Zusammenfassung
Die Versorgung von Azetabulumfrakturen stellt eine Herausforderung an das Wissen, die räumliche Vorstellung und das operative Können des behandelnden Unfallchirurgen dar. Insbesondere die allseits von Muskulatur umgebene Lage des Gelenks mit oftmals nur indirekter Kontrolle des Repositionsergebnisses bei fehlender direkter Aufsicht auf die Gelenkfläche macht die Behandlung anspruchsvoll. In dieser Übersichtsarbeit werden neben den anatomischen Besonderheiten, der Klinik, der radiologischen Diagnostik sowie der Klassifikationssysteme insbesondere die Zugangswege und die Behandlungsprinzipien dargestellt. Bei den Zugangswegen stehen der ilioinguinale und der hintere Zugang nach Kocher-Langenbeck im Fokus. Die erweiterten Zugänge verlieren in Anbetracht der hohen Komplikationsraten an Bedeutung. Therapeutisch gilt der Schwerpunkt den operativ-rekonstruktiven Behandlungsmöglichkeiten. Neuere Therapieoptionen, die sich etwa durch den Einsatz der Navigation ergeben, werden hinsichtlich ihrer klinischen Relevanz diskutiert.
Abstract
Fractures of the acetabulum are a challenge in terms of orientation and the surgical skills of the orthopedic trauma surgeon. Due to the surrounding soft tissues and because of the indirect reduction control, operative treatment of acetabular fractures can be very demanding. This review includes the anatomical and clinical features, the radiological diagnostic approach, the classification systems, and, in particular, the surgical approaches and treatment principles. The work houses for surgical approaches are the ilioinguinal and the posterior (Kocher-Langenbeck) approach. In view of the high complication rate, the extended approaches are of less relevance. The therapeutic relevance of recent developments including navigation is discussed.
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Die Azetabulumfraktur weist Besonderheiten auf, die die Herausforderungen bei der operativen Versorgung erklären: Es handelt sich um eine insgesamt seltene Fraktur mit geringen Fallzahlen, auch in Häusern der Maximalversorgung. Die Seltenheit dieser Frakturen wird auch daran ersichtlich, dass es nur wenige prospektive Studien über diese Verletzung gibt [5]. Randomisierte klinische Studien, in denen verschiedene (Operations)Methoden zur Behandlung von Azetabulumfrakturen verglichen werden, gibt es nach unserem Wissen bislang nicht.
Grundlagen
Die Azetabulumfraktur beinhaltet sehr unterschiedliche Frakturtypen, die präoperativ zumeist erst durch die computertomographische Bildgebung im tatsächlichen Ausmaß sichtbar werden. Die anatomische Lage des Hüftgelenks, das von allen Seiten von kräftiger Muskulatur und wichtigen Gefäß-Nerven-Strukturen umgeben ist, bedingt anspruchsvolle Zugangswege. Schließlich können durch keinen Zugangsweg alle Anteile des frakturierten Azetabulums gleichermaßen gut angegangen werden. Die direkte Aufsicht auf die betroffene azetabuläre Gelenkfläche selbst ist zumeist nicht möglich – es sei denn, der Hüftkopf wird intraoperativ luxiert.
Anatomisch setzt sich das Azetabulum aus den Anteilen des Os ilium, Os ischii und Os pubis zusammen. Funktionell werden 2 Pfeiler unterschieden (Abb. 1), die bei der Aufsicht von der Seite her näherungsweise einem umgekehrten Y entsprechen. Das Azetabulum selbst wird von den beiden Schenkeln dieses umgekehrten Y begrenzt. Dabei wird die zum vorderen Pfeiler gehörende mediale knöcherne Begrenzung von der sog. quadrilateralen Fläche (Vierkantfläche) gebildet, die nur eine geringe Dicke aufweist und bei einem Bruch häufig nur schwer zu adressieren ist.
Anders als schwere Beckenringverletzungen sind Azetabulumfrakturen – zumindest bei isoliertem Auftreten – in aller Regel nicht lebensbedrohlich und gehen nicht mit schwersten Blutungen einher, die ein sofortiges Handeln bedingen würden [30]. Dementsprechend haben Azetabulumfrakturen zumeist eine aufgeschobene Dringlichkeit, und es ist somit ausreichend Zeit für sorgfältige diagnostische Maßnahmen und weitere Planungen gegeben. Anders ist die Situation bei gleichzeitigem Vorliegen einer Hüftluxation: Hier steht die rasche Reposition des Hüftkopfs zur Verbesserung der Hüftkopfdurchblutung und damit der Prognose ganz im Vordergrund. Weitere Situationen, die ein rasches Handeln erfordern, sind bei offenen Frakturen und bei progredienter Nervenläsion gegeben, beides Situationen, die nur ausgesprochen selten auftreten.
