In Deutschland verunfallen jährlich ca. 8 Mio. Personen, überwiegend bei Haus- und Freizeitunfällen [1]. Im Jahre 2000 erlitten 20.328 Unfallopfer tödliche Verletzungen [2]. Trotz rückläufiger Tendenz bei Unfalltoten stieg die Zahl der in unfallchirurgischen Abteilungen stationär behandelten Patienten von 390.631 im Jahre 1990 auf 568.845 im Jahre 1996 [3]. Die sich hieraus ergebenden gesamten Behandlungskosten sind beträchtlich und betragen >13 Mrd. Euro, wobei von besonderer Bedeutung die Gerontotraumatologie mit Behandlungskosten von >1 Mrd. Euro/Jahr ist [1, 4].

Während für Verkehrs-, Arbeits- und Wegeunfälle detaillierte Statistiken geführt werden, existiert in Deutschland keine Morbiditätsstatistik, die alle Unfälle erfasst. Somit ist unbekannt, wie viele Personen pro Jahr in Deutschland eine schwere Mehrfachverletzung (ISS≥16) erleiden.

Die bleibende Ressourcenknappheit im stationären Sektor führt potentiell auch zu finanziellen Restriktionen in der Unfallchirurgie. Diese lassen ungünstige Auswirkungen auf den derzeit noch hohen Versorgungsstandard mit den hohen Kosten einer „Rund-um-die-Uhr-Präsenz“ insbesondere im Bereich der Schwerstverletzten erwarten. Auch wenn in bestimmten stationären Bereichen möglicherweise Rationalisierungsreserven mobilisiert werden können, sind doch auch medizinische Innovationen zu erwarten, welche bei Steigerung der Behandlungsqualität höhere Kosten verursachen werden. Angesichts eines steigenden Kostendruckes auf der einen Seite und nachgewiesener besserer Ergebnisqualität durch Spezialisierung auf der anderen Seite, muss gegenüber den „Kostenträgern“ der Versorgungsbedarf der Bevölkerung mit datenbasiert begründet werden, um ungerechtfertigten Einschränkungen vorzubeugen [5].

Ziel dieser Studie war daher die systematische und vollständige Erfassung schwerer Mehrfachverletzungen in einer definierten Region, um damit eine empirische Grundlage für epidemiologische Hoch- und Vorausberechnungen zu schaffen.

Material und Methoden

Die Untersuchung basiert auf einer retrospektiven Erhebung von Unfällen mit einem „Injury Severity Score“ (ISS) von ≥16 im Rettungsdienstbereich Ulm/Alb-Donau der Jahre 1996–2000, welche stationär in der Universitätsklinik Ulm und dem Bundeswehrkrankenhaus Ulm behandelt wurden. Der Rettungsdienstbereich umfasst das Gebiet des Stadtkreises Ulm und des Alb-Donau-Kreises mit einer Gesamtfläche vom 1480 km2 und einer Bevölkerungsanzahl von ca. 297.000 Einwohnern [6, 7]. Die für Notfallrettung (Transport) und Krankentransporte in diesem Rettungsbereich zuständigen Institutionen sind das Deutsche Rote Kreuz und der Arbeiter-Samariter-Bund. Die Alarmierung dieser Organisationen erfolgt über die Rettungsleitstelle Ulm, welche je nach Unfallort im Alb-Donau-Kreis eine der 7 Rettungswachen des Landkreises benachrichtigt und alle Einsätze im Landkreis koordiniert.

Die Zahl der durch die Rettungsleitstelle vermittelten Notarzteinsätzte beträgt pro Jahr ca. 4100 wovon etwa 20% auf chirurgische Notfälle entfallen. Der Transport der Verletzten geschah entweder bodengebunden oder durch den Rettungshubschrauber SAR 75 (ca. 1000 Einsätze/Jahr). Die notärztliche Versorgung wird durch Krankenhausärzte der Kliniken bzw. niedergelassene Ärzte geregelt.

Im Alb-Donau-Kreis sowie im Stadtgebiet von Ulm liegen insgesamt 6 Krankenhäuser folgender Versorgungsstufen:

  • Universitätsklinik Ulm (Maximalversorgung),

  • Bundeswehrkrankenhaus Ulm (Maximalversorgung),

  • Krankenhaus Langenau (Grund- und Regelversorgung),

  • Krankenhaus Blaubeuren (Grund- und Regelversorgung),

  • Krankenhaus Ehingen (Grund- und Regelversorgung),

  • Krankenhaus Laichingen (Grund- und Regelversorgung).

Da sich in der Untersuchungsregion somit keine Krankenhäuser der Schwerpunktversorgung, sondern nur der Grund- und Regelversorgung und der Maximalversorgung befinden, war davon auszugehen, dass schwerverletzte Patienten entweder in die Universitätsklinik oder das Bundeswehrkrankenhaus transportiert werden. Dieser Hypothese wurde vor Beginn der eigentlichen Datenerhebung durch 2 Voruntersuchungen nachgegangen.

Voruntersuchung I

Anhand von 140 Patienten aus dem Jahr 1998 wurde untersucht, zu welchem Anteil schwerverletzte Patienten (ISS≥16) mit dem NAW (Notärztliche Versorgung) bzw. RTH (Rettungshubschrauber) gegenüber dem nichtnotärztlich besetzten Rettungswagen (RTW) gerettet werden. Bei den mit dem NAW geretteten Patienten wurde, um einen Bevölkerungsbezug herzustellen, der Wohnort miterfasst.

