Hintergrund

Auf Basis der richtungweisenden Publikationen von Letournel und seinen Mitarbeitern [1] werden dislozierte Acetabulumfrakturen seit den 1970er Jahren zumeist operativ behandelt. Bei der operativen Versorgung spielt neben dem Allgemeinzustand des Patienten (z. B. schwere Mehrfachverletzung) und den lokalen Weichteilverhältnissen v. a. der Frakturtyp eine entscheidende Rolle. Auch wenn heute die Planung der Operation einer Acetabulumfraktur zumeist auf Basis eines CT erfolgt, ist insbesondere bei der Wahl des Zugangs die Fraktureinteilung von Letournel nach wie vor eine wichtige Entscheidungsgrundlage [2].

Der Standardzugang für Frakturen im Bereich des vorderen Randes bzw. der vorderen Säule oder vorderen Frakturen in Kombination mit einer hinteren hemitransversen Komponente ist der ilioinguinale Zugang nach Letournel [2, 3]. Dieser Zugang berücksichtigt dabei die anatomischen Strukturen des Beckens und erlaubt einen großzügigen visuellen bzw. palpatorischen Zugang zur gesamten vorderen Beckenschaufel, der Linea terminalis bis hin zur inneren Seite des hinteren Pfeilers [2, 3, 4]. Ein Nachteil des Zugangs besteht in der Tatsache, dass der gesamte vordere Anteil der Bauchwand von der Beckenschaufel bzw. dem Leistenband abgelöst werden muss, um Zugang zum eigentlich entscheidenden 2. Fenster (zwischen Muskel-Nerven-Bündel bzw. Gefäßbündel) zu erhalten. Insbesondere bei älteren Patienten kann der sehr ausgedehnte Zugang postoperativ zu Weichteilproblemen führen.

In der vorliegenden Arbeit soll als Alternative zu den bisher beschriebenen Zugängen zum vorderen Becken ein minimal-invasiver Zugang in einer Zwei-Inzisions-Technik („two inzision minimal invasive“, TIMI) vorgestellt werden.

Operationstechnik

Planung

Bei allen Patienten erfolgt im Rahmen der präoperativen Planung eine Computertomographie. Idealerweise sollten die Daten zur Beurteilung der Fraktursituation sowie zur Festlegung der intraoperativen Strategie (Repositionstechnik und Setzen der Zugschrauben) in einer 360 °-3D-Rekonstruktion vorliegen (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Präoperative 3D-Darstellung einer Fraktur des vorderen Acetabulumpfeilers (Patient 1)

Operationsschritte

Lagerung

Die Lagerung des Patienten erfolgt auf einem röntgendurchlässigen Operationstisch. Das Bein auf der Frakturseite wird dabei frei beweglich abgewaschen und kann während der Operation auf einen zusätzlichen beweglichen Minitisch positioniert werden (Abb. 2). Mit dem Bildverstärker wird die exakte Höhe des Hautschnittes (Länge ca. 3–7 cm) über der Frakturregion im Bereich der Linea terminalis markiert sowie ein weiterer zweiter Hautschnitt ca. 3 cm über der Symphyse.

Abb. 2
figure 2

Intraoperatives Setting mit Retraktionssystem (Synfame®; Synthes) und Lagerung des ipsilateralen Beins unter leichter Beugung des Hüftgelenks auf einem zusätzlichen mobilen Operationstisch

Lateraler Zugang

Der Eingriff erfolgt bei vollständiger muskulärer Relaxation des Patienten. Der Schnitt für den lateralen/proximalen Zugang sollte ausreichend lang sein, um die notwendigen Repositionen im Bereich der Linea terminalis durchführen zu können. In Abhängigkeit von der Komplexizität der Fraktur wird eine Schnittlänge von ca. 4–8 cm gewählt. Im Anschluss erfolgt nach Durchtrennung des Subkutangewebes die Spaltung des M. obliquus externus abdominis im Faserverlauf bis zu den Fasern des M. rectus abdominis. Eine Schicht tiefer erfolgt die Spaltung des M. obliquus internus und des M. transversus abdominis im Faserverlauf (Wechselschnitt) sowie die stumpfe Präparation nach retroperitoneal auf den M. iliopsoas. Insbesondere bei älteren Patienten lässt sich diese Schicht meist stumpf durchtrennen. Um eine Eröffnung Peritoneums zu vermeiden, sollte man bei der Präparation leicht nach lateral gerichtet auf den Bauch des M. iliacus vorgehen. Die Gefäße sollten sich dann in der Tiefe medial tasten lassen.

