Die Fraktur des proximalen Humerus ist die dritthäufigste Fraktur des älteren Menschen nach hüftnahen Oberschenkelfrakturen und Radiusfrakturen mit steigender Inzidenz. Ursache dafür ist die altersbedingte Zunahme der Osteoporose. Im Gegensatz zum jungen sind es beim älteren Menschen meist Niedrigenergietraumen mit einfachen Stürzen, die als Traumamechanismus zur Verletzung führen. Die demographische Entwicklung mit dem Älterwerden der Menschen lässt eine weitere Zunahme der Inzidenz dieser Frakturen erwarten.

Palvanen et al. [1] konnten zeigen, dass zwischen 1970 und 2002 bereits eine Verdreifachung der proximalen Humerusfrakturen unter der finnischen Bevölkerung stattgefunden hat mit Zunahme der Inzidenz von 32/100.000 auf 105/100.000. Dabei ist das Durchschnittsalter von 73 auf 78 Jahre angestiegen. Interessanterweise hat sich die Geschlechterverteilung Frauen/Männer zu Ungunsten der männlichen Bevölkerung von 3,6/1 (1970) auf 2,6/1 (2002) verschoben. Die UNO prognostiziert einen Steigerung von jährlich 2% bei >60 Jährigen in unserer Bevölkerung und erwartet einen Anstieg von >50% über die nächsten 4 Dekaden bis 2050 und damit wäre davon auszugehen, dass die Inzidenz in den nächsten Jahren noch weiter ansteigt [2]. Allerdings bestätigte sich diese Hypothese in der Arbeit von Kannus et al. [3] nicht. Die Autoren wiesen an finnischen Frauen >80 Jahren nach, dass die Inzidenz proximaler Humerusfrakturen in den Jahren 1970 von 88/100.000 bis 1995 auf 304/100.000 dramatisch angestiegen ist. Allerdings wurde dann in diesem Kollektiv ein Plateau erreicht mit einer Inzidenz von 298/100.000 im Jahr 2007. Somit trat in den letzten 15 Jahren der prognostizierte Anstieg an proximalen Humerusfrakturen bei älteren Frauen nicht ein. Die genauen Ursachen hierfür sind unbekannt. Von den Autoren werden aber ein besserer Gesundheitsstatus im Alter mit höherer Mobilität und geringerem Sturzrisiko als mögliche Faktoren genannt.

In einer 5 Jahre dauernden prospektiven epidemiologischen Studie proximaler Humerusfrakturen konnten Court-Brown et al. [4] zeigen, dass in 87% der Fälle ein Sturz aus Standhöhe der häufigste Unfallmechanismus einer proximalen Humerusfraktur war. Darüber hinaus konnte in dieser Arbeit die Geschlechts- und Altersabhängigkeit dieser Brüche aufgezeigt werden. Die Inzidenz dieser Frakturen verdoppelte sich beim weiblichen Geschlecht mit jeder Dekade ab dem 4. Lebensjahrzehnt; 73% aller Frakturen betrafen Frauen. Bell et al. [5] bestätigten die Prävalenz des weiblichen Geschlechts und fanden sogar 85% aller proximaler Humerusfrakturen bei Frauen.

Klassifikation und Frakturmorphologie

Mehrere Autoren stellten Systeme vor, um Humeruskopffrakturen zu klassifizieren. Grundsätzlich sollte ein Klassifikationssystem neben deskriptiven morphologischen Aspekten v. a. therapeutische und auch prognostische Aussagen ermöglichen. Ein weiterer entscheidender Punkt bei der Anwendung von Frakturklassifikationen stellt die Reproduzierbarkeit und Übereinstimmung zwischen verschiedenen Untersuchern (sog. „intra-“ und „interobserver reliability“) dar. Und von Vorteil ist natürlich auch eine gewisse Simplizität mit hoher Praktikabilität und „Anwenderfreundlichkeit“. Erst bei Erfüllung all dieser Kriterien besteht Anspruch auf Vollständigkeit.