Bezogen auf die Epidemiologie von Azetabulumfrakturen finden sich in einer skandinavischen Studie aus dem Jahr 1992 folgende Zahlen: Die Inzidenz aller Beckenfrakturen lag bei 20/100.000 Einwohner, davon betrafen 10% das Azetabulum [21].
Hinsichtlich des Unfallmechanismus sind Hochrasanzverletzungen von solchen Verletzungen zu unterscheiden, die durch eine geringe Krafteinwirkung gekennzeichnet sind. Solche Verletzungen betreffen überwiegend Menschen jenseits des 60. Lebensjahrs mit osteopenen Knochenverhältnissen.
Grundsätzlich muss insbesondere bei Hochrasanzverletzungen mit weiteren Verletzungen gerechnet werden. Bei einer Krafteinwirkung von der Seite ist mit einer höheren Rate von Begleitverletzungen zu rechnen als bei einer Krafteinwirkung nach dorsal [20]. Begleitverletzungen der Wirbelsäule wurden in einer nordamerikanischen Studie bei etwa 13% der Patienten beobachtet [1]. Bei etwa einem Drittel muss mit dem gleichzeitigen Vorliegen einer Beckenringfraktur gerechnet werden.
Klinik
Anamnestisch kann man bereits erste Hinweise auf eine Azetabulumfraktur erhalten: sog. „dashboard injuries“ mit einem direkten Anprall des Kniegelenks bei gleichzeitiger Beugung im Knie- und Hüftgelenk ergeben einen Verdacht. Die Klinik der Azetabulumfraktur ist zumeist nur wenig wegweisend und eher unspezifisch: Schmerzen in der Hüfte und stark schmerzhafte Bewegungseinschränkungen können als typisch gelten, werden aber auch bei anderen Verletzungen und Erkrankungen beobachtet. Lediglich bei der gleichzeitigen Luxation des Femurkopfs aus der Hüftpfanne findet man eine gut sichtbare Beinverkürzung mit schmerzhafter Beugung im Hüft- und Kniegelenk (federnde Fixation) sowie eine Rotations- und Adduktionsfehlstellung. Mögliche Nervenläsionen (N. ischiadicus!) gilt es vor einem Repositionsmanöver zu erfassen. Ebenso erfolgt eine sorgfältige Inspektion von möglichen Verletzungen der Haut bzw. der Weichteile. Um Gefäßverletzungen auszuschließen, erfolgt die Palpation des Leisten- sowie der Fußpulse, im Zweifelsfall schließt sich daran eine dopplersonographische Untersuchung an.
In Anbetracht der zumeist nur wenig spezifischen klinischen Befunde ist die sorgfältige röntgenologische Abklärung umso wichtiger.
Bildgebung
Das Verfahren zur Bildgebung bei Azetabulumfraktur ist seit vielen Jahren die Computertomographie, die häufig erst die Komplexität einer Fraktur im ganzen Ausmaß erkennen lässt und somit gleichermaßen wichtig ist für die Klassifizierung als auch für die Operationsplanung mit der Entscheidung für den geeigneten Zugangsweg. Die 3D-Rekonstruktionen können gerade bei komplexen Frakturen in Ergänzungen zu den Schnittbildern die räumliche Vorstellung vom Frakturverlauf erleichtern.
Gleichwohl ist es nach wie vor von Bedeutung, die konventionellen Röntgenaufnahmen einschließlich der speziellen schrägen Projektionen (Ala- und Obturator-Aufnahmen) richtig interpretieren zu können. Dies gilt umso mehr, da über diese Projektionen intraoperativ eine Erfolgskontrolle möglich ist und durch den Vergleich mit den präoperativ angefertigten Aufnahmen erleichtert wird. Zudem kann ein präoperativer Vergleich der konventionellen Bilder mit den CT-Schnittbildern das Verständnis für den Frakturverlauf verbessern [24].
Die Schrägprojektionen bilden nur die interessierende Beckenhälfte ab. Bei der Ala-Projektion wird das Becken in der Frontalebene um 30° relativ zum Zentralstrahlengang gekippt, d. h. die unverletzte Seite wird angehoben, wodurch der hintere Pfeiler mit der ilioischiadischen Linie sowie der dann sich weiter nach lateral projizierende vordere Pfannenrand konturbildend dargestellt werden können. Umgekehrt wird bei der Obturator-Projektion die verletzte Seite in Relation zum Strahlengang angehoben. Hierdurch wird – gleichsam als Kontrolle – das Foramen obturatorium gut einsehbar. Konturgebend dargestellt werden dabei der dorsale Pfannenrand sowie der ventrale Pfeiler mit Darstellung der Linea iliopectinea [10].
