Nachdem mit der Implementierung standardisierter Osteosyntheseverfahren zunehmend eine sofortige definitive Primärversorgung sämtlicher Frakturen polytraumatisierter Patienten angewendet wurde, mussten hohe sekundäre Letalitätsraten festgestellt werden. Dies führte zu der Erkenntnis, dass ein abgestuftes Behandlungsvorgehen größere Erfolgsaussichten bietet. Durch zunehmende Beschäftigung mit der Pathogenese des traumatisch hämorrhagischen Schockgeschehens wurde festgestellt, dass ein prioritätenorientiertes abgestuftes Vorgehen eine wesentlich größere Aussicht auf das Überleben ermöglicht. Die daraufhin von Schweiberer et al. [27] sowie Trentz u. Tscherne et al. [35] entwickelten diagnostischen und therapeutischen Stufenpläne stellen auch heute noch die Grundlage des Behandlungsvorgehens dar. Dabei wird bezüglich der operativen Versorgung zwischen lebensrettenden Sofortoperationen innerhalb der ersten Stunde, lebens-, organ- und extremitätenerhaltenden Frühoperationen innerhalb der ersten 24 h sowie sekundären Spätoperationen nach Tagen unterschieden [28].

Parallel zu dieser Entwicklung im deutschsprachigen Raum wurde im angloamerikanischen Schrifttum das Konzept der „damage control surgery“ (DCS) propagiert. Aufbauend auf der Behandlung penetrierender Verletzungen, insbesondere aus der Chirurgie in Kriegsgebieten und urbanen Brennpunkten wurde dieses Konzept auch für das stumpfe Bauchtrauma mit Massenblutung eingeführt [5]. In vielen darauf folgenden Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass durch primäre Blutstillung mittels sofortigem „Packing“ und sekundärer definitiver Versorgung die Letalitätsraten schwerster Abdominaltraumata hochsignifikant verbessert werden konnten [24, 31].

Während das „DCS-Konzept“ heute weltweit Akzeptanz findet, ist die Frühbehandlung von Frakturen weiterhin Gegenstand kontroverser Diskussionen. Diese begannen bereits in den 80er Jahren, wobei insbesondere die definitive frühe Stabilisierung der Oberschenkelschaftfraktur mittels Marknagelung von einer Vielzahl von Autoren gefordert wurde [1, 7, 9, 11, 22, 29].

In einer eingehenden Analyse dieser Publikationen [14] musste jedoch zum einen eine eingeschränkte Aussagekraft dieser (mit Ausnahme des prospektiven Krankenkollektivs von Bone et al. [1]) retrospektiven Untersuchungen festgestellt werden. In keiner der Publikationen konnte ein tatsächlicher Vorteil der primären Marknagelosteosynthese für schwer verletzte Patienten nachgewiesen werden. Im Gegensatz dazu entwickelte sich im deutschsprachigen Raum eine zunehmende Skepsis bezüglich der primären Marknagelung bei schwer polytraumatisierten Patienten.

Sturm et al. [32] konnten in einer ebenfalls retrospektiven Analyse beobachten, dass polytraumatisierte Patienten mit schwerem Thoraxtrauma und primärer Marknagelosteosynthese eine signifikante, erhöhte Letalitätsrate aufwiesen. Dazu wurde experimentell dargestellt, dass durch die Aufbohrung des Markraums exzessiv hohe intramedulläre Drücke entstehen [33], die zu sonographisch nachweisbaren Makroembolisationen der Lunge führen [39].

Weiterhin konnte sowohl tierexperimentell als auch klinisch gezeigt werden, dass daraus bei gleichzeitiger Lungenkontusion ganz erhebliche Permeabilitätsschäden resultieren [21]. Schließlich haben Neudeck et al. [16] wiederum im Tiermodell nachgewiesen, dass selbst die ungebohrte Marknagelung zu entsprechenden Druckerhöhungen und Permeabilitätsschäden führen.