Die erste Frakturklassifikation stammt von Codman aus dem Jahre 1934 [6] und beruht auf den 4  Teilen des Humeruskopfes, nämlich Kopffragment, Tuberculum majus und minus und dem Schaftfragment. Je nach Frakturverlauf ergeben sich 12 Möglichkeiten der Frakturmorphologie. Im Jahre 1970 hat Neer seine Klassifikation veröffentlicht die auf der 4-Fragment-Einteilung von Codman aufbaut. Sie beinhaltet 6 Untergruppen, wobei Gruppe I die minimal dislozierten Frakturen (Verschiebung <1 cm oder Abkippung <45°) umfasst, Gruppe II–V die dislozierten Frakturen (Verschiebung >1 cm oder Abkippung >45°) und Gruppe VI die Luxationsfrakturen [7].

Im Jahre 1990 wurde die AO-Klassifikation publiziert. Sie beruht auf der für alle AO-Klassifikationen typischen Einteilung in 3 Gruppen, nämlich extraartikulär, teilweise artikulär und intraartikulär mit insgesamt 27 Möglichkeiten der Unterteilung. Bis dahin fehlende Frakturformen wie Valgusfrakturen wurden berücksichtigt. Als Hauptkritikpunkte dieser Klassifikation ist die Darstellung in nur einer Ebene zu nennen sowie die geringe Praktikabilität bei unzureichender Interobserver-Reliabilität [8].

Hertel [9] hat im Jahre 2005 die Codman-Klassifikation wieder aufgegriffen und mit Legobausteinen anschaulich dargestellt. Er verzichtet dabei auf die Berücksichtigung des Ausmaßes der Frakturverschiebung und bezieht sich ausschließlich auf den Frakturverlauf. Lediglich die Länge des Kalkars von <8 mm und die Verschiebung des Hinge von >2 mm ist für ihn für die Blutversorgung des Kopffragments wesentlich. Wie schon bei Codman [6] beschrieben sind 12 verschiedene Frakturkombinationen möglich. Fragen nach einer Varus- oder Valgusdeformität können mit dieser Einteilung in Form einer Zusatzinformation ebenfalls beantwortet werden.

Trotz vieler Versuche ist es aber bis heute nicht gelungen, in entscheidender Weise ein Klassifikationssystem zu finden, welches all diese Kriterien in ausreichendem Masse erfüllt.

Ein großes Problem stellt vielfach die zu geringe „intra-“ und „interobserver reliability“ dar, was dazu führt, dass zwischen den verschiedenen Kollegen nicht dieselbe „Sprache“ gesprochen wird.

Für die üblicherweise verwendeten Klassifikationen nach Neer und der AO konnte nur eine niedrige Vergleichbarkeit festgestellt werden. Als Ursachen wurden für die Neer Klassifikation die Schwierigkeiten mit der Messung in Millimeter bzw. Graden und das Fehlen von gewissen Frakturformen und für die AO-Klassifikation die Abbildung in nur einer Ebene und die Vielzahl der Untergruppen angeführt [10, 11]. Eine Übereinstimmung zwischen den Untersuchern war nur in jedem 2. Fall gegeben [10]. Eine weitere Ursache, die für beide Klassifikationssysteme gilt, wurde in der Röntgendiagnostik gesehen, da sich Frakturen schon bei geringer Armdrehung in ihrer Darstellung stark verändern können [10].

Majed et al. [12] verglichen die „interobserver reliability“ der gängigsten Frakturklassifikationssysteme [Neer-Klassifikation, AO-Klassifikation, LEGO-Codman-Klassifikation nach Hertel, und HCTS-Klassifikation nach Resch (noch nicht publiziert)] am proximalen Humerus anhand von konventionellen Röntgenaufnahmen, CT-Bildern mit 2D- und 3D-Rekonstruktionen sowie synthetisch hergestellten 3D-Frakturmodellen bei ausgewiesenen international renommierten Experten auf diesem Gebiet und einigen Klassifikationsbegründern selbst. Auch in dieser methodisch hervorragend aufgearbeiteten Studie zeigte sich, dass selbst unter den „Spezialisten“ Uneinigkeit besteht und die Werte für die „interobserver reliability“ nur unzureichend waren. Die beste Reliabilität wurde für die Codman-Hertel-Klassifikation (κ=0,44) und für bestimmte Teile der Klassifikation von Resch (κ=0,52 für „impaction/distraction“, κ 0,48 für Valgus/Varus) gefunden. Am schlechtesten schnitt die AO Klassifikation (κ=0,11) ab [12].