Klassifikation
International am weitesten verbreitet ist die Klassifikation nach Judet und Letournel [10, 11]. Darin werden 5 einfache Frakturformen – Frakturen der beiden Pfeiler, des vorderen und hinteren Pfannenrands sowie horizontal verlaufende Frakturen – von 5 kombinierten unterschieden (Abb. 2). Vorteil dieser anatomisch ausgerichteten Klassifikation ist, dass sie deskriptiv und einfach nachvollziehbar ist. Über den tatsächlichen Schweregrad der Verletzung und über die Prognose sagt sie jedoch wenig aus.
Aufbauend auf der Klassifikation von Judet und Letournel wurde die AO-Klassifikation entwickelt, die das bekannte ABC-Stufenschema beinhaltet:
-
Bei den A-Frakturen ist nur eine Säule betroffen.
-
Die B-Frakturen umfassen diejenigen mit einem horizontalen Frakturverlauf
-
Bei den C-Frakturen, die den höchsten Grad der Instabilität darstellen, sind schließlich beide Säulen betroffen.
Auch wenn die AO-Klassifikation einen genaueren Vergleich – etwa im Rahmen von Studien – ermöglicht, hat sie sich bislang weder in der internationalen Literatur noch in der alltäglichen klinischen Praxis durchsetzen können.
Zugangswege
Die Hüftgelenkspfanne liegt in der Tiefe allseits von Muskulatur umgeben. Eine sorgfältige präoperative Planung des geeigneten Zugangswegs in Abhängigkeit des vorliegenden Frakturverlaufs ist deshalb von eminenter Bedeutung. Die beiden wichtigsten Zugangswege in der Behandlung von Azetabulumfrakturen sind der ilioinguinale Zugang nach Letournell [11] und der hintere Zugang nach Kocher-Langenbeck. Allerdings gelingt es durch keinen der unterschiedlichen Zugänge, eine komplette Darstellung von allen Abschnitten des Azetabulums zu erreichen.
Der ilioinguinale Zugang nach Letournel hat den Vorteil, dass er weichteilschonend ist. Bezogen auf die Muskulatur muss nur der M. iliacus knochennah abgelöst werden [22]. Das Bein der betroffenen Seite wird frei gelagert, um durch Traktion und Rotation Manipulationen vornehmen zu können (Abb. 3 a). Durch Beugung im Hüftgelenk gelingt eine Entspannung des M. iliopsoas, was den Zugang erleichtert. Über insgesamt 3 Arbeitsfenster kann der Situs eingestellt werden: Hierüber gelingt die Darstellung der Innenseite der Beckenschaufel inkl. der quadrilateralen Fläche (Vierkantenfläche) in der Tiefe und unterhalb der Linea terminalis. Ein Anschlingen der Femoralgefäße über das 2. Fenster wird obligat durchgeführt, ein Skelettieren der Gefäße sollte zur Schonung des Lymphabflusses vermieden werden. Wichtig ist, dass bei der Präparation im Bereich des 2. Fensters sorgfältig auf die sog. Corona mortis geachtet wird. Hierbei handelt es sich um variable Anastomosen zwischen der A. iliaca externa und interna. Diese Gefäße sollten zur Vermeidung von Blutungskomplikationen unbedingt ligiert werden [28].
Dieser Zugang ermöglicht die Versorgung von Frakturen des gesamten vorderen Pfeilers (Abb. 4), der nach dorsal bis knapp an das Sakoriliakalgelenk heranreicht, sowie von Frakturen der vorderen Wand, von Querfrakturen bis hin zu wenig verschobenen Frakturen des hinteren Pfeilers [29]. Bei diesem Zugang lässt sich der hintere Pfeiler nur im Bereich der Incisura ischiadica palpieren, der deshalb über diesen Zugang nur sehr eingeschränkt manipuliert werden kann. Der hintere Pfannenrand – Frakturen in diesem Bereich sind zahlenmäßig am häufigsten – kann über diesen Zugang nicht direkt erreicht werden. Postoperative Läsionen des N. femoralis als eine Komplikation dieses Zugangswegs sind in der Literatur beschrieben [12].
Der Zugang nach Kocher-Langenbeck kann in Seitenlagerung oder in Bauchlage durchgeführt werden [17]. In Bauchlage ist allerdings die intraoperative Beweglichkeit des Hüftgelenks, insbesondere die Beugung, eingeschränkt, weshalb wir im eigenen Vorgehen die Seitenlagerung bevorzugen.
