur Mechanobiologie der Frakturheilung gegeben und die Zusammenhänge zwischen Mechanik und Biologie (Mechanobiologie) analysiert und dargestellt werden.

Mechanobiologie und Frakturheilung

Die Zusammenhänge zwischen der Stabilität (Steifigkeit) der Osteosynthese und der Frakturheilung können auf verschiedenen Ebenen untersucht werden. Häufig sollten in experimentellen Studien Fragen zum direkten Einfluss der Stabilität auf die Frakturheilung unter klinisch relevanten Bedingungen beantwortet werden. Solche Untersuchungen erlauben jedoch immer nur die Beantwortung der spezifischen Fragen der Studien und keine generalisierten Aussagen zur Mechanobiologie der Frakturheilung. Wenn generelle mechanobiologische Erkenntnisse gewonnen werden sollen, ist es erforderlich, die lokalen mechanischen Gewebeverformungen im Frakturheilungsgebiet gut zu kennen und sie mit Gewebedifferenzierungen und zellulären Aktivitäten zu korrelieren. Soll der Einfluss der mechanische Bedingungen auf die an der Knochenheilung beteiligten Zelltypen, ihre Differenzierung und Syntheseleistung untersucht werden, können In-vitro-Untersuchungen an Zellkulturen zusätzliche Erkenntnisse liefern.

Um die Zusammenhänge zwischen mechanischen Bedingungen und der Zellreaktion sowie der Gewebedifferenzierung der Frakturheilungszone zu verstehen, ist es notwendig, die auf Gewebeebene auftretenden Verformungen unter Belastung der frakturierten Extremität zu kennen. Die Zusammenhänge zwischen Stabilität der Osteosynthese und Gewebedehnung sind in Abb. 1 dargestellt. Bei einer gegebene Steifigkeit (S) einer Frakturfixation kommt es unter Belastung (F) des frakturierten Knochens zu einer definierten interfragmentären Bewegung (IFB), wenn keine Abstützung der Fragmente vorliegt. Häufig liegen nach Osteosynthesen Frakturspaltbreiten (FS) verschiedener Größe vor. Für die zelluläre Heilungsreaktion ist die Verformung (interfragmentäre Dehnung, IFD) dieses Gewebes entscheidend. Diese Gewebedehnung (IFD) lässt sich stark vereinfacht aus der interfragmentären Bewegung (IFB) und der Frakturspaltbreite (FS) berechnen (IFD = IFB/FS).

Abb. 1
figure 1

Zusammenhang zwischen Stabilität (Steifigkeit, S) der Osteosynthese, Belastung der Fraktur (F), Frakturspaltbreite (FS), interfragmentärer Bewegung (IFB), interfragmentärer Dehnung (IFD) und Gewebedifferenzierung während der Frakturheilung

Die Stabilität ist biomechanisch durch die Steifigkeit der Osteosynthese definiert

Wie später dargestellt wird, ist die IFD nicht gleichmäßig im Frakturheilungsgebiet verteilt, korreliert aber näherungsweise mit den maximalen Dehnungswerten im Frakturspalt. Diese Gewebeverformungen führen nicht nur zu Gewebedehnungen, sondern auch zu hydrostatischen Drücken im weichen, viskoelastischen Gewebe, die für die Zelldifferenzierung ebenfalls wichtig sind. Gewebedehnung und hydrostatischer Druck beeinflussen die Differenzierung mesenchymaler Zellen im frühen Frakturheilungsgewebe zu Fibroblasten, Osteoblasten und Chondrozyten, die für den Knochenheilungsvorgang entscheidend sind [8]. Diese biologischen Vorgänge können jedoch nur ablaufen, wenn eine ausreichende Durchblutung vorhanden ist, die das Heilungsgebiet mit Nährstoffen, Sauerstoff und Wachstumsfaktoren versorgt. Die dafür notwendige Revaskularisierung der Frakturzone ist vom Gewebetrauma, aber auch von der Höhe der interfragmentären Dehnung und der Frakturspaltbreite abhängig (Abb. 1).