Neben dieser Datenlage wurden von uns, aber auch von vielen anderen klinisch Verantwortlichen wiederholt komplizierte postoperative Verläufe beobachtet, in denen bei insbesondere jungen polytraumatisierten Patienten nach primärer Femurmarknagelung ohne sonstige erkennbare Risikofaktoren letale Verläufe auftraten [6]. Dies führte vielerorts zum Umdenken, sodass sich in unserer Klinik aber auch im deutschsprachigen Raum zunehmend das Konzept der primären minimal-invasiven Frakturstabilisierung mit sekundärer definitiver operativer Frakturversorgung durchsetzte. Im Gegensatz dazu wird insbesondere im angloamerikanischen Schrifttum dieses „Damage-control-orthopedics- (DCO-)Konzept“ überwiegend und z. T. kategorisch abgelehnt.

Methodik

Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden zunächst pathophysiologische Grundlagen dargestellt werden. Anschließend sollen durch Graduierung der medizinisch-wissenschaftlichen Evidenz von aktuellen Arbeiten zu „DCO“ anhand einer Literaturrecherche die klinischen Ergebnisse dieser Arbeiten kritisch reflektiert werden. Dabei handelt es sich um ein Review beginnend ab 1990, mit folgenden Suchbegriffen: „DCO, damage control, multiple injury, femoral fracture, external fixation, conversion osteosynthesis, fracture fixation and multiple trauma“. In den gefundenen relevanten Arbeiten wurden per Handsuche die Literaturverzeichnisse nach zusätzlichen wichtigen Publikationen abgesucht.

Aufgrund der allgemeinen Fortschritte sowohl der präklinischen Versorgung als auch ganz wesentlich der intensivmedizinischen Therapiemöglichkeiten werden Publikationen aus der davor liegenden Zeit für diese Übersicht nicht berücksichtigt. Die Graduierung der Arbeiten (EL) folgt den Empfehlungen von Sackett et al. [25].

Pathophysiologische Grundlagen

Jedes Trauma, aber auch jede sonstige Noxe führt sowohl zu pro- als auch antiinflammatorischen Reaktionen, welche nach heutigem Erkenntnisstand bereits innerhalb der ersten Stunden beginnen ohne dass diese Phasen wesentlich zeitlich getrennt erscheinen. In einer eigenen prospektiven Polytraumastudie von 1985–1990 konnte für verschiedenste Faktoren (Gerinnungs- und Fibrinolysesystem, Proteasen, Zytokine) eine unmittelbar nach dem Trauma einsetzende maximale Aktivierung bzw. Suppression zellulärer und humoraler Mediatoren der Entzündungsreaktion nachgewiesen werden. Das Ausmaß dieser initialen Entzündungsreaktion korrelierte dabei hochsignifikant mit dem späteren Auftreten von Organfunktionsstörungen bzw. mit dem Versterben am sekundären Multiorganversagen [12, 13].

Abbildung 1 zeigt bei 66 Polytraumatisierten (mittlerer ISS=40 Punkte) die signifikante Korrelation der unmittelbar posttraumatischen maximalen Freisetzung der proinflammatorischen Zytokine IL-6 und IL-8 mit dem späteren Verlauf bei schwer verletzten Patienten. Entsprechende Ergebnisse wurden auch aus der Arbeitsgruppe von Ertel et al. [4] mitgeteilt.

Abb. 1
figure 1

Prospektive Polytraumastudie mit Verlauf der Plasmaspiegel von IL-6 und IL-8 für Patienten mit sekundärem letalen Organversagen (rote Kurve, n=11), reversiblem Organversagen (blaue Kurve, n=38) und komplikationslosem Verlauf (grüne Kurve, n=17)