Wichtig ist bei diesem Zugang, dass das Bein der betroffenen Seite frei gelagert und während der Operation im Knie gebeugt gehalten wird, um Zug am N. ischiadicus zu vermeiden (Abb. 3 b). Hierfür ist ein 3. Assistent nötig. Im eigenen Vorgehen wird der N. ischiadicus immer sorgfältig dargestellt, wir zügeln den Nerv aber nicht an. Sofern für die Reposition der Fragmente eine Traktion erforderlich ist, kann ein großer Distraktor mit passagerer Fixation am Beckenkamm und in der Trochanterregion ausgesprochen hilfreich sein. Anders als durch die Traktion am Bein durch einen Assistenten ist hiermit eine besser kontrollierte Kraftanwendung möglich – bei gleichzeitiger Relaxation des Patienten durch die Kollegen der Anästhesiologie.
Die Indikation zum Kocher-Langenbeck-Zugang ergibt sich bei hinteren Rand- und hinteren Pfeilerfrakturen (Abb. 5) sowie bei transversen Frakturen mit gleichzeitigen hinteren Randfrakturen. Die quadrilaterale Fläche kann bei diesem Zugang nur palpatorisch über die Incisura ischiadica erreicht werden.
Als ein Vorteil dieses Zugangs ist zu erwähnen, dass bei Bedarf intraoperativ eine Luxation des Hüftkopfs durchgeführt werden kann. Eine solche Indikation ergibt sich v. a. bei freien Gelenkkörpern, die anderweitig nicht geborgen werden können. Gut untersucht ist, dass die A. circumflexa femoris medialis wichtig für die Durchblutung des Hüftkopfs ist. Bei einer Luxation des Hüftkopfs ist dieses Gefäß unbedingt zu schonen und durch einen intakten M. obturator externus während des Luxationsmanövers zu sichern [19]. Weiterhin sind Verletzungen des Labrums zu vermeiden [4].
Durch die Trochanter-Flip-Osteotomie bzw. bigastrische Osteotomie [26, 27] mit knöcherner Ablösung im Bereich des Trochanter majors und mit den daran befindlichen Ansätzen von Gluteus medius und Vastus lateralis, die nach ventral verschoben werden, können über den hinteren Zugang die kranialen Anteile des Azetabulums dargestellt werden. Zudem kann unter Schonung der Weichteile und nach Dislokation des osteotomierten Trochanters nach ventral die intraoperative Luxation des Hüftkopfs sowohl nach ventral als auch nach dorsal durchgeführt werden – mit einem nur geringen Risiko der Hüftkopfnekrose. Wichtig ist, dass durch die Osteotomie am Trochanter – wie bereits weiter oben erwähnt – die A. circumflexa femoris medialis nicht geschädigt wird.
Als wichtigste Komplikationen des Kocher-Langenbeck-Zuganges gelten die heterotope Ossifikation, die Hüftkopfnekrose sowie die Ischiadikusläsion.
Die wichtigsten erweiterten Zugänge , die in Seitenlagerung durchgeführt werden, sind:
-
1.
der erweiterte iliofemorale Zugang nach Judet und Letournel [11], der eine Modifikation und Erweiterung des Smith-Petterson-Zugangs darstellt,
-
2.
die Maryland-Modifikation des iliofemoralen Zugangs,
-
3.
der „triradiate approach“ nach Mears.
Beim erweiterten iliofemoralen Zugang nach Judet und Letournel wird in Seitenlagerung sowohl die äußere als auch innere Beckenschaufel freigelegt. Ansatznah werden die pelvitrochantäre Muskulatur, die kurzen Außenrotatoren, der M. sartorius sowie die Rektusmuskulatur abgelöst. Die Präparation ist insgesamt sehr zeitaufwendig. Bei den anderen erweiterten Zugängen werden die Muskelablösungen teils knöchern durchgeführt. Durch die Muskelablösung ist ein gleichzeitiger Zugang zu beiden Pfeilern in unterschiedlichem Ausmaß sowie insbesondere zu der supraazetabulären Region möglich (Abb. 6). Allerdings ist der Zugang zu den anterioren Abschnitten des vorderen Pfeilers bei den erweiterten Zugängen nur limitiert möglich.