Interfragmentäre Bewegung und Frakturheilung

Die Frakturheilung folgt 3 sich überlappenden Phasen: Nach dem Trauma beginnt die Entzündungsphase, gefolgt von der Reparations- und der Umbauphase [8]. Diese Phasen korrelieren mit charakteristischen Phasen der interfragmentären Bewegung (IFB). In der Entzündungsphase befindet sich im Frakturheilungsgebiet nur Hämatom und später weiches Granulationsgewebe. Die IFB wird in dieser Zeit überwiegend durch die Steifigkeit der Osteosynthese und die Belastung des Knochens bestimmt und ist am Beginn der Heilung normalerweise am größten. In der Reparaturphase proliferiert der Kallus und nimmt an Volumen zu. Am Anfang kommt es in einiger Entfernung zur Fraktur zur direkten, desmalen Knochenneubildung durch Osteoblasten und im späteren Verlauf zur Knorpelbildung durch Chondrozyten mit anschließender enchondraler Ossifikation und Versteifung des Kallus (Abb. 2; [8]). Dadurch nimmt die IFB ständig ab, weil der Kallus zunehmend Kräfte aufnehmen kann und zusätzlich zur Osteosynthese stabilisiert. Nach der peripheren knöchernen Überbrückung der Fragmentenden geht die IFB nahezu auf Null zurück, es kommt zur intrakortikalen Heilung und zum stetigen Abbau des nun biomechanisch nicht mehr nötigen Kallus.

Abb. 2
figure 2

Kalluswachstum während des Knochenheilungsverlaufs. Das zuerst vorhandene Granulationsgewebe wird in einiger Entfernung zum Frakturspalt zuerst an der periostalen Oberfläche durch desmale Knochenneubildung ersetzt (A). Danach erfolgt die Bildung von Faserknorpel, der im Durchmesser zunimmt und zunehmend verkalkt (B). Zwischen den Kallusspangen liegt auf Höhe des Frakturspalts verbleibendes Granulationsgewebe (C). Parallel zur peripheren Kallusbildung kann es im Markraum zur Knochenneubildung kommen. Erst wenn die knöcherne Überbrückung () peripher stattgefunden hat, kommt es zur Heilung des kortikalen Frakturspaltes (FS c). Die für die Gewebedehnung reale Frakturspaltbreite ist am Anfang (FS p) wesentlich größer als die kortikale Spaltbreite (FS c), nimmt mit zunehmender Heilung ab (FS k) und kann vor der knöchernen Überbrückung des Kallus kleiner sein (FS s) als die kortikale Spaltbreite (FS c)

Die Steifigkeit der Fixation und die Belastung definieren die interfragmentäre Bewegung

Die IFB ist eine komplexe Bewegung, da auf den frakturierten und stabilisierten Knochen eine Vielzahl von Kräften und Momenten aus verschiedenen Richtungen wirkt und die Osteosynthese häufig unter verschiedenen Belastungsrichtungen unterschiedliche Steifigkeiten aufweist. Im Prinzip können dadurch 3 translatorische und 3 rotatorische Bewegungen erzeugt werden. Die Belastungen resultieren aus äußeren Kräften (Gewichtsbelastung) und inneren Kräften (Muskelkräfte), welche im Allgemeinen nicht bekannt sind. Nur wenige Studien haben unter experimentellen Bedingungen an Großtieren [28, 34, 51] so komplexe Bewegungen mit aufwendiger Technik für eine spezielle Form der Osteosynthese gemessen. Die meisten Studien beschränken sich darauf, die IFB in ein oder 2 Richtungen zu messen [13, 55] oder beschreiben nur die initiale IFB nach Osteosynthese und nicht den Verlauf über der Heilungszeit.

Das Ziel der meisten experimentellen Studien war es, eine begrenzte Anzahl biomechanischer Situationen zu vergleichen, um die beste herauszufinden.