Die Autoren schlussfolgern zu Recht, dass die derzeit zur Verfügung stehenden Klassifikationssysteme in unzureichendem Masse reproduzierbar sind, damit ein Vergleich teilweise unzulänglich wird und der Bedarf für neue Klassifikationssysteme mit besserer Übereinstimmung besteht. Weiters wurde darauf hingewiesen, dass die von Codman beschriebenen klassischen 4 Teile der Humeruskopffraktur nicht immer in dieser streng vereinfachten Form vorliegen und häufig das Frakturmuster von höherer Komplexität ist [12].

Court Brown et al. [4] analysierten in ihrer Arbeit das Frakturmuster und fanden, dass gemäß der Neer Klassifikation 49% aller proximalen Humerusfrakturen in ihrem Kollektiv gering dislozierte Brüche mit <1 cm Verschiebung oder 45° Abkippung waren. Die restlichen 51% erfüllten die Kriterien der operativen Versorgung. 28% waren subkapitale 2-Segment-Frakturen und 9% dislozierte 3-Segment-Frakturen mit subkapitaler Bruchlinie und Abriss des Tuberculum majus. Somit gehörten 86% aller Frakturen nur drei Kategorien an. Gemäß der AO-Klassifikation waren 66% der Frakturen entweder isolierte Tuberculum-majus-Frakturen oder isolierte subkapitale Frakturen (Gruppe A), wobei 47% dieser Gruppe subkapitale Frakturen waren mit metaphysärer Impaktion (A2) oder ohne Impaktion (A3). Der Guppe B gehören die bifokalen oder verschobenen Frakturen mit 27% an. Die restlichen 7% waren intraartikuläre Brüche bzw. Luxationsfrakturen. Die deskriptiven Möglichkeiten dieser Klassifikation wurden deutlich über jene der Neer-Klassifikation gestellt [4].

Auf der Basis einer prospektiven Studie mit CT-3D-Rekonstruktion von 93 Fällen konnten Foruria et al. [13] 4 Frakturformen erstellen die 86% aller Frakturen ausmachten. Diese waren die posteromediale (Varus-)Impaktionsfraktur mit 50%, die laterale (Valgus-)Impaktionsfraktur mit 14%, die isolierte Tuberculum-majus-Frakturen mit 16% und die anteromediale Impaktionsfraktur mit 6%.

Über die Frakturmorphologie hinaus gehend gibt es jedoch Kriterien, die eine Prognose für die Kopfdurchblutung zulassen und somit das Behandlungsregime beeinflussen können.

Hertel et al. [14] konnten in einer prospektiven Studie an 100 proximalen Humeruskopffrakturen zeigen, dass die Länge des Kalkars von >8 mm eine gute Prognose für die Kopfdurchblutung darstellt, hingegen eine Länge von <8 mm kritisch sein kann, vor allem wenn noch weitere ungünstige Faktoren wie Verschiebung am medialen Scharnier („hinge“) oder eine Mehrfragmentsituation dazukommen. Darüber hinaus konnten sie nachweisen, dass eine mediale Verschiebung des Schaftes gegenüber dem Kopf (Hinge-Verschiebung) signifikant schwerwiegender ist als eine laterale Verschiebung des Schaftes. Die Integrität des medialen Hinge ist auch für die Stabilität der Fraktur insofern bedeutsam, als dass ein nicht zerrissenes Periost gleichzeitig auch einen mechanischen Hinge darstellt und die Reposition erleichtert.

In diesem Zusammenhang fällt dem posteromedialen Periost eine größere Bedeutung zu als dem anteromedialen. Am intakten Humeruskopf ist der Beitrag der A. circumflexa anterior über den R. ascendens an der Kopfdurchblutung wesentlich [15, 16, 17]. Am frakturierten Humeruskopf ist dieser Ast in 80% der Fälle unterbrochen und die A. circumflexa posterior muss alleine die Durchblutung gewährleisten, vorausgesetzt, dass ihre Äste nicht durch das zerstörte Periost unterbrochen sind [18]. Neuere Untersuchungen von Hettrich et al. [19] haben gezeigt, dass die A. circumflexa humeri posterior 64% der Blutversorgung des proximalen Humerus und nur 36% von der A. circumflexa humeri anterior gewährleistet wird. Somit käme dem posteromedialen Kalkarabschnitt insgesamt noch wesentlich mehr Bedeutung zu, nachdem hier das Hauptgefäß entlang zieht und dessen Integrität eine prognostisch entscheidende Rolle hinsichtlich der Entstehung einer posttraumatischen avaskulären Humeruskopfnekrose einnimmt.