Diese erweiterten Zugänge haben in den letzten Jahren angesichts der hohen Komplikationsraten sowie der anspruchsvollen und langwierigen Präparation zunehmend an Bedeutung verloren. Als wichtigste Komplikation insbesondere der erweiterten Zugänge ist die heterotope Ossifikation zu nennen mit häufig sehr ausgedehnten Verkalkungen in der Muskulatur und den Weichteilen. Weiterhin kommt es durch die ausgedehnten Ablösungen zu einer Schwächung der pelvitrochantären Muskulatur mit ungünstigen funktionellen Ergebnissen. Als Alternative zu den erweiterten Zugängen bietet sich an, den vorderen (ilioinguinalen) Zugang mit dem hinteren Zugang (nach Kocher und Langenbeck) entweder in einem Eingriff – dann mit Umlagerung des Patienten – oder zweizeitig zu kombinieren [25]. In Abhängigkeit vom vorliegenden Frakturtyp kann ggf. im ersten Eingriff eine Stabilisierung des vorderen Pfeilers durchgeführt werden, um dann in der Seitenlagerung eine Subluxation des Kopfs nach ventral vermeiden zu können. Allerdings muss sichergestellt sein, dass durch den ersten Eingriff eine weitere Osteosynthese über den zweiten Zugang nicht erschwert wird [29].
Therapieprinzipien
Das Ziel der Behandlung von Azetabulumfrakturen ist grundsätzlich dem anderer Gelenkfrakturen gleichzusetzen: Es geht um eine möglichst stufenfreie und stabile Rekonstruktion der Gelenkfläche, die eine frühzeitige Mobilisation des Patienten ermöglichen soll. Insbesondere Gelenkstufen mit einem Versatz von >2 mm sollten vermieden werden. Die möglichst stufenfreie Reposition gilt als wichtigster prognostischer Faktor für Patienten mit einer Azetabulumfraktur [13, 14].
Als die wichtigsten Therapieprinzipien in der Behandlung von Azetabulumfrakturen sind zu nennen:
-
die konservative Behandlung,
-
die offene Reposition und interne Fixation (ORIF),
-
perkutane Osteosynthesen in situ,
-
die totale Hüftarthroplastik.
Grundsätzlich sind bei der Entscheidung für oder gegen eine Therapieoption die Gesamtumstände einschließlich der Grunderkrankungen, Begleitverletzungen und Mobilität des Patienten ins Kalkül zu ziehen.
Als wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche konservative Therapie gelten [8]: eine intakte Hauptbelastungszone („weight bearing dome“), das Fehlen intraartikulärer Fragmente und das Fehlen von Gelenkstufen. Als problematisch ist eine konservative Therapie insbesondere dann zu werten, wenn eine mehrwöchige Ruhigstellung mit Extensionsbehandlung erforderlich wird. Eine solche Therapie kann gerade auch einem alten Menschen angesichts der drohenden Komplikationen kaum zugemutet werden. In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass durch eine Extensionsbehandlung – korrekter ist der Begriff Traktionsbehandlung – eine Reposition mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu erzielen ist, zumal meist nicht nur eine translatorische, sondern auch eine rotatorische Fehlstellung vorliegt. Im eigenen Vorgehen wird eine Extensionsbehandlung – wenn überhaupt noch – nur als Vorbereitung für anstehende operative Maßnahmen verwendet. Auch bei wenig dislozierten aber instabilen Frakturen des Pfannendachs streben wir nach Möglichkeit eine interne Fixation an.
Fällt die Entscheidung zur konservativen Therapie, so sind engmaschige Röntgenkontrollen obligat, um eine mögliche sekundäre Dislokation rechtzeitig zu erkennen.
Auch die Indikation zur perkutanen Osteosynthese ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Hierzu zählen die geringe Dislokation (1–3 mm) bzw. die Möglichkeit zur geschlossenen Reposition [6]. Allerdings ist durch die indirekten Manipulationen am Bein mit Traktion und Rotation und durch das Setzen von Schanz-Schrauben („joystick“) erfahrungsgemäß nur eine sehr eingeschränkte Reposition möglich. Grundsätzlich ist es durch perkutane Techniken möglich, Frakturen des vorderen, aber auch Frakturen des hinteren Pfeilers zu verschrauben.
Folgende Situationen stellen trotz aller technischen Verbesserungen eine besondere intraoperative Herausforderung dar:
-
1.
Zweipfeilerfrakturen,
-
2.
horizontal verlaufende Frakturen mit einem vertikalen Anteil (T-förmige Frakturen),
-
3.
(Trümmer)brüche der quadrilateralen Fläche (etwa bei zentralen Hüftluxationen),
-
4.
Trümmerzonen der azetabulären Gelenkfläche.