Modelle, die Frakturen (meist Querosteotomien) mit Osteosynthesen verschiedener Steifigkeit stabilisierten, studierten die Abnahme der interfragmentären Bewegung über der Heilungszeit und/oder analysierten das Heilungsergebnis zu einem gewählten Endzeitpunkt. Solche Studien ähneln dem Verlauf der Knochenheilung beim Patienten. Postoperativ fällt die äußere Belastung erst ab (Schonung) und steigt dann wieder an, während die IFB in den meisten Fällen stetig durch die Kallusbildung abnimmt.

Biomechanisch spricht man bei diesen Modellen von kraftgesteuerten IFB-Modellen

Im Unterschied dazu gibt es Modelle, die weggesteuert eine bestimmte IFB während der ganzen Heilungszeit erzwingen. Solche weggesteuerten Modelle haben keinen klinischen Bezug, erlauben jedoch gut, die Gewebereaktion im Frakturheilungsgebiet unter definierter IFB zu studieren.

Der Einfluss der interfragmentären Bewegung auf die Knochenheilung kann unter kraft- oder weggesteuerten Bedingungen studiert werden.

Trotz der großen Anzahl tierexperimenteller Studien zur Frakturheilung gibt es nur wenige Studien, die biomechanisch gut charakterisiert sind. Zudem ist es schwierig, vergleichbare Studien zu finden und generelle Schlussfolgerungen aus den Studien zu ziehen. Sie unterscheiden sich durch die verwendete Spezies (Schaf, Hund, Kaninchen, Ratte und Maus), die Frakturmodelle (Frakturen, Osteotomien, Quer- und Schrägfrakturen, Frakturspaltbreite, Heilungszeitpunkte, Steifigkeiten der Stabilisierung, applizierte IFB und angewendete Auswerteparameter).

Trotzdem lassen sich einige gesicherte Aussagen daraus ableiten.

Bei Frakturheilungsstudien mit Schafen, bei denen die Knochenheilung jener des Menschen sehr ähnlich ist [57], führen überwiegend axiale IFB zwischen 0,2 und 1 mm bei Frakturspalten zwischen 1 und 3 mm zu einer Stimulation der Kallusbildung und einer schnellen Knochenheilung in der Diaphyse [3, 12, 19, 32, 55]. IFB über 2 mm führen zu einer verzögerten Heilung [32, 51, 55] und große Bewegungen v. a. in Kombination mit größeren Frakturspalten zur hypertrophen Pseudoarthrose [7, 51].

Sehr steife Osteosynthesen, wie z. B. winkelstabile Platten, führen dagegen manchmal zu sehr geringen IFB direkt unterhalb der Platte (ca. 0,1 mm [3]) und unterdrücken damit einen mechanischen Reiz zur Knochenheilung (0,16 mm [22]).

Biegebeanspruchung kann auf einer Seite einer Fraktur eine Verkleinerung der Frakturspaltbreite (Druck) und auf der anderen Seite eine Vergrößerung der Frakturspaltbreite (Zug) bewirken. Ein solcher Versuch [22] zeigte, dass bei einer Frakturspaltbreite von 2 mm auf der Druckseite 1 mm IFB einen recht großen Kallus erzeugte, während 1 mm IFB auf der Zugseite nur wenig Knochenneubildung stimulierte. Moderate axiale Bewegungen (Druck) im beschriebenen IFB-Bereich fördern also die Kallusheilung. Frakturen unter Kompression, die keine IFB aufweisen, zeigen eine direkte Knochenheilung [52].