Innerhalb einer weiteren Publikation wurde bei 136 Patienten die posttraumatische Entzündungsreaktion unmittelbar nach Klinikaufnahme sowie perioperativ bei sekundär durchgeführten Operationen vergleichend bestimmt [37]. Dabei konnte gezeigt werden, dass die postoperative Entzündungsreaktion, ausgedrückt durch die Proteasen PMN-Elastase und Kathepsin B sowie das Serumlaktat, nach 19 Oberschenkelschaftosteosynthesen und 8 Beckenosteosynthesen in ihrem Ausmaß der inflammatorischen Reaktion nach leichter bis mittelschwerer Mehrfachverletzung entsprachen. Dieses Ergebnis wurde auch in einer prospektiven perioperativen Untersuchung definierter unfallchirurgischer Eingriffe bei isolierten Verletzungen bestätigt [15]. Dabei zeigte sich am Beispiel der PMN-Elastase, dass Femurmarknagelung und Hüftendoprothesen eine durchschnittliche Freisetzung von 300 ng/ml bewirkten, was mit der Entzündungsreaktion nach leichtem Polytrauma (ISS=16–24) vergleichbar war. Im Gegensatz dazu haben Marknagelungen des Unterschenkels sowie Osteosynthesen am Sprunggelenk eine wesentlich geringere Entzündungsreaktion aufgewiesen.

Abbildung 2 zeigt das Beispiel eines mittelschwer polytraumatisierten Patienten mit einem ISS von 26 Punkten und einer mittelgroßen primären IL-6-Aktivierung. Der Patient erlitt ein 7 Tage andauerndes primäres respiratorisches Versagen, das sich innerhalb der 1. Woche normalisierte. Am 9. Tag erfolgte bei normalwertiger respiratorischer Funktion und unauffälligen Entzündungsparametern die operative Stabilisierung der Ober- und Unterschenkelfraktur jeweils mit einer aufgebohrten Markraumnagelung. Dieser operative Eingriff führte zu der gleichen inflammatorischen Reaktion, wie das primäre akzidentelle Trauma und wiederum zu einem 1 Woche anhaltenden respiratorischen Versagen mit nachfolgender ungestörter Restitution.

Abb. 2
figure 2

14-tägiger IL-6-Plasmaspiegel. Verlauf nach mittelschwerem Polytrauma (1. Peak) mit posttraumatischer respiratorischer Funktionsstörung. Nach Rekompensation sekundäre Oberschenkel- und Unterschenkelmarknagelung (2. Peak) mit erneuter respiratorischer und zusätzlicher Leberfunktionsstörung (eigene prospektive Polytraumastudie an der Chirurgischen Klinik Innenstadt der LMU München)

Die Bedeutung des additiven operativen Traumas für den Verlauf Schwerverletzter konnte in einer weiteren Analyse unseres Krankenguts anhand von 16 operativ versorgten Wirbelsäulenverletzungen dargestellt werden [38]. Dabei fanden sich postoperativ im Vergleich zum präoperativen Ausgangswert signifikante Anstiege der Elastase (220 vs. 337 ng/ml), des Kathepsin B (84,5 vs. 135,5 mU/l) und des Laktats (9,6 vs. 15,2 mg/dl) sowie ein Abfall des Antithrombin III (107,5 vs. 84%), der Thrombozytenzahl (102 vs. 88×109/l) und des PO2/FiO2-Quotienten (361 vs. 260). Von den 16 Wirbelsäulenoperationen fanden 8 früh, innerhalb der ersten 24 h und weitere 8 sekundär nach mindestens 24 h statt. Beide Gruppen waren mit einem ISS von 31,5 bzw. 30,3 und einem Alter von 29 bzw. 28 Jahren vergleichbar, 7 der Frühversorgten verstarben (88%) im Gegensatz zu 2 Patienten der sekundär Operierten (25%).

Dieses Ergebnis wird durch eine aktuelle Publikation [10], welche nicht neurologische Effekte der Frühstabilisierung von Wirbelsäulenverletzungen analysierte, bestätigt. Dabei wurden 174 Patienten, welche innerhalb der ersten 3 Tage operativ versorgt wurden, mit 125 gleich schwer verletzten Patienten, welche später stabilisiert wurden, verglichen. Dabei zeigte die früh versorgte Gruppe mit 6,9 vs. 2,5% eine erhöhte Letalität. Dieses erreichte jedoch kein statistisches Signifikanzniveau. Die Autoren kommen dabei zu der Schlussfolgerung, dass insbesondere für HWS- und BWS-Verletzungen die Indikation zur Frühversorgung mit dadurch bedingter Reduzierung der Krankenhausaufenthaltsdauer gegeben sei. Allerdings müsse dieses Vorgehen immer individuell in Abhängigkeit von physiologischen Vorbedingungen überprüft werden, um systemische Schädigungen zu vermeiden.