Über Langenbeck-Haken erfolgt zunächst die Retraktion des Gewebes und die Darstellung der Fascia iliopectinea. Unter Verwendung eines Tupfers werden die iliakalen Gefäße nach medial mobilisiert. Danach erfolgt die Inzision der Fascia iliopectinea in Richtung Schambein und die Mobilisation des M. iliopsoas nach lateral gemeinsam mit dem N. femoralis unter Beugung des Beins im Hüftgelenk.

Zugang zum Schambein

Über den zweiten ca. langen 3 cm Hautschnitt erfolgt die Spaltung der Faszie des M. rectus abdominis nahe der Symphyse. Der M. rectus abdominis wird an seinem Ansatz medialseitig etwas eingekerbt und nach lateral gehalten, so dass Symphyse und Schambein gut zur Darstellung kommen. Danach lässt sich das Gefäßbündel im Spatium retropubicum von medial nach lateral unterfahren. Mit Hilfe einer großen Overhold-Klemme kann bei Unterfahrung des Gefäßbündels eine Texil- oder Gummischlinge um die Weichteilbrücke zwischen medialem und lateralem Zugang geschlungen werden (Abb. 3). Die Pulse der A. iliaca externa sollten in dieser Weichteilbrücke tastbar sein.

Abb. 3
figure 3

Umschlingung der Weichteilbrücke mit den externen iliakalen Gefäßen mit einem 1 cm breiten Textilband

Reposition der Fraktur

Über dem proximalen Zugang wird dann ein Retraktionssystem (Synframe©; Fa. Synthes) angebracht, über welches mit 3–5 Spateln das Gewebe über der Fraktur zur Seite gehalten wird (Abb. 4). In der eigenen Praxis hat es sich manchmal als hilfreich erwiesen bei Beugung im Hüftgelenk (ca. 20–30 °) den etwas entspannten M. iliopsoas mit dem N. femoralis durch einen lateral in die Beckenschaufel eingeschlagenen Hohmann-Haken zu retrahieren (dieser lässt sich im Synframe-System fixieren). Im Anschluss kann die Darstellung und Säuberung der Frakturregion erfolgen.

Abb. 4
figure 4

a Anatomische Zeichnung zur Position der Haken des Retraktionssystems, b intraoperativer Situs mit Einsicht in die Frakturregion

Unter Verwendung der Ligamentotaxis (Zug am Bein) sowie der üblichen Instrumente und Zangen (z. B. Abb. 8) erfolgt die Reposition der Fraktur im Bereich des Acetabulums. Hierbei können über den Zugang die üblichen Manöver erfolgen, so wie diese bei dem klassischen ilioinguinalen Zugang ebenfalls durchgeführt werden (Verwendung von Kirschner-Drähten, isolierten Zugschrauben etc.).

Nach anatomischer Reposition der Fraktur erfolgt das Einschieben einer Rekonstruktionsplatte über den distalen Schnitt. Es empfiehlt sich, die Platten am anatomischen Präparat vorzubiegen und zu sterilisieren. Üblicherweise werden Kleinfragmentrekonstruktionsplatten mit 12 bzw. 14 Löchern verwendet. Nachdem die Platte mit einem Kirschner-Draht temporär im Bereich der Symphyse fixiert wurde, erfolgt das Einbringen einer ersten Kortikalisschraube durch die Platte supraazetabulär. Im Weiteren werden dann in üblicher Weise sowohl im Bereich des Schambeinastes als auch der Darmbeinschaufel die Schrauben eingesetzt (Abb. 5, Abb. 6). In der eigenen Praxis wird zu Ende der Operation mit Hilfe der initial eingesetzten Weichteilschlinge ein Redon-Schlauch eingezogen, welcher direkt auf der Platte zu liegen kommt.

Abb. 5
figure 5

Postoperativer Weichteilsituation (Patient 1)

Abb. 6
figure 6

24-Monats-Röntgenkontrolle in a.-p.- (a), Obturator- (b) und Alaprojektion (c, Patient 1)

Nachbehandlung

Alle Patienten werden nach Möglichkeit am 1. bis 2. postoperativen Tag aus dem Bett mobilisiert. Die Nachbehandlung erfolgte unter Teilbelastung (maximal 15 kg) für 2–3 Monate postoperativ.