In einem Schafsmodell zur Knochenheilung mit Marknagelosteosynthese [28] wurde für einen stabileren Nagel (ca. 2° Rotation, 0,5 mm Scherung) eine bessere Knochenheilung gefunden als für einen flexibleren Nagel (ca. 10 Grad Rotation; ca. 3 mm Scherung). Ein Vergleich zwischen Marknagelosteosynthese und Fixateur-externe-Osteosynthese am gleichen Tiermodell [33] zeigte für die stabilere Fixateurmontage (2,7° Rotation, 1,7 mm Scherung) eine signifikant bessere Knochenheilung als für die flexiblere Marknagelosteosynthese (8,1° Rotation, 2,5 mm Scherung). Der negative Effekt von Scherbewegungen wurde auch in einer Studie bestätigt, die in einem Vergleich gleich großer transversaler und axialer Bewegungen (je 1,5 mm) in einer Querosteotomie beim Schaf [1] zeigte, dass es bei transversalen gegenüber den axialen Bewegungen zur signifikant schlechteren Knochenheilung kam.

Aus diesen Studien kann geschlossen werden, dass größere transversale IFB (größer als 1,5 mm) oder größere rotatorische IFB (größer als 8°) bei Querfrakturen oder Osteotomien eine Heilungsverzögerung hervorrufen.

Interfragmentäre Bewegung und Gewebedehnung

Die IFB ist eine biomechanische Größe, welche die Stabilität der Osteosynthese beschreibt, sie erlaubt jedoch keine direkte Korrelation mit der zellulären, biologischen Reaktion des heilenden Gewebes im Frakturbereich. Die Zellen werden überwiegend durch die Verformung der sie umgebenden extrazellulären Matrix beeinflusst.

Die interfragmentäre Bewegung erzeugt eine komplexe Gewebedehnung in der Fraktur

Der Zusammenhang zwischen Gewebedehnung und -differenzierung im Frakturspalt wurde zuerst von Perren und Cordey [49] beschrieben. Ihre Gewebedifferenzierungshypothese geht davon aus, dass immer nur das Gewebe im Frakturspalt entstehen kann, das die vorherrschenden Gewebedehnungen ohne Zerstörung erträgt. Während Granulationsgewebe am Anfang der Heilung ca. 100 % IFD erträgt, können bei knöcherner Überbrückung durch kalzifizierten Kallus nur noch 2–6 % toleriert werden. Die erforderliche Verminderung der IFD bis zur knöchernen Überbrückung ist bei ungestörter Knochenheilung gegeben. Unter geeigneter Stabilisation von Frakturen kommt es im Verlauf der Knochenheilung zu einer stetigen Verminderung der IFD durch eine Durchmesser- und Volumenzunahme des reifenden Kallusgewebes (Abb. 2). Das erlaubt die Differenzierung zu härteren Geweben wie Faserknorpel, was wiederum zur Versteifung des Kallus und zur Verminderung der IFD führt. Dadurch ist dann die enchondrale Ossifikation möglich, die den Kallus weiter versteift und die letztlich die IFD so weit herabsetzt, dass eine knöcherne Überbrückung möglich ist. Erst danach wird die IFD so weit reduziert, dass die kortikale Heilung des eigentlichen diaphysären Frakturspalts stattfinden kann.

Da sich die IFD aus der IFB und der Frakturspaltbreite errechnet (IFD = IFB/Spaltbreite), kann es bei kleinen Frakturspalten bereits bei moderaten IFB zu sehr hohen Dehnungen kommen, die keine Knochenheilung im kortikalen Spalt erlauben und sogar Knochenresorptionen hervorrufen können [49]. Wenn die Kallusbildung die IFB und IFD nicht ausreichend reduziert, kann es zur Heilungsverzögerung kommen. Größere Frakturspaltbreiten führen bei gleicher IFB zu kleineren IFD [49] und deshalb scheinbar zu besseren Vorraussetzungen für die Heilung. Bei dieser Überlegung wird jedoch außer Acht gelassen, dass es bei größeren Frakturspalten aufgrund der abnehmenden biologischen Heilungsfähigkeit [7] generell zu einer Verschlechterung der Knochenheilung kommt und dass für die Kallusbildung der Abstand zwischen den Kallusspangen wichtiger ist (Abb. 2) als zwischen den kortikalen Fragmentenden.