In einer multizentrischen prospektiven Studie konnten Pape et al. [20] entsprechende Zytokinveränderungen darstellen. Dabei wurden 17 Patienten mit primärer Marknagelung (mittlerer ISS=21,7) und 18 Patienten mit primärer Fixateur-externe-Stabilisierung (mittlerer ISS=23,2) miteinander verglichen. Es zeigten sich postoperativ nach der primären Marknagelung signifikant höhere IL-6-Spiegel im Vergleich zur primären Fixateur-externe-Stabilisierung und insbesondere auch im Vergleich zum postoperativen Verlauf nach sekundärer definitiver Marknagelung.

Diese Ergebnisse wurden durch die Untersuchungen der Arbeitsgruppe um Giannoudis in Leeds [8, 20] ausdrücklich bestätigt. Dabei konnte insbesondere auch gezeigt werden, dass die postinflammatorische Reaktion nach primären Marknagelosteosynthesen signifikant ausgeprägter war als nach denselben, sekundär durchgeführten Eingriffen.

Neben der Beurteilung der inflammatorischen Reaktion stellt aber auch die Operationsdauer einen wesentlichen Faktor des Operationstraumas dar. In einer Analyse des prospektiv multizentrisch dokumentierten Patientenkollektivs des Traumaregisters der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie wurden die Auswirkungen bei unterschiedlicher Operationsdauer bei vergleichbarer Verletzungsschwere und -verteilung untersucht [19]. Bei dieser Analyse wurden 3 Gruppen mit kurzer (1–3 h), mittellanger (3–6 h) und langer (>6 h) Operationsdauer verglichen. Die Gruppen wiesen hinsichtlich der präklinischen Rettungszeit, dem Alter sowie der Verletzungsschwere der Einzelregionen des Schädels, Thorax, Beckens und der Extremitäten keine signifikanten Unterschiede auf. Entsprechend ist auch die Gesamtverletzungsschwere und Schwere des Schädel-Hirn-Traumas (SHT), ausgedrückt durch den ISS bzw. durch die Glasgow-coma-Scale (GCS), annähernd identisch. Bezüglich des stationären Verlaufs haben die Patienten der lang dauernden Operationsgruppe eine signifikant längere Beatmungsdauer sowie eine signifikant erhöhte Letalitätsrate im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen aufgewiesen (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Ergebnisauswertung aus dem Traumaregister der DGU [19]: Beatmungsdauer und Letalität in Abhängigkeit von der primären Operationsdauer vor Aufnahme auf die Intensivstation

Klinische Ergebnisse

Mit einer retrospektiven Analyse der Jahre 1995–1998 artikulierten Scalea et al. [26] erstmalig das Konzept „DCO“. Dabei verglichen sie 42 Patienten, welche initial mittels Fixateur externe versorgt waren, mit 284 Patienten mit primärer Marknagelosteosynthese. Die DCO-Patienten waren mit einem ISS von 26,8 vs. 16,8 Punkten signifikant schwerer verletzt und hatten einen signifikant höheren Anteil an schweren SHT.

Die durchschnittliche Operationszeit für die Anlage des Fixateur externe betrug 35 min, dagegen dauerten die Marknagelosteosynthesen durchschnittlich 135 min. Die Wechseloperationen fanden bei 35 von 43 Patienten durchschnittlich nach 4,8 Tagen statt. An Komplikationen wird eine Osteomyelitis nach sekundärer Marknagelosteosynthese angegeben.

Im selben Jahr berichteten Nowotarski et al. [17] anhand eines Krankenkollektives (1989–1997) von 1507 Femurschaftfrakturen über das Umsteigen von primären Fixateur-externe-Osteosynthesen des Oberschenkels auf eine sekundäre Marknagelung. Innerhalb dieses Kollektivs wurden 54 polytraumatisierte Patienten mit 59 Femurschaftfrakturen primär durch einen Fixateur externe stabilisiert und geplant sekundär mittels Marknagel versorgt. Bei 19 Frakturen handelte es sich dabei um offene Verletzungen. Der Verfahrenswechsel erfolgte durchschnittlich nach 7 Tagen, in 5 Fällen zweitzeitig wegen sezernierender Schanz-Schrauben-Infektionen. Ein Verlauf war durch eine tiefe Infektion kompliziert, darüber hinaus kam es zu einer Pseudarthrose. Ein Patient verstarb an einer fulminanten Lungenembolie.