Duparc [20] wies zusätzlich auf die Bedeutung der kapsulären Gefäße am medialen Kalkar hin. An 30 Schulterarthroskopien wurde die Ausdehnung der Kapsel am medialen Kalkar vermessen und es zeigte sich, dass die Kapsel im Durchschnitt 12 (0–33) mm distal der Knorpel-Knochen-Grenze am medialen Kalkar inseriert. Für die Praxis bedeutet dies, dass Frakturen, welche am medialen Kalkar proximal dieser Kapselinsertion auslaufen und die zuführenden Kapselgefäße einreißen, mit einem entsprechend höheren Risiko der Durchblutungsstörung des Kalottenfragments vergesellschaftet sind.

Hinsichtlich der Rate an posttraumatischen avaskulären Nekrosen weichen die Angaben in der Literatur weit auseinander [21, 22, 23, 24]. Auch der zeitliche Verlauf gestaltet sich unterschiedlich mit fulminanten Verläufen bis hin zu oft jahrelang latenten Verläufen.

Allerdings konnte gezeigt werden, dass eine radiologisch gesicherte avaskuläre Nekrose des Humeruskopfes nicht zwingend mit einem schlechten klinischen Ergebnis einhergehen muss. Vielmehr war es die Deformierung des Humeruskopfes als die Nekrose an sich, die mit funktionell schlechten Ergebnissen vergesellschaftet war. Gerber et al. [25] waren es auch, die aufzeigten, dass Patienten mit einer posttraumatischen avaskulären Humeruskopfnekrose kein signifikant schlechteres Ergebnis zeigten als jene Patienten, die primär mit einer Frakturprothese versorgt worden waren.

Hardeman et al. [26] orientierten sich an den Hertel-Kriterien und evaluierten mittels Röntgen und Computertomographie (CT) präoperativ die Dislokation und Blutversorgung des Humeruskopfes und klassifizierten die Frakturen nach dem AO-Schema. Postoperativ wurden die Frakturen mit Röntgen Verlaufskontrollen unter Heranziehen der Hertel-Kriterien und der Qualität der Behandlung evaluiert. Es zeigte sich, dass die Varusdeformität mit einem signifikant schlechteren Ergebnis einhergeht als eine Valgus- oder Neutralstellung des Kopfes. Zu einer ähnlichen Erkenntnis kamen auch Solberg et al. [27]. Dem erhaltenen bzw. zerrissenen Periost wird sowohl für die Blutversorgung als auch für die Reposition große Bedeutung beigemessen [26]. In einer biomechanischen Studie an 20 Kadavern begann das posteromediale Periost bereits nach 3 mm Verschiebung zu rupturieren und war nach 34 mm vollständig rupturiert. Nicht beantwortet werden konnte die Frage, ab wann die Blutgefäße zu rupturieren beginnen [28].

Eine weiterhin interessante Fragestellung bleibt jene der Toleranzgrenzen für Fehlstellungen am Humeruskopf. Hier wurden in der Literatur unterschiedliche Ergebnisse hinsichtlich der posttraumatischen Humeruskopfmorphologie und dem klinischen Ergebnis publiziert. Während Solberg et al. [27] und Hardemann et al. [26] bei Varusfrakturen schlechte Ergebnisse berichteten, sind es bei Foruria et al. [13] in erster Linie laterale Impaktionsfrakturen und nach kranial dislozierte Tuberculum-majus-Frakturen mit resultierendem sekundären mechanischen subakromialen Impingement. Letztere sind v. a. für den Schulterschmerz verantwortlich. Jede um 10 mm höhere Dislokation gegenüber der Gelenkfläche führt zu einer Erhöhung des VAS Schmerzscores um 0,8 Punkte. In Varusstellung impaktierte Frakturen zeigten hingegen die größte Bewegungseinschränkung in Elevation und Außenrotation.

Diagnostik

Nach einer eingehenden klinischen Untersuchung der betroffenen Extremität mit Überprüfung von Durchblutung, Motorik und Sensibilität sollte auch auf Begleitverletzungen geachtet werden, v. a. im Bereich des Schultergürtels und des Thorax. Obligat ist die Dokumentation des sensiblen Versorgungsbereichs des N. axillaris im Deltamuskelbereich am lateralen proximalen Oberarm, nachdem gerade bei komplexen Frakturformen sowie Luxationsfrakturen es zur Nervenaffektion kommen kann.