Ergebnisse

Seit 1/2008 wurde in der eigenen Klinik in 88 Fällen der TIMI-Zugang verwendet. Der ilioinguinale Zugang oder andere ventrale Zugänge (z. B. Olerud-Zugang) fanden dagegen keine Anwendung mehr (weiteres Beispiel in Abb. 7, Abb. 8, Abb. 9, Abb. 10, Abb. 11).

Abb. 7
figure 7

Präoperative 3D-Darstellungen einer Fraktur des vorderen (a) und hinteren (b) Acetabulumpfeilers (Patient 2)

Abb. 8
figure 8

Intraoperativer Situs (Patient 2) mit Darstellung der Reposition des hinteren Pfeilers mit einer großen Repositionszange („King-Tong-Zange“)

Abb. 9
figure 9

Postoperativer Weichteilsituation (Patient 0)

Abb. 10
figure 10

ac Postoperative 2D- und 3D-Darstellungen des Acetabulumdoms und der Osteosynthese (Patient  2)

Abb. 11
figure 11

12-Monats-Röntgenkontrolle in a.-p.- (a), Obturator- (b) und Alaprojektion (c, Patient 2)

Zuletzt wurden die Daten einer prospektiven Studie mit 26 Patienten, die alle einen Nachuntersuchungstermin von ≥ 12 Monaten postoperativ wahrnehmen konnten, publiziert [5]. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen waren vielversprechend. Es zeigte sich, dass die Operation durchschnittlich in 109 ± 30 min durchgeführt werden konnte. Alle Operationswunden heilten primär ab. In der postoperativen radiologischen Kontrolle zeigte sich bei 20 Frakturen ein anatomisches und in 6 Fällen ein befriedigendes Ergebnis (meist bei fortgeschrittener Osteoporose und zentralen isolierten Fragmenten). Im poststationären bzw. Langzeitverlauf ließen sich keine Weichteilkomplikationen feststellen. Operative Revisionen waren nicht notwendig.

In der Langzeituntersuchung 12 Monate nach dem Trauma zeigte sich ein „Harris Hip Score“ (HHS) von 86,6 ± 8 Punkten. Die Lebensqualität, gemessen am EQ-5D-Fragebogen, war vergleichbar der Lebensqualität eines gleichaltrigen Normalkollektivs.

Diskussion

Der TIMI-Zugang bietet eine attraktive und komplikationsarme Alternative zum ilioinguinalen Zugang. Aus unserer Sicht besteht neben der Weichteilschonung der große Vorteil in der Möglichkeit des direkten Zugangs zur Schlüsselregion der Fraktur direkt über dem Acetabulum. Damit stellt dieser Zugang den direkten perkutanen Weg zum 2. Fenster des Letournel-Zugangs dar. Die ausgedehnte Ablösung der vorderen Bauchwand, so wie sie für den Letournel-Zugang notwendig ist, kann dabei vermieden werden.

Die Visualisierung der Frakturregion kann über einen relativ kleinen Zugang mit Hilfe des Retraktionssystems gewährleistet werden. Alle wichtigen Regionen im Bereich der Linea terminalis bis hoch zum Iliosakralgelenk können dargestellt werden. Dies erfolgt durch Zug bzw. Entspannung der einzelnen Haken des Synframe-Systems.

Das Einbringen der Repositionsinstrumente, der Zugschrauben und der neutralisierenden Platte erfolgt direkt über dem Acetabulum. In der eigenen Studie konnte nachgewiesen werden, dass auch bei Patienten mit schlechter Knochenqualität und höherem Alter dauerhaft gute Operationsergebnisse erzielt werden können. Diese waren vergleichbar mit den Ergebnissen anderer Autoren unter Verwendung des ilioinguinalen Zugangs [4, 6, 7, 8, 10].

Ein weiterer Vorteil des TIMI-Zugangs besteht in der deutlich kürzeren Operationszeit mit 109 min. In der Literatur werden für vergleichbare Frakturversorgungen durchschnittlich 175–253 min angegeben [6, 7, 8]. Gleichzeitig sei jedoch darauf hingewiesen, dass trotz der kürzeren Operationszeit der Blutverlust mit durchschnittlich 1000 ml nicht deutlich unter dem anderer Zugangstypen liegt. Dies ist im Wesentlichen dadurch begründet, dass relevante Blutungen v. a. dann entstehen, wenn die Fraktur vor der definitiven Reposition gereinigt und debridiert wird.