Die Knochenheilung, wie vorher beschrieben, beginnt nicht im kortikalen Frakturspalt, sondern am Periost in einiger Entfernung zum Spalt und weist damit einen größeren Abstand zwischen den Kallusspangen (FSp) auf als der kortikale Fragmentspalt (FSc). Dadurch verringert sich die Dehnung bei gleicher Bewegung (Abb. 2), was erklärt, warum gute Heilungen auch für initial relativ große IFB beschrieben werden. Wenn es aufgrund von Instabilitäten nicht zu Fragmentresorptionen kommt, bleibt die kortikale Frakturspaltbreite annähernd gleich, während die Distanz zwischen den Kallusspangen mit zunehmender Knochenheilung abnimmt (Abb. 2).

Bei tierexperimentellen Studien zum Einfluss der IFD auf die Frakturheilung versucht man nach Möglichkeit eine Bewegungsrichtung wie z. B. axiale Bewegungen und daraus resultierende überwiegend axiale Dehnungen zu erzeugen. Dabei gibt es, wie bereits oben beschrieben, 2 Möglichkeiten, eine kraft- oder eine weggesteuerte IFB. Bei den kraftgesteuerten Experimenten an Schafen wurde bei initialen IFD von bis zu 50 % gute Kallusheilungen gefunden [1, 7, 13, 55]. Die Dehnungen nahmen jedoch mit zunehmender Heilungszeit durch den wachsenden und steifer werdenden Kallus stetig ab und waren nach ca. 6 Wochen so gering geworden, dass es zur knöchernen Überbrückung kam.

Bei den weggesteuerten Knochenheilungsmodellen, bei denen die IFB bis zum Schluss der Experimente erzwungen wurde, war bei IFD über 50 % im Schafsmodell keine Heilung zu beobachten [6, 22, 31].

Ähnliche Ergebnisse wurden bei Frakturheilungsstudien im Rattenmodell gefunden, wo bereits bei IF-Scherdehnungen von 10 % nur Knorpel [15], bei 25 % fibröses Bindegewebe und bei 50 % Faserknorpel (Pseudoarthrose) gefunden wurde [15]. Andere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen am Rattenmodell. Unter erzwungener Bewegung wurden bei IFD von 15–25 % nur Knorpel und Faserknorpel gefunden und eine knöcherne Überbrückung fand nicht statt [42, 44]. Generell wird mit zunehmender IFB oder IFD die Kallusbildung stimuliert. Wenn es durch die Kallusbildung jedoch nicht gelingt, die IFD in der Endphase der Heilung unter ca. 15 % zu reduzieren, bleiben eine knöcherne Überbrückung und Heilung aus.

Methaphysäre Frakturheilung

Das bisher Gesagte gilt für die diaphysäre Kallusheilung. Für Frakturen in der Metaphyse gibt es nur eine Studie [9] zur Mechanobiologie der Frakturheilung. Im Unterschied zur Diaphyse findet in der Metaphyse überwiegend eine direkte trabekuläre Knochenheilung ohne externen Kallus statt. Bei der IFB unter 0,15 mm, in einem 3‑mm-Frakturspalt, ist die Knochenheilung verzögert (IFD ca. 5 %), bis ca. 0,6 mm (IFD ca. 20 %) desmal und darüber enchondral [9]. Die metaphysäre Knochenheilung scheint generell schneller abzulaufen als die diaphysäre und toleranter gegen größere IFB und IFD zu sein, was auf die größere trabekuläre Knochenoberfläche und bessere Durchblutung zurückgeführt wird [24].

Diese Angaben gelten für Frakturspaltgrößen bis ca. 3 mm in Schafsstudien. Für größere Frakturspalten ist generell auch bei gleicher Stabilität mit einer Verzögerung der Frakturheilung zu rechnen [39]. Unter solchen Umständen sind kleinere IFB (mehr Stabilität) von Vorteil [7].