Als Bildgebung wird eine a.-p.-Aufnahme und eine axiale Aufnahme der betroffenen Schulter gefordert.

Anstatt der axialen Aufnahme kann auch eine transkapuläre Aufnahme angefertigt werden. Neer fordert mit seiner Traumaserie alle 3 Aufnahmen wobei er die axiale Aufnahme im Liegen durchführte („true lateral view“). Obwohl der Wert der CT als zusätzliches diagnostisches Hilfsmittel bezweifelt wurde [29, 30], konnten neuere Arbeiten beweisen, dass mit der CT zusätzliche Aussagen über die Länge des medialen Kalkars und die Verschiebung des medialen „Hinge“ gemacht werden können. Darüber hinaus können verlässliche Angaben über die Inklination des Kopfes in der zweiten Ebene gemacht werden. CT-3D-Modelle stellen die Frakturen plastisch dar und ermöglichen ein erhöhtes Verständnis für die wirkliche Frakturform. Durch die Einbeziehung von 3 Ebenen können neue Frakturformen beschrieben werden, die den realen Frakturen entsprechen [13].

Auch wir empfehlen den routinemäßigen Einsatz der CT mit multiplanaren Rekonstruktionen sowie einer 3D-Rekonstruktion. Dies erlaubt in maximal zuverlässiger Weise die Evaluierung der Frakturmorphologie sowie Erhebung prognostischer Faktoren.

Beurteilt werden:

  • Varus-/Valgusstellung der Kalotte,

  • Flexions-/Extensionsstellung der Kalotte,

  • Rotationsfehlstellung der Kalotte,

  • Impaktion oder Distraktion der Kalotte,

  • Anzahl der Fragmente,

  • Länge des posteromedialen Kalkars,

  • Dislokation am medialen „Hinge“.

Bei Kompromittierung der Durchblutung der betroffenen Extremität empfiehlt sich die Durchführung eines Kontrastmittel-CT, um eventuelle Gefäßläsionen im Bereich der oberen Thoraxapertur bzw. im Schulterbereich zu detektieren.

Die Magnetresonanztomographie (MRT) hat im Bereich der Akutdiagnostik der Fraktur keinen Stellenwert. Eine Mitbeteiligung der Rotatorenmanschette ist biomechanisch eher auszuschließen und kann grundsätzlich auch sonographisch festgestellt werden. Eine zentrale Rolle nimmt allerdings die MRT im posttraumatischen Verlauf ein, wenn die Fragestellung einer posttraumatischen avaskulären Humeruskopfnekrose auftritt. Gerade in Frühstadien kann dabei die Vitalität des Kalottenfragments beurteilt werden und der Verlauf dokumentiert werden.

Eigene Untersuchungen hinsichtlich der Frakturmorphologie

In einer prospektiven Studie wurden 200 konsekutive Humeruskopffrakturen von 200 erwachsenen Personen analysiert. Alle Patienten erhielten Röntgenuntersuchungen in 2 Ebenen (a.-p. und transskapulär) und eine CT-Untersuchung mit 2D- und 3D-Rekonstruktion (Somatom Definition AS Plus Scanner, Siemens).

Folgende Frakturformen wurden gefunden:

  • Isolierte Tuberculum-majus-Frakturen lagen in 3% der Fälle und in einem Fall eine Tuberculum-minus-Fraktur vor.

  • Luxationsfrakturen kamen in 18 Fällen (9%) vor, wovon 13 (6,5%) vordere und 5 (2,5%) hintere waren. Als Begleitverletzung zur Luxation lag in 8 Fällen (4%) eine Tuberculum-majus-Fraktur und in 10 Fällen (5%) eine komplexe Fraktur mit subkapitaler Beteiligung vor. Von den 200 Frakturen war somit der Halsbereich in 185 Fällen frakturiert (92,5%). Head-split-Frakturen mit Frakturverlauf im mittleren Drittel der Gelenkfläche lagen in 2,5% vor.

Komplexe Frakturformen

Varus- und Valgusfrakturen wurden nur dann als solche gezählt, wenn die Abkippung des Kopffragments >20° betrug. Bei 75% aller Frakturen war dies der Fall; 25% wurden diesbezüglich als normal eingestuft. Dasselbe galt auch für Abkippungen in der Sagittalebene, die dann als Flexions- (nach hinten offener Winkel) bzw. Extensionsfehlstellungen (nach vorne offener Winkel) bezeichnet wurden; 41% aller Frakturen wiesen eine solche Fehlstellung auf.