In einer weiteren retrospektiven Kohortenstudie analysierten Pape et al. [18] polytraumatisierte Patienten mit operativ behandelter Femurschaftfraktur und verglichen dabei 235 Patienten, welche zwischen 1981 und 1989 behandelt worden waren — unter zusätzlicher Analyse des Interimskollektivs der Übergangsphase — mit 191 Patienten aus dem Behandlungszeitraum 1993–2000. Während in dem ersten Kollektiv 60% der Patienten primär mittels Marknagelung versorgt worden waren und lediglich bei 17% ein Verfahrenswechsel vom primären Fixateur externe auf eine sekundäre Marknagelung erfolgt war, verdoppelte sich der Anteil dieser DCO-Patienten im 2. Kollektiv signifikant auf 35,6%. Der Anteil der Plattenosteosynthesen reduzierte sich von 23,4 auf 6,8%. Die beiden Kollektive wiesen keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich infektiöser und nicht infektiöser Komplikationen auf. Dagegen zeigte sich eine signifikante Reduktion des Multiorganversagens und des ARDS in der DCO-Gruppe, verglichen mit der überwiegenden primären Marknagelungsgruppe des historischen Kontrollkollektivs.

In einer weiteren aktuellen Publikation analysierten Harwood et al. [8] 134 polytraumatisierte Patienten mit einem „new injury severity score“ (NISS) >20, welche zwischen 1996 und 2003 wegen einer Femurschaftfraktur operativ versorgt worden waren. 77 Patienten wurden primär mittels intramedullärer Stabilisierung versorgt, bei 97 Patienten wurde das DCO-Konzept mit primärer Fixateur-externe-Osteosynthese und sekundärer Marknagelung durchgeführt.

Bei gleicher Altersstruktur waren die DCO-Patienten mit einem mittleren NISS von 36,2 vs. 25,4 signifikant schwerer verletzt, sie hatten außerdem einen hochsignifikant höheren Anteil an schweren Schädel- und Thoraxverletzungen. Die DCO-Patienten zeigten sowohl nach der primären minimal-invasiven Operation, als auch nach der sekundären Marknagelung signifikant niedrigere und kürzere postoperative SIRS-Phasen und weniger Organversagen.

In einer eigenen prospektiven Studie  [34] wurde das DCO-Konzept bei Patienten mit einem „injury severity score“ (ISS) ≥16 evaluiert, welche unmittelbar primär aufgenommen wurden und die ersten 24 h überlebt hatten. Dabei wurden 75 DCO-Patienten (mittlerer ISS=37,3) mit 334 Kontrollpatienten ohne primärer Frakturversorgung (mittlerer ISS=30,4) verglichen. Bei den 75 DCO-Patienten wurden 135 Frakturen mittels Fixateur externe primär stabilisiert, die durchschnittliche Operationsdauer pro Frakturversorgung betrug durchschnittlich 33,8 min. Es erfolgten insgesamt 135 Frakturversorgungen das Femur (n=49), die Tibia (n=39), das Becken (n=25) sowie die obere Extremität (n=22) betreffend. Der Verfahrenswechsel fand nach durchschnittlich 13,7 Tagen statt. Die Operationsdauer der sekundären definitiven Operationen dauerte 233±19 min und war damit nahezu 4-mal so lang wie bei den primären Fixateur-externe-Osteosynthesen.

Die tatsächliche Letalität beider Kollektive wurde mit der TRISS-Methodologie anhand der durch die Referenzdatenbank der MTOS-Studie festgelegten vorhergesagten Letalität verglichen [2]. Dabei wurde für die DCO-Gruppe eine tatsächliche Letalität von 20% beobachtet, was eine hochsignifikante Reduktion gegenüber der erwarteten Letalität nach TRISS-Prognose von 39,3% bedeutet. Dagegen wies die Kontrollgruppe der 334 Patienten ohne primären Frakturstabilisierungen mit einer tatsächlichen Letalität von 24,3 vs. 29,5% TRISS-Vorhersage ebenfalls eine signifikante, jedoch bei weitem nicht dem Ausmaß der DCO-Gruppe entsprechende Verbesserung auf.