Gewebedehnung und zelluläre Reaktionen

Am Anfang der Frakturheilung wandern mesenchymale Stammzellen (MSCs) in das Heilungsgebiet ein, die zu knochenbildenden Zellen differenzieren und den Kallus aufbauen. Wenn man das charakteristische Bild einer diaphysären Kallusheilung im histologischen Schnitt betrachtet (Abb. 3), sieht man, dass bei einer ungestörten Frakturheilung verschiedene Gewebetypen (Knochen, Bindegewebe und Knorpel) an verschiedenen Orten auftreten können. Neben biologischen Prozessen sind auch mechanobiologische Prozesse dafür verantwortlich. Nach der Gewebedifferenzierungshypothese von Pauwels (Abb. 4; [45]) differenzieren MSCs durch Dehnungen zu Osteoblasten und Fibroblasten und unter hydrostatischem Druck zu Chondrozyten und können damit verschiedene Gewebetypen aufbauen. Im Frakturkallus können zu gleicher Zeit und bei einer bestimmten IFB an verschiedenen Lokalisationen unterschiedliche mechanische Bedingungen auftreten, was die gleichzeitige Entwicklung verschiedener Gewebe erklärt.

Abb. 3
figure 3

Kallusheilung an der Schafstibia mit periostaler und endostaler Kallusbildung (Paragon-Färbung, violett Faserknorpel, rosa Knochen, beige Granulationsgewebe). Zwischen den verknöcherten Kallusspangen befindet sich noch eine Faserknorpelschicht (violett), während endostal eine desmale Knochenneubildung zu sehen ist (mit freundl. Genehmigung von John Wiley and Sons Inc.)

Abb. 4
figure 4

a Differenzierung von mesenchymalen Stammzellen in Abhängigkeit von den lokalen mechanischen Bedingungen nach der Hypothese von Pauwels [45]. Unter Gestaltänderung der Zellen (Gestaltänderungsdehnung) kann es zur Differenzierung zu Osteoblasten (c Histologiebild, desmale Knochenneubildung durch Osteoblasten auf der Oberfläche eines Knochentrabekels) und unter hydrostatischem Druck (Volumenänderungsdehnung) zur Differenzierung zu Chondrozyten und endochondraler Ossifikation kommen (b Histologiebild). (a und b aus [9], mit freundl. Genehmigung von John Wiley and Sons Inc.)

Da jedoch auf Zellebene in vivo die mechanischen Situationen nicht messbar sind, ist man dazu übergegangen, mechanische Reize auf isolierte Zellen in vitro in Zellkulturen zu studieren [30]. MSCs in dreidimensionalen Kulturen exprimierten unter Zugdehnung Bone Morphogenetic Protein 2 (BMP2 [56]) oder zeigten eine Hochregulierung von Genen der osteogenen und fibroblastischen Differenzierung, während Druck zur Expression von Genen der chondrogenen Differenzierung führte [21]. Zugdehnungen größer als 7,5 % führten allerdings zu einer erhöhten Apoptoserate gegenüber kleinen Dehnungen [29].

Unter zyklischen Druck von MSCs kam es zur Hochregulation von Transforming-Growth-Factor(TGF)-β1, Sox9, Aggregan und Kollagen-Typ-II-Genexpression [5, 23, 41, 46], die eine Differenzierung zu Knorpelzellen anzeigen. Dabei scheint die Hochregulation der Genexpression abhängig von der Druckhöhe zu sein und bei 10 MPa stärker zu sein als bei 0,1 MPa [41]. Diese Studien zur Mechanobiologie der Zellen stützen damit im Prinzip Pauwels’ Hypothese zur mechanisch gesteuerten Gewebedifferenzierung aus dem Mesenchym.