Varusfrakturen

Von den 200 untersuchten Fällen waren 86 (43%) varisch deformiert. Zwei Arten von Varusfrakturen konnten unterschieden werden.

Varusimpaktionsfraktur

Kennzeichen dieser Fraktur ist neben der Varusstellung eine posteromediale Einstauchung des Schaftes in das Kopfsegment. Die Einstauchung ist durch intaktes dorsolaterales Periost entstanden. Es kommt dadurch zu einer mehr oder weniger ausgeprägten posterioren Abkippung. Typisch für diese Frakturen ist daher eine lateralseitig fehlende Distanz zwischen den Fragmenten. (Abb. 1). Diese Frakturform wurde in 43% aller Varusfrakturen gefunden. In mehr als der Hälfte der Fälle (57%) betrug die posteriore Abkippung >20° in der Sagittalebene. In solchen Fällen mit markanter Abkippung in beiden Ebenen wird diese Fraktur auch als „posteromediale Varusimpaktionsfraktur“ bezeichnet [13]

Abb. 1
figure 1

CT-3D einer Varusimpaktionsfraktur: a Sicht von hinten zeigt Varusstellung, mediale Einstauchung und fehlende laterale Frakturdistanz. b Sicht von lateral zeigt Kippung des Kopfes nach hinten (Flexionsstellung)

Varusdistraktionsfraktur

Im Gegensatz zu obiger Fraktur ist Kopf und Schaftfragment häufig voneinander getrennt, wobei der Schaft zumeist nach vorne und medial disloziert ist. Kennzeichnend ist, dass lateralseitig zwischen den Fragmenten eine Distanz besteht, die auf ein zerrissenes Periost schließen lässt. Der Kopf zeigt daher auch nicht immer eine posteriore Abkippung. Eine solche lag auch nur in 53% dieser Frakturen vor. Die Varusdistraktionsfraktur wurde in 57% aller Varusfrakturen gefunden. (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

CT-3D einer Varusdistraktionsfraktur: a Sicht von hinten zeigt starke Varusstellung (Tuberculum majus intakt!) und ausgeprägte Frakturdistanz lateralseitig. b Sicht von lateral zeigt die starke Verschiebung des Schaftes nach ventral

In 64% (55 Fälle) aller Varusfrakturen war das Tuberculum majus zusätzlich frakturiert und in unterschiedlichem Ausmaß disloziert. In 4 Fällen (4,7%) war die Verschiebung des Tuberculum majus dermaßen, dass der Kopf durch den Zug des M. subscapularis innenrotiert war. Durch den fehlenden Zug des M. supraspinatus verliert der Kopf nicht selten seine Varusstellung und nimmt die Normal- oder gar eine Valgusstellung ein. (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Varusdistraktionsfraktur mit Tuberculum-majus-Abriss: a CT-3D mit Sicht von hinten. Varusstellung des Kopfes und stark nach medial disloziertes Tuberculum majus. Schaft nach ventral disloziert. b CT axial zeigt die Innenrotation des Kopfes und Dislokation des Tuberculum majus

In nur 9% aller Varusfrakturen waren beide Tuberkula frakturiert, wobei in 4 Fällen das Tuberculum majus nur im hinteren Anteil gebrochen war und daher in der röntgenologischen a.-p.-Aufnahme ein intaktes Tuberculum majus erscheinen ließ (Shield-Fraktur nach Edelson; [24]).

Valgusfrakturen

Von den 200 untersuchten Fällen waren 31% (62/200) valgisch deformiert. Nach dem Ausmaß einer zusätzlichen Abkippung in der Sagittalebene konnten auch hier 2 Formen unterschieden werden.

Valgisch laterale Impaktionsfraktur

Kennzeichen dieser Fraktur ist eine vornehmlich laterale Impaktion des Kopffragments ohne wesentliche Abkippung in der Sagittalebene (<20°). Diese Frakturform lag in 71% aller Valgusfrakturen vor (Abb. 4); 35,5% haben eine Hinge-Verschiebung von > 2 mm aufgewiesen (Abb. 5).