Zweipfeilerfrakturen können einen vorderen und hinteren Zugang erforderlich machen. Hierbei ist insbesondere darauf zu achten, dass das Osteosynthesematerial des ersten Eingriffs sich im weiteren Verlauf dann nicht als Repositionshindernis während des zweiten Eingriffes erweist.
Als ausgesprochen schwierig kann sich die Reposition und stabile Retention einer Fraktur der quadrilateralen Fläche erweisen. Zum einen ist hier der sehr limitierte Zugang am Eingang zum kleinen Becken hinderlich, zum anderen macht die Dünnwandigkeit des Knochens eine Fixierung problematisch. Als eine Möglichkeit ist die Anwendung sog. „spring plates“ zu nennen, die nach Möglichkeit unter die (lange) Rekonstruktionsplatte gelegt werden (Abb. 7). Bei den „spring plates“ handelt es sich um Platten – zumeist Drittelrohrplatten, die am Ende um 90° umgebogen sind, und mit deren Hilfe Fragmente nach lateral gezogen werden können, während die Fixation der Platte gelenkfern erfolgt. Allerdings kann hierdurch nur eine sehr eingeschränkte mechanische Stabilität erreicht werden. Als Alternative können hierzu auch Kabelzüge verwendet werden [15].
Als wichtige lokale Kontraindikation für eine interne Fixation gilt die Osteoporose, die eine sichere und stabile Osteosynthese unmöglich machen kann. In solchen Fällen wird die primäre Totalendoprothese bevorzugt. Bei der Hüftarthroplastik ist zwischen der primären und der sekundären zu unterscheiden. Die Wahl zur primären Alloarthroplastik – d. h. primäre Implantation einer Hüfttotalendoprothese ohne vorausgegangene gelenkerhaltende Operation – wird insbesondere bei älteren Patienten getroffen, die eine Osteoporose sowie erhebliche Knochendefekte aufweisen [2, 16]. Problematisch ist allerdings die erhöhte Rate an Pfannenlockerungen. Grundsätzlich muss vor Einbringen einer Totalendoprothese keine exakte Reposition der Fragmente erfolgen, es muss aber unbedingt ein stabiles knöchernes Lager für das Einbringen der Pfanne bzw. der Abstützschale gegeben sein. Häufig werden Teile des Hüftkopfs verwendet, um eine bessere Überdachung der Pfanne nach dorsokranial und eine Defektdeckung des Pfannenbodens gegen das kleine Becken hin zu erzielen, was etwa nach vorausgegangenen zentralen Hüftluxationen erforderlich wird.
Hinsichtlich der Wahl des günstigsten Operationszeitpunkts sind die Begleitverletzungen zu berücksichtigen. Grundsätzlich gilt, dass eine Versorgung möglichst innerhalb von einer Woche nach dem Unfall erfolgen sollte. In diesem Zeitraum gelingt die Reposition leichter als zu einem späteren Zeitpunkt. Umgekehrt gelten Operationen nach dem Ablauf von 3 Wochen als deutlich schwieriger und zeitaufwendiger mit oftmals dann ausgedehnten Ablösungen von fibrösem Gewebe.
Nachbehandlung und Komplikationen
Grundsätzlich ist eine möglichst frühzeitige Mobilisation in Abhängigkeit der Begleitverletzungen anzustreben. In Abhängigkeit der intraoperativ erzielten Stabilität ist in der Regel eine Teilbelastung der betroffenen Extremität mit maximal 15 kg gestattet.
Die Komplikationen nach Versorgung von Azetabulumfrakturen können in frühe und späte Komplikationen aufgeteilt werden. Zu den wichtigsten Frühkomplikationen zählen:
-
tiefe Beinvenenthrombose bzw. Lungenembolie,
-
N.-ischiadicus-Läsionen,
-
Fehllage von Osteosynthesematerial und Osteosyntheseversagen,
-
Wundinfektionen.
Die Rate der postoperativen, klinisch relevanten Thrombosen und Lungenembolien wird in einer Metaanalyse mit 4,3% angegeben [5], in anderen Arbeiten und in Abhängigkeit der Sensitivität der Nachweismethode von bis zu 30%. Diese Zahlen zeigen die Bedeutung einer perioperativen Thromboseprophylaxe .
Die Rate der N.-ischiadicus Läsionen wird bei sehr erfahrenen Chirurgen mit einer Häufigkeit von 2–3% angegeben [12]. In der Gruppe der Patienten mit gleichzeitigen hinteren Luxationen liegt die Inzidenz mit bis zu über 40% allerdings deutlich höher [5].