Neben der Differenzierung der MSCs werden auch die Proliferation und Aktivität der ausdifferenzierten Zellen durch die lokalen mechanischen Gegebenheiten gesteuert. So konnte an Osteoblastenkulturen gezeigt werden, dass Dehnungen bis zu 4 % die Proliferation der Zellen und ihre Syntheseleistung (Kollagen-Typ-I-Expression) erhöhten, aber wesentlich höhere Dehnungen diesen Effekt wieder reduzierten [26, 27]. Die mechanische Druckstimulation von Chondrozyten in dreidimensionalen Kulturen modulierte die Syntheseleistung der Zellen [4, 36, 40].

Die Verformung der extrazellulären Matrix beeinflusst die Zellreaktionen

Die Studien an isolierten Zellen zeigen, dass diese Zellen auf mechanische Reize durch eine veränderte biologische Antwort reagieren. Quantitative Aussagen über die Korrelation zwischen mechanischem Reiz und biologischer Antwort sind jedoch kaum möglich, da die isolierten Zellen in vitro sich anders verhalten als die in ihrer normalen extrazellulären Matrix eingebetteten Zellen in vivo.

Grundsätzlich ist jedoch nachgewiesen, dass Zellen in vivo in Abhängigkeit von den mechanischen Bedingungen eben jene Gene und Proteine verändert exprimieren, die auch in den In-vitro-Untersuchungen gefunden wurden [25, 35, 38, 43]. Neben den oben beschriebenen Genen gibt es jedoch noch eine weitere Anzahl Faktoren, die mechanisch reguliert werden. So fanden Salisbury Palomares et al. [50] in den Frakturkalli flexibel fixierter Knochen über 100 veränderte Gene der Knochen- und Knorpelentwicklung gegenüber stabil fixierten Knochen.

Der Mechanismus, wie die mechanischen Reize zu einer veränderten biologischen Reaktion der Zellen führen, wird durch die Mechanotransduktion beschrieben. Bisher wurden mehrere Signaltransduktionswege gefunden, die auf Verformungen der Zellmembran und des Zytoskeletts beruhen und von denen der WNT- („wingless integration“/β-Catenin) und der Östrogenrezeptorsignalweg wichtige Signalwege für die Knochenheilung zu sein scheinen [20, 30, 37].

Quantitative Gewebedifferenzierungshypothese

Alle oben beschriebenen Studien sprechen dafür, dass die Gewebetransformationshypothese von Pauwels [45] im Prinzip richtig ist. Sie beschreibt die Gewebedifferenzierung jedoch nur phänomenologisch und gibt keine quantitativen Angaben darüber, unter welchen mechanischen Bedingungen es z. B. zur Knochen- oder Knorpelbildung kommt. Für die Optimierung der mechanischen Eigenschaften von Osteosynthesen wäre dies jedoch eine notwendige Voraussetzung. Wir haben deshalb versucht, quantitative Korrelationen zwischen der lokalen mechanischen Situation im Frakturkallus und der Gewebereaktion auf Basis der oben beschriebenen Erkenntnisse zu finden, um eine neue quantitative Gewebedifferenzierungshypothese zu entwickeln. Leider gibt es keine Methode, die komplexe Gewebeverformung im Kallus in vivo zu messen. Um eine bessere Vorstellung der Dehnungsverteilung im Frakturheilungsgebiet zu bekommen, bedient man sich deshalb der aus der Technik bekannten Finite-Elemente-Methode (FEM), um an idealisierten numerischen Modellen von Frakturen die Gewebeverformungen zu berechnen (Abb. 5; [6, 11, 53, 54]). Durch Korrelationen der berechneten mechanischen Bedingungen (Dehnungen und hydrostatische Drücke) im Frakturkallus mit einer größeren Zahl histologischer Schnitte einer Frakturheilungsstudie (Abb. 5) wurden erstmals 1999 [11] quantitative Gewebedifferenzierungsregeln aufgestellt, die später noch für verschiedene Belastungsarten der Fraktur erweitert [53, 54] und an verschiedenen Tierversuchen validiert wurden.