Abb. 4
figure 4

CT-3D einer Valgisch lateralen Impaktionsfraktur Sicht von vorne (a) und von hinten (b) zeigt laterale Impaktion ohne Hinge-Verschiebung; beide Tuberkula frakturiert

Abb. 5
figure 5

CT-3D einer valgisch lateralen Impaktionsfaktur, Sicht von dorsal zeigt Impression des Kopffragments mit Hinge-Verschiebung

Valgisch posterolaterale Impaktionsfraktur

Zusätzlich zur Valgusstellung ist das Kopffragment auch noch nach posterior abgekippt (>20°). Diese Frakturform wurde in 24% aller Valgusfrakturen gefunden (Abb. 6); 14,5% haben eine Hinge-Verschiebung  >2 mm gezeigt.

Abb. 6
figure 6

CT-3D einer valgisch posterolateralen Impaktionsfraktur mit Head-split-Anteil. a Sicht von vorne zeigt großes Tuberculum-minus- und -majus-Fragment (Shield-Fragment nach Edelson). b Sicht von hinten zeigt stark posterolateral eingestauchtes Kopffragment mit Head-split-Anteil, hohes Frakturniveau aber ohne Hinge-Verschiebung

Valgusfrakturen ohne Impaktion

Durch eine massive Schaftverschiebung lag zwar eine Valgusstellung des Kopfes vor, jedoch ohne Impaktion von Kopf und Schaft (5%).

Hinge-Verschiebung und medialseitiges Frakturniveau

Entsprechend den Angaben von Hertel et al. [14] sind bei komplexen Frakturen eine Frakturdistanz von <8 mm vom anatomischen Hals an der medialen Seite und eine Frakturverschiebung um >2 mm nach lateral nekrosegefährdend. In Zusammenhang mit diesen Kriterien haben Varus- und Valgusfrakturen ein unterschiedliches Verhalten gezeigt.

Die nekrosegefährdende Kombination eines hohen Frakturniveaus (<8 mm) mit einer dorsomedialen Hinge-Verschiebung von >2 mm und der Fraktur beider Tuberkula („unhappy triad“) war nur bei 3,5% (3/86) aller Varusfrakturen vorhanden. Bei den Valgusfrakturen wurde diese Kombination in 14,5% (9/62) gefunden (Abb. 6). Somit sind Valgusfrakturen deutlich stärker Nekrose gefährdet als Varusfrakturen.

Diskussion

Die epidemiologischen Studien aus Finnland und Schottland ließen auf eine überaus starke weitere Zunahme der Häufigkeit von Oberarmkopffrakturen in der Zukunft schließen [1, 4] was sich allerdings nicht bestätigt hat [3]. Im Gegensatz zum jüngeren Patienten entstehen Frakturen des älteren Menschen fast ausschließlich durch Stürze im Niveau. Schon heute sind 70% aller 3- und 4-Segment-Frakturen bei >60-jährigen Patienten zu finden [4].

Die Uneinigkeit in der Behandlung dieser Frakturen ist überaus groß

Die Uneinigkeit in der Behandlung dieser Frakturen ist überaus groß und reicht von konservativer Behandlung über minimal osteosynthetischen Verfahren, offenen winkelstabilen Verplattungen, Nagelungen bis hin zu prothetischen Versorgungen [27, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39]. Die Ursachen für die Uneinigkeit in der Behandlung sind einerseits in der Osteoporose mit der Schwierigkeit der Fragmentretention gelegen, andererseits aber auch in der Schwierigkeit der richtigen Einschätzung einer Fraktur, die mit Röntgenbildern oft nur unzureichend möglich ist.

Eine weitere Schwierigkeit liegt in der mangelnden Vergleichbarkeit verschiedener Operationsverfahren. Übereinstimmende Publikationen über die nur mäßige Reliabilität der üblicherweise verwendeten Klassifikationssysteme lassen eine Vergleichbarkeit von Studien über Oberarmkopffrakturen nur bedingt zu [10, 11]. Ursachen dafür sind die fehlende Darstellung einzelner Frakturen in den Systemen, die Außerachtlassung der zweiten Ebene, die Messung von Distanzen in Millimeter bzw. Graden und die häufig mangelhafte Qualität der Röntgenbilder die durch Schonhaltung des Armes häufig auch nicht besser möglich sind. Ein weiterer Nachteil der Röntgendarstellung ist die veränderte Darstellung der Fraktur durch auch nur gering veränderte Armpositionen [10]. Die CT mit 2D- und 3D-Rekonstruktion ermöglicht hingegen eine plastische Darstellung der Fraktur und deren Studium von allen Seiten. Dadurch erhebt sich die Frage, inwieweit die bisherigen Klassifikationssysteme, die allesamt auf Röntgenbildbasis erstellt wurden, noch zielführend sind.