Die wichtigsten Spätkomplikationen umfassen:
-
heterotope Ossifikationen,
-
avaskuläre Hüftkopfnekrosen,
-
posttraumatische Arthrosen,
-
funktionelle Beeinträchtigungen mit persistierender Schwäche der pelvitrochantären Muskulatur.
Mit heterotopen Ossifikationen muss – wie bereits weiter oben ausgeführt – insbesondere nach einem erweiterten iliofemoralen und nach einem Kocher-Langenbeck-Zugang gerechnet werden. Als weitere Risikofaktoren für die Ausbildung von heterotopen Ossifikationen gelten: zusätzliches Schädel-Hirn-Trauma, hoher Injury-Severity-Score sowie eine verspätete Frakturversorgung.
Die Inzidenz der posttraumatischen Hüftkopfnekrose wird in einer Metaanalyse insgesamt mit 5,6% angegeben, sie steigt auf 9,2% in der Gruppe mit hinteren Luxationsfrakturen an. Die Inzidenz der posttraumatischen Arthrose nach operativ versorgter Azetabulumfraktur liegt insgesamt bei etwa 26%. Allerdings finden sich große Unterschiede hinsichtlich der Inzidenz in Abhängigkeit des Repositionsergebnisses: Gelingt eine anatomische Reposition, so muss mit einer Inzidenz von etwa 10% gerechnet werden, andernfalls steigt dieser Wert auf über 30% an [5].
Schließlich ist festzuhalten, dass insbesondere nach dislozierten Azetabulumfrakturen ganz überwiegend eine messbare Funktionseinschränkung zurückbleibt mit Bewegungseinschränkungen, Muskelschwäche und Beeinträchtigung des Gangbilds [3].
Neue Entwicklungen
Durch eine verbesserte intraoperative Bildgebung (z. B. 3D-Bildwandler ) und durch den Einsatz der Navigation kann – zumindest in der Theorie – eine genauere Schraubenplatzierung bei gleichzeitig verringerter Zugangsmorbidität erreicht werden. In der Literatur finden sich hierzu bislang überwiegend Fallbeschreibungen oder Verlaufsbeobachtungen bei zumeist gering dislozierten Frakturen [7, 9, 18]. Eine Bestätigung der Überlegenheit der neuen technischen Verfahren durch randomisierte klinische Studien steht bislang noch aus.
CME-Fragebogen
Welche Aussage bezüglich der operativen Zugangswege bei Azetabulumfrakturen trifft zu?
Die wichtigste Komplikation des ilioinguinalen Zugangs ist die heterotope Ossifikation.
Der Zugang nach Kocher-Langenbeck stellt eine Erweiterung des Smith-Peterson-Zugangs dar.
Der Zugang nach Kocher-Langenbeck eignet sich besonders für Versorgungen des vorderen Pfeilers.
Die Indikation für eine intraoperative Luxation des Hüftkopfs ergibt sich nur bei einer 2-Pfeiler-Verletzung.
Ein wichtiger Nachteil des erweiterten iliofemoralen Zugangs ist das hohe Risiko einer heterotopen Ossifikation.
Welche Aussage bezüglich der Klassifikation der Azetabulumfrakturen trifft zu?
Die AO-Klassifikation für Azetabulumfrakturen ist international am gebräuchlichsten.
Die AO-Klassifikation zeichnet sich durch die einfache Anwendbarkeit im klinischen Alltag aus.
Die Klassifikation nach Judet und Letournel unterscheidet 10 einfache von 10 komplexen Frakturtypen.
Die Klassifikation nach Judet und Letournel ist anatomisch ausgerichtet und orientiert sich an der Verletzung der beiden Pfeiler.
Ein wichtiges Kriterium der Klassifikation nach Judet und Letournel ist der Grad der Verletzung der quadrilateralen Fläche sowie die Knochendichte.
Welche Aussage trifft am ehesten zu? Azetabulumfrakturen …
weisen häufig Luxationsrichtungen des Hüftkopfs nach ventral auf.
sind selten mit Hochrasanztraumen vergesellschaftet.
finden sich häufig nach „dashboard injuries“.
werden im höheren Lebensalter selten beobachtet.
gehen, im Gegensatz zu Beckenringverletzungen, häufig mit bedrohlichen Blutungen einher.
Welche Aussage zur Bildgebung bei Azetabulumfrakturen ist richtig?
Die Magnetresonanztomographie stellt das wichtigste Verfahren zur Bildgebung und präoperativen Planung dar.
Die Durchführung von Nativaufnahmen ist bei Vorliegen einer Computertomographie unnötig und ohne Aussagekraft.