Diskussion

In einem Übersichtsartikel von Shapiro et al. [29] kommen die Autoren im Jahre 2000 zu der Schlussfolgerung, dass DCS überragende Bedeutung als lebensrettender Primärmaßnahme, insbesondere bei Patienten mit Massenblutung und Abdominalverletzungen zukommt. Bezüglich Verletzungen des Beckens und der Extremitäten wird bei nur sehr wenig verfügbaren Daten lediglich die Möglichkeit des „packing“ bei schweren Beckenverletzungen sowie die Fixateur-externe-Immobilisierung erwähnt. Weitergehende Ausführungen zu DCO werden nicht genannt.

In einer Vielzahl von Studien wurde die Bedeutung der immunologischen Veränderungen nach Trauma dargestellt und bestätigt, dass das Ausmaß der primären pro- und antiinflammatorischen Reaktion mit dem Auftreten von septischen und aseptischen Komplikationen sowie dem sekundären Überleben korreliert. Diese pathophysiologischen Auswirkungen treten sowohl nach akzidentellen aber auch operativem Traumata auf. Dabei führten größere operative Interventionen zu vergleichbaren Veränderungen wie bei mittelschweren Mehrfachverletzungen.

Vor dem Hintergrund der dargestellten klinischen und wissenschaftlichen Ergebnisse sehen wir in Übereinstimmung mit anderen Autoren [26, 23] die eindeutige Konsequenz, bei schwerem Polytrauma das additive Operationstrauma so gering wie möglich zu halten.

Mit der Analyse der Datenbank des Deutschen Traumaregisters konnten Pape et al. [19] eindeutig eine derartige Schädigung, korrelierend mit der Operationsdauer, belegen: So konnte dabei illustriert nachgewiesen werden, dass operative Eingriffe mit einer primären längeren Operationsdauer als 6 h mit einer signifikant erhöhten Letalitätsrate behaftet waren (EL2b). Diese Zeit erscheint auf den ersten Blick als eher selten und damit nicht relevant zu sein. Die dargestellte Analyse unseres eigenen DCO-Patientengutes zeigte jedoch, dass die unter optimalen Bedingungen sekundär durchgeführten definitiven Osteosynthesen pro Patient im Durchschnitt 4 h dauerten. Wäre diese definitive Versorgung primär erfolgt, so hätte der Zeitaufwand zusammen mit den zusätzlich zu diesem Zeitpunkt primär durchgeführten Noteingriffe (DCS) des Abdomens, Thorax und Schädels bei einer großen Zahl der Patienten die 6 h überschritten (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Hypothetischer Vergleich der Versorgungszeiten: primäre Fixateur-externe-Stabilisierungen (DCO) gegenüber sekundär durchgeführten definitiven Osteosynthesen (angenommene primär definitive Osteosynthese) der eigenen prospektiven Kohortenstudie [34] für a jede einzelne Frakturversorgung, b für alle Frakturversorgungen pro Patient, c für alle Frakturversorgungen + zusätzliche primäre Notoperationen pro Patient, d Zeitdauer zwischen Schockraumaufnahme und Aufnahme auf die Intensivstation

Es ist das Verdienst von Scalea et al. [26], dass sie mit der Darstellung seines Krankenkollektivs den Begriff „damage control orthopedics“ eingeführt haben. Sie zeigten dabei auf, dass die DCO-Patienten signifikant schwerer verletzt waren als die Gruppe der primären Marknagelosteosynthese. Dabei liegt der mittlere ISS ihrer DCO-Patienten mit 26,8 deutlich unter dem Schweregrad unserer DCO-Patienten ([34], mittlerer ISS=27,3). Übereinstimmung zwischen diesen beiden Untersuchungen ergibt sich bezüglich des Zeitaufwands der primären Fixateur-externe-Osteosynthese mit 33,8 bzw. 35,0 min. Mit durchschnittlich 135 min für eine Marknagelosteosynthese zeigen Scalea et al. auf, dass diese Zeitdauer beim Polytrauma offensichtlich wesentlich länger ist, als von vielen anderen Autoren angegeben wird (EL2b).