Abb. 5
figure 5

a Finite-Elemente-Modell (FEM) eines Frakturkallus zu Beginn des Heilungsvorgangs (gelbes Rohr diaphysäres Knochenrohr, rotes Volumen Hämatom). Die Stabilisierung der Fraktur mit einem Fixateur externe wird durch ein Feder-Dämpfer-Modell simuliert. Als Belastung für den frakturierten Knochen wird eine axiale Belastung von 500 N [2] angenommen. b Aus dem FEM berechnete Dehnungsverteilung im Frakturheilungsgebiet (dunkelblau geringe, rot hohe Dehnungen) (mit freundlicher Genehmigung von U. Simon). Durch einen Vergleich der Dehnungsverteilung im berechneten FEM (b) und der Gewebeverteilung im histologischen Schnitt eines Frakturkallus (c) lassen sich Rückschlüsse zwischen Dehnungswerten und Gewebedifferenzierung ziehen (aus [9], mit freundl. Genehmigung von John Wiley and Sons Inc.)

Aus biomechanischer Sicht ist es dabei sinnvoll, gegenüber der von Pauwels benutzten Nomenklatur für die Dehnung den Begriff der gestaltändernden Dehnung und für den hydrostatischen Druck den Begriff der volumenändernden Dehnung zu verwenden, um den Dehnungszustand unabhängig von den Materialeigenschaften der Gewebe beschreiben zu können.

Unter Berücksichtigung der oben beschriebenen Korrelationen zwischen Gewebedehnungen und histologischen Reaktionen und der Erkenntnisse aus den mechanobiologischen In-vivo- und In-vitro-Untersuchungen wurde die in Abb. 6 dargestellte Gewebedifferenzierungshypothese formuliert. Die dargestellten Dehnungsgrenzen für die verschiedenen Gewebe sind Mittelwerte, die jedoch mit gewissen Toleranzen versehen sind [53, 54].

Abb. 6
figure 6

Gewebedifferenzierungshypothese als Funktion der gestaltändernden Gewebedehnung und der volumenändernden Gewebedehnung (hydrostatischen Drucks [11, 53, 54]). Sehr kleine mechanische Dehnungen führen zu einer Unterstimulation der Knochenheilung (A) und zum Knochenabbau, kleine Dehnungen stimulieren eine direkte (desmale Knochenneubildung, B), größere gestaltändernde Dehnungen und negative volumenändernde Dehnungen erzeugen endochondrale Ossifikationen (C) und für sehr hohe mechanische Dehnungen ist nur eine Bindegewebsbildung (D) oder eine Gewebezerstörung zu erwarten (mit freundlicher Genehmigung von F. Niemeyer)

Die Gewebedifferenzierung ist abhängig von den Dehnungen in der Fraktur

Mit dieser Gewebedifferenzierungshypothese ist es erstmals möglich, für die Steifigkeit (Stabilität) einer Osteosynthese die zu erwartende Gewebedifferenzierung (Knochenheilung) zu berechnen. Dies kann zur Analyse biomechanisch kritischer Osteosynthesebedingungen oder zur Optimierung von Implantaten und Operationstechniken eingesetzt werden (s. Teil 2 dieser Arbeit).

Fazit für die Praxis

  • Die Stabilität (Steifigkeit) einer Osteosynthese beeinflusst die interfragmentäre Bewegung und Gewebedehnung in der Fraktur.

  • Die interfragmentäre Bewegung und Gewebedehnung vermindert sich mit wachsender Kallusbildung und geht nach knöcherner Überbrückung der Fraktur gegen Null.

  • Die Gewebedehnung steuert die zelluläre Differenzierung und Syntheseleistung und damit die Gewebedifferenzierung und Knochenheilung.

  • Eine neu entwickelte Gewebedifferenzierungshypothese erlaubt die Berechnung der Knochenheilungsvorgänge in Abhängigkeit von der Steifigkeit der Osteosynthese.

  • Damit ist es grundsätzlich möglich, die geeignete Steifigkeit von Osteosynthesen für verschiedene Frakturen zu berechnen.