Zur Ergänzung der konventionellen Beckenübersichtsaufnahme werden Schrägaufnahmen (Ala-/Obturator-Aufnahmen) durchgeführt.
Die Ala-Aufnahme stellt den vorderen Pfeiler konturbildend dar.
Die Obturator-Aufnahme stellt den vorderen Pfannenrand konturbildend dar.
Welche der nachfolgenden Aussagen zum ilioinguinalen Zugang bei Azetabulumfrakturen ist korrekt?
Er wird zur Versorgung von Frakturen des hinteren Pfeilers angewendet.
Er eignet sich zur Durchführung der intraoperativen Luxation des Hüftkopfs.
Als wichtigste Komplikation gilt die erhöhte Rate an heterotopen Ossifikationen.
Die quadrilaterale Fläche kann eingesehen und adressiert werden.
Postoperative Läsionen des N. ischiadicus sind beschrieben.
Welche der nachfolgenden Aussagen trifft zu? Der Zugang nach Kocher-Langenbeck bei Azetabulumfrakturen …
geht mit einer erhöhten Rate an Hüftkopfnekrosen einher.
eignet sich für die Versorgung von Frakturen des vorderen Pfeilers.
geht mit einer ansatznahen Ablösung der pelvitrochantären Muskulatur einher.
ermöglicht die komplette Darstellung aller Abschnitte des Azetabulums.
wird in Rückenlage durchgeführt.
Welche Aussage zu den Zugangswegen bei Azetabulumfrakturen ist richtig?
Bei Frakturen des hinteren Pfeilers sollte dem erweiterten iliofemoralen Zugang nach Judet und Letournel der Vorzug gegenüber dem Kocher-Langenbeck-Zugang gegeben werden.
Die Indikation zum „triradiate approach“ nach Mears ist bei Fraktur des vorderen Pfeilers gegeben.
Der erweiterte iliofemorale Zugang nach Judet und Letournel ermöglicht den Zugang zur Innen- und Außenseite des Beckens.
Die erweiterten Zugänge weisen eine geringe Rate an Komplikationen auf.
Die „Maryland-Modifikation“ des iliofemoralen Zugangs ist zeitlich eine schnelle Operationsmöglichkeit.
Welche Aussage zur Therapie der Azetabulumfraktur trifft zu?
Die Therapie der Wahl bei einer Fraktur der quadrilateralen Fläche ist der totalendoprothetische Ersatz.
Die stufenfreie Reposition gilt als wichtigster prognostischer Faktor.
Die Indikation zu einer geschlossenen Reposition und perkutanen Schraubenosteosynthese ergibt sich bei dislozierten Frakturen des hinteren Pfeilers.
Die konservative Therapie von Azetabulumfrakturen kommt nur bei Patienten jenseits des 60. Lebensjahrs in Betracht.
Der günstigste Zeitpunkt für die osteosynthestische Versorgung von Azetabulumfrakturen ist etwa 3 Wochen nach dem Unfall gegeben.
Welche Aussage über die Azetabulumfraktur ist richtig?
Beim gleichzeitigen Vorliegen einer hinteren Hüftluxation erfolgt die Reposition erst nach entsprechender Diagnostik während der operativen Versorgung.
Die hintere Hüftluxation ist mit einer vorderen Pfannenrandfraktur vergesellschaftet.
Azetabulumfrakturen und Beckenringfrakturen gehen gleichermaßen mit schweren Blutungskomplikationen einher.
Etwa bei einem Drittel der Patienten muss mit dem gleichzeitigen Vorliegen einer Beckenringfraktur gerechnet werden.
Eine geringe Krafteinwirkung ist für eine Azetabulumfraktur nicht ausreichend.
Welche Aussage zur Nachbehandlung und Komplikationen bei Azetabulumfraktur trifft zu?
Die operative Versorgung sollte eine sofortige Vollbelastung der betroffenen Extremität gewährleisten.
Das Auftreten einer postoperativen Thrombose kann vernachlässigt werden.
Messbare Funktionseinschränkungen sind nach operativer Versorgung dislozierter Azetabulumfrakturen nicht nachweisbar.
Zu den wichtigsten Spätkomplikationen gehören u. a. die heterotope Ossifikation, die posttraumatische Arthrose und die Hüftkopfnekrose.
Zu den wichtigsten Frühkomplikationen nach erfolgter Osteosynthese bei hinteren Pfannenrandfrakturen zählt die hohe Reluxationsrate.
Literatur
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Schmidt-Rohlfing, B., Reilmann, H. & Pape, HC. Azetabulumfraktur. Unfallchirurg 113, 217–229 (2010). https://doi.org/10.1007/s00113-010-1748-1
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