Der klassische ilioinguinale Zugang ist i. Allg. mit einer durchschnittlichen Komplikationsrate von 10 % behaftet. Dies schließt Hernien, Thrombosen, Verletzungen der femoralen Gefäße, Lymphödeme, Hämatome und verzögerte Wundheilung mit ein [2, 6, 7]. Zusätzlich finden sich Verletzungen des N. cutaneus femoris lateralis in 12–57 % der Patienten [2, 8, 9]. In unserer Studie fanden wir bisher erfreulicherweise keine neurologische Läsion, die dem Zugang zugeschrieben werden kann.

Als Alternative zum klassischen ilioinguinalen Zugang wurde von Cole u. Bolhofner [11] der Stoppa-Zugang beschrieben. Dieser Zugang eröffnet im Vergleich zum ilioinguinalen Zugang zusätzliche Möglichkeiten. Dabei kann die iliopectineale Faszie direkt unter Sicht inzidiert und die Corona mortis direkt kontrolliert werden. In Fällen, in welchen die Reposition auf einen Bereich unterhalb der Gabelung der großen Iliakalgefäße limitiert werden kann, ist es möglich, Rekonstruktionsplatten vom sakroiliakalen Gelenk bis zur Symphyse zu positionieren. In solchen Fällen, in denen eine zusätzliche Reposition im Bereich der Darmbeinschaufel notwendig ist, muss jedoch ein weiterer lateralseitiger Zugang mit Ablösung der Bauchwand und des M. iliacus durchgeführt werden. In ihrer Serie von 55 Patienten, die mit dem Stoppa-Zugang behandelt wurden, musste in 42 % der Fälle ein zusätzlicher lateralseitiger Zugang durchgeführt werden.

Die gleiche Technik wurde bei Hirvensalo et al. [12] in einer großen Serie von 164 Patienten beschrieben. Auch in dieser Serie musste jeweils zur Reposition von Frakturen der vorderen Säule, welche in die Darmbeinschaufel reichten, ein weiterer lateraler Zugang durchgeführt werden. In ihrer Serie gaben die Autoren in 18 % der Fälle Weichteil- und Gefäßkomplikationen an [12].

In neueren Publikationen zum Stoppa-Zugang von Sagi et al. [13] und Andersen et al. [14] wird eine gute Visualisierung und Möglichkeit zur Reposition der quadrilateralen Fläche und der hinteren Säule beschrieben. Jedoch ist auch an diesen neueren Arbeiten in 60 % der Fälle ein zusätzlicher Zugang an der Darmbeinschaufel notwendig gewesen.

Von den Autoren wird als Hauptvorteil des Stoppa-Zugangs die Möglichkeit der Positionierung einer Abstützplatte über der quadrilateralen azetabulären Fläche genannt. Die Notwendigkeit einer solchen Abstützplatte ist bisher jedoch nicht erwiesen. Bereits in den biomechanischen Betrachtungen von Letournel wird darauf hingewiesen, dass es v. a. bedeutsam ist, die hintere und vordere Säule gegeneinander anatomisch zu reponieren. Auf diese Weise sind die stützenden Areale im Dom des Acetabulums wieder hergestellt, und eine mediale Luxation des Hüftkopfes in das kleine Becken kann dabei sehr gut verhindert werden. Dieses Prinzip lässt sich durch den TIMI-Zugang sehr gut berücksichtigen, durch den auch die hintere Säule gut erreicht werden kann, da die iliakalen Gefäße nach medial weggehalten werden.

Als möglicher Nachteil der TIMI-Technik ist zu erwähnen, dass man gute anatomische Kenntnisse zu der Region des kleinen Beckens haben sollte. Durch eine großzügigere Freilegung wie beim klassischen ilioinguinalen Zugang lassen sich diese Kenntnisse möglicherweise leichter erwerben.

Nichtsdestotrotz zeigte sich aus unserer Erfahrung, dass durch das Retraktionssystem und den direkten Zugang zur Frakturregion eine exzellente Möglichkeit zur Reposition und Fixation der Fraktur besteht. Seit Einführung des TIMI-Zugangs in unserer Klinik war es in keinem Fall mehr notwendig, auf den ausgedehnten ilioinguinalen Zugang zurückzugreifen.

Fazit für die Praxis

Aufgrund der guten Schonung der Weichteile und der Tatsache, dass keine Kompromisse hinsichtlich der Frakturreposition gemacht werden müssen, denken wir, dass dieser Zugang eine wichtige Erweiterung bei der Behandlung von Acetabulumfrakturen darstellt.