Die retrospektive Analyse von Nowotarski et al. [17] weist bei einem großen Krankenkollektiv operativ versorgter Femurschaftfrakturen lediglich 3,9% primär mittels Fixateur externe behandelte Frakturen auf. Dabei handelte es sich bei einem Drittel der Fälle um offene Verletzungen (EL3b). Die Daten lassen damit ausschließlich die Aussage zu, dass nach primärer Fixateur-externe-Osteosynthese risiko- und komplikationsarm sekundär auf eine intramedulläre Stabilisierung umgestiegen werden kann. Die entsprechende Aussage ergibt sich auch aus dem Krankenkollektiv von Scalea et al. [26]. Die Analyse der Hannoverschen Datenbank von Pape et al. [18] demonstriert den Umstieg dieses Traumazentrums von der „Rundum-Frühversorgung“ („early total care“) während der 80er Jahre auf die konsequente Durchführung des DCO-Konzepts mit einer signifikanten Reduktion des Multiorganversagens und des ARDS im Vergleich zum historischen Kontrollkollektiv (EL2b).

Eine entsprechende aktuelle Analyse von Harwood et al. [8] aus der Universitätsklinik von Leeds bestätigten dieses Ergebnis mittels einer ebenfalls retrospektiven Analyse. Auch hierbei führte die aufgeschobene sekundäre Marknagelosteosynthese zu signifikant niedrigeren und kürzeren inflammatorischen Reaktionen mit reduziertem Organversagen.

In unserer prospektiven Datenerfassung [34] wurde ab 5/1998 konsequent das DCO-Konzept für alle Patienten mit Frakturen der großen Röhrenknochen und des Becken und einem ISS≥16 festgelegt. Damit entstand zum einen eine konsekutive DCO-Gruppe mit einer ebenso konsekutiven „Kontrollgruppe“, welche alle anderen Patienten mit einem ISS≥16 ohne operationspflichtigen Verletzungen der großen Röhrenknochen und des Beckens beinhaltet. Neben den bereits dargestellten Analysen zur Operationszeit belegen die Daten eindeutig, dass die DCO-Gruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe eine erheblich größere Verbesserung der Letalität im Vergleich zur mittels TRISS vorhergesagten Letalität aufweist (EL2b).

Mit einer systematischen Literaturanalyse versuchte die „EAST Practice Management Guidelines Work Group“ [3] Richtlinien für den optimalen Zeitpunkt der operativen Stabilisierung langer Röhrenknochen zu erstellen. Dabei kam sie zu der Erkenntnis, dass alle einleitend bereits genannten [1, 7, 9, 11, 22, 29] und auch zwischenzeitlich bis Ende der 90er Jahre dargestellten Publikationen nur von eingeschränkter Evidenz sind und daraus keine Handlungsanweisungen erstellbar sind. Zusammenfassend wird dabei festgestellt, dass Frühversorgungen innerhalb der ersten 48 h keine Überlebensverbesserung im Vergleich zu späteren Frakturstabilisierungen erkennen lassen. Sie folgern daraufhin, dass der Zeitpunkt der Stabilisierung großer Röhrenknochen individuell an die physiologischen Konditionen des Patienten angepasst werden sollte.

Demgegenüber vertreten wir in Übereinstimmung mit den Autoren der zitierten klinischen Ergebnisse [8, 17, 18, 26] die feste Überzeugung, dass zur Gewährleistung einer optimalen Intensivtherapie und Vermeidung weiterer additiver Noxen die primäre operative Stabilisierung der großen Röhrenknochen und des instabilen Beckens innerhalb der ersten 24 h obligat sein sollte. Dazu stellt die Fixateur-externe-Osteosynthese ein sicheres und schnell durchführbares Operationsverfahren dar. In Übereinstimmung mit den anderen genannten Autoren konnten auch wir feststellen, dass die sekundären Verfahrenswechsel nicht zu erhöhten lokalen oder systemischen Komplikationen geführt haben. Das DCO-Konzept sollte damit bei jedem gefährdet erscheinenden Schwerverletzten angewendet werden.