Die Anzahl der Fragmente ist auch weiterhin ein wichtiges Kriterium, jedoch sind die Lage der einzelnen Fragmente zueinander sowie deren Position in den drei Ebenen für die Einschätzung der periostalen Zusammenhänge ebenso wichtig [32, 40, 41]. Darüber hinaus ist die selektive Einschätzung der Frakturhöhe und der Hinge-Verschiebung im dorsomedialen Bereich nur auf den 2D- und 3D-Rekonstruktionen gut möglich. Somit entsteht zwangsläufig der Wunsch nach einer Klassifikation von immer wiederkehrender Frakturformen basierend auf 3D-Darstellungen. Die von uns und in ähnlicher Form auch von anderen dargestellten Frakturformen lassen einen Vergleich von Studien unterschiedlicher Zentren zu [13]. Die 3D-Darstellung erlaubt im Vergleich zum Summationsbild des Röntgens nicht nur eine bessere Einschätzung der Durchblutung des Kopfsegmentes, sondern lässt auch Schlüsse über die periostalen Zusammenhänge zwischen den Fragmenten zu, was wiederum für die Reststabilität der Fraktur und für die Reposition wichtig ist.

In diesem Zusammenhang, aber auch wesentlich für das klinische Ergebnis, ist die Stellung des Kopffragments in Relation zum Schaft [13, 27]. Varusfrakturen haben sich insgesamt als sehr instabile Frakturen mit großer Tendenz zur Redislokation erwiesen [27]. Das trifft in besonderem Maße für Varusfrakturen mit Distraktion zu, da hier die meisten periostalen Zusammenhänge zwischen Kopf und Schaft unterbrochen sind. Eine ganz besonders instabile Form dieser Frakturen stellt die Varus Distraktionsfraktur mit stark disloziertem Tuberculum-majus-Abriss dar (sog. 3-Segment-Fraktur nach Neer). Bei diesen Frakturen kann der Kopf ungehindert dem Zug des M. subscapularis in die Innenrotation folgen. Durch den Abriss des Tuberculum majus verliert der Kopf nicht selten seine Varusstellung und nimmt in der Koronarebene eine Normal- oder gar eine Valgusstellung ein. Varusimpaktionsfrakturen weisen im Gegensatz zu Varusdistraktionsfrakturen eine deutlich größere Reststabilität auf, da dorsolaterale Periostanteile zwischen Kopf und Schaft durch die Impaktion des Schaftes intakt geblieben sind.

Valgusfrakturen stellen nach unseren Kriterien (>20°) etwa ein Drittel aller Frakturen dar. Die Lage des Kopffragments in Relation zum Schaft hat mit der Stellung des Arms während der Impaktion zu tun, je nachdem ob sich dieser eher in der Skapulaebene, davor oder dahinter befunden hat. Die pathomorphologische Unterscheidung zwischen lateraler und posterolateraler Impaktionsfraktur weist auf die Verkippung des Kopffragments nicht nur in der koronaren sondern auch in der sagittalen Ebene hin. Die stärkere dorsale Impaktion hat im dorsomedialen Bereich weniger häufig zur Hinge-Verschiebung geführt als bei den lateralen Impaktionsfrakturen.

Obwohl Varusfrakturen in 80% eine Hinge-Verschiebung und in 45% ein hohes Frakturniveau aufweisen sind sie weniger Nekrose gefährdet als Valgusfrakturen, weil sie nur selten mit Frakturen beider Tuberkula einhergehen. Die Kombination von hohem dorsomedialem Frakturniveau  +  Hinge-Verschiebung  +  Fraktur beider Tuberkula könnte man auch als „unhappy triad“ bezeichnen, da sie nach heutigem Wissen ein hohes Nekrosepotential in sich trägt.

Fazit für die Praxis

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die eingehende Auseinandersetzung mit diesen Frakturen unter Beachtung zumindest von zwei, besser aber aller drei Ebenen eine Voraussetzung ist, um eine Fraktur auch richtig einschätzen zu können. Erst danach kann die Frage nach der Wahl des Operationsverfahrens gestellt werden.