Damit erhebt sich die Frage, welche Patienten von diesem Konzept profitieren und bei welchen Patienten eine sofortige definitive Frühversorgung („early total care“), möglich ist, mit der daraus evtl. resultierenden verkürzten Krankenhausaufenthaltsdauer.

Neben der Verletzungsschwere, weltweit am häufigsten ausgedrückt durch den ISS, spielt neben individuellen Faktoren auch das Patientenalter eine außerordentliche Rolle. In einem gemeinsamen Übersichtsartikel der Arbeitsgruppen um Pape und Giannoudis [23] definieren die Autoren in Anlehnung an das Vorgehen in Hannover dazu einen „Borderline-Patienten“ anhand nachweisbarer Gerinnungsstörung, Hypothermie, großem Blutvolumenbedarf, beidseitiger Lungenkontusion, multiplen Frakturen der langen Röhrenknochen, ausgedehnter Operationszeit >6 h sowie einer ausgeprägter inflammatorischen Reaktion. Für diese Borderline-Patienten wird bei nicht sicher beurteilbarer Kompensationsreserve, ebenso wie für anhaltend instabile Patienten das DCO-Konzept vorgeschlagen (EL2a). In der Praxis ist aber gerade die Beurteilung dieser Borderline-Patienten aufwendig und schwierig und damit im Einzelfall abhängig von der individuellen Erfahrung des entsprechenden Schockraumteams bzw. -leiters.

Aus diesem Grund haben wir für unser Zentrum die Schwelle für das DCO-Konzept mit den in Tabelle 1 angegebenen Kriterien relativ niedrig festgelegt. Damit wird möglicherweise eine größere Zahl von Patienten primär mittels Fixateur externe stabilisiert, bei denen auch eine sofortige definitive Versorgung komplikationslos hätte durchgeführt werden können. Andererseits sichert dieses Vorgehen unter allen Voraussetzungen, auch unter Berücksichtigung der Personal- und Operationskapazitäten, während des Tagesbetriebs und der Bereitschaftszeit für jeden Patienten die größtmögliche Sicherheit mit Vermeidung additiver Schädigungen. Der sekundäre Verfahrenswechsel scheint nach den vorliegenden Literaturaussagen kein erhöhtes lokales Risiko gegenüber einer primären Versorgung aufzuweisen.

Tabelle 1 Indikationen für DCO der eigenen prospektiven Kohortenstudie

Letztendlich ist für Patienten in diesem Grenzbereich die Abgrenzung zwischen geringer systemischer Komplikationsrate durch ein DCO-Konzept und der primären definitiven Versorgung mit nur einem Eingriff entscheidend. Eine solche Abwägung kann jedoch zzt. auf hochwissenschaftlichen Daten beruhend nicht eindeutig und generell gültig vorgenommen werden.

Fazit für die Praxis

Jeder operative Eingriff bewirkt in Abhängigkeit von dem Operationsausmaß und der Operationsdauer eine dem Unfalltrauma vergleichbare additive pro- und antiinflammatorische Reaktion.

Zur Sicherstellung einer optimalen Intensivtherapie (Lagerungstherapie) und Vermeidung frakturbedingter lokaler und systemischer Schädigungsmechanismen sollten instabile Beckenfrakturen und lange Röhrenknochen in der Frühphase operativ stabilisiert werden.

Schwer Polytraumatisierte profitieren vom Damage-control-Konzept mit primärer Fixateur-externe-Stabilisierung und sekundärer definitiver Osteosynthese. Es gibt jedoch weiterhin keine harten Kriterien für die Definition, was „schwer verletzt“ in diesem Zusammenhang konkret bedeutet.

Aufbauend auf unseren eigenen Erfahrungen setzen wir diese Grenze relativ niedrig an, wohl wissend, dass damit ein Teil der Patienten „umsonst“ 2-mal operiert werden muss, allerdings ohne dadurch bedingter zusätzlicher lokaler Komplikationen.