Um mögliche saisonale Unterschiede aufzudecken, wurden in einer weiteren Untersuchung aus dem Jahr 1998 aus jedem Monat 10 nichtnotärztlich versorgte Notfälle stichprobenartig untersucht.

Voruntersuchung II

In einer 2. separaten Studie wurde überprüft, ob die Patienten in ein der Schwere der Verletzung entsprechendes Zielkrankenhaus transportiert wurden. Hierzu wurden im Jahr 2001 120 Patienten prospektiv erfasst und die Verletzungsschwere direkt im Zielkrankenhaus am Unfalltag bzw. einem darauf folgenden Tag ermittelt. Wie bereits in der Voruntersuchung I erfolgte zum Ausschluss saisonaler Unterschiede die stichprobenartige Untersuchung von jeweils 10 Patienten/Monat.

Hauptuntersuchung

Im Rahmen der Hauptuntersuchung wurden alle in der Untersuchungsregion aufgrund eines chirurgischen Notfalls vom 01.01.1996 bis 31.12.2000 durch einen Notarzt geretteten Patienten und in eine der beiden Zielkliniken transportierten Patienten erfasst. Ebenfalls erfasst wurden die mit den Kürzel „pädiatrischer Notfall“ versehenen Einsätze, alle Sekundärverlegungen in Begleitung eines Notarztes und Transporte in Schwerpunktzentren außerhalb des Landkreises.

Erhoben wurden aus den Rettungsprotokollen das Alter der Unfallopfer, Informationen zum Unfallgeschehen wie Unfallort und -art, Zeitpunkt, Art und Dauer der Unfallrettung, Zeit bis zum Eintreffen professioneller medizinischer Hilfsdienste sowie die Zielklinik und die Frühletalität am Unfallort.

Aus den Krankenakten wurden Art und Lokalisation der Verletzung sowie Anzahl und Dauer operativer Eingriffe, Liegedauer in einem Intensivbett sowie die Krankenhausverweildauer erfasst. Die Gesamtverletzungsschwere wurde durch den ISS dargestellt [8, 9]. Die Verletzungen werden dabei mit dem „Abbreviated Injury Scale“ (AIS) beurteilt, wobei dieser für jeweilige betroffene anatomische Region (Haut, Kopf, Hals, Thorax, Abdomen/Beckeninhalt, Wirbelsäule, Extremitäten/Beckengürtel) je nach Schweregrad der Verletzung einen Punktewert von 1–5 vergibt. In Anbetracht der großen Anzahl auszuwertender Patienten wurden die Gruppen Kopf und Hals zu einer Gruppe zusammengefasst.

Anhand der Bevölkerungszahl der Studienregion erfolgt eine Schätzung der Verletzungshäufigkeit pro 100.000 Einwohner und daraus die für Deutschland zu erwartende Gesamtzahl an Verletzungen. Der Berechnung zugrunde gelegt wurde jeweils die mittlere Einwohnerzahl der Untersuchungsregion sowie die der Bundesdeutschen Gesamtbevölkerung im Untersuchungszeitraum [6, 7, 10]. Dabei wurde die Annahme getroffen, dass die außerhalb der Untersuchungsregion verunfallten Personen mit Wohnsitz in der Untersuchungsregion in etwa von den in der Untersuchungsregion Verunfallten aufgewogen werden, welche ihren Wohnsitz außerhalb haben.

Durch Durchsicht aller Leichenschauscheine des Alb-Donau-Kreises wurde die Anzahl der im Landkreis direkt am Unfallort verstorbenen Patienten ermittelt.

Datenschutz und statistische Auswertung

Die Speicherung der Daten erfolgte faktisch anonymisiert unter Vergabe einer laufenden Identifikationsnummer. Die Darstellung der Daten erfolgt, soweit nicht anderes gekennzeichnet, als Mittelwert bzw. Median (Min./Max.)

Ergebnisse

Voruntersuchung I

Der Median der Verletzungsschwere der mittels RTW geretteten Patienten lag bei einem ISS von 4 (1–9). Die überwiegende Anzahl (74,3%) dieser Patienten wurde ambulant behandelt. Durch die stichprobenartige Untersuchung konnten keine saisonalen Unterschiede nachgewiesen werden.

Zusammenfassend konnte gezeigt werden, dass mit dem RTW ausschließlich leichter Verletzte (ISS≤9) gerettet werden (Abb. 1). Von den 70 mit dem NAW geretteten Patienten hatten 59 (84,3%) ihren Wohnsitz in der Studienregion.

Abb. 1
figure 1

Identifikation der Studienpopulation

Voruntersuchung II

Durch eine 2. separate Voruntersuchung sollte untersucht werden, ob Unfallopfer in ein der Verletzungsschwere entsprechendes Zielkrankenhaus transportiert werden.

Von 120 stichprobenartig erfassten und mit dem NAW geretteten Patienten wurden 97 (81%) in eines der beiden Häuser der Maximalversorgung transportiert. Der Median der Verletzungsschwere der verbleibenden 23 Patienten (19%), welche in ein peripheres Krankenhaus transportiert worden waren, lag bei einem ISS von 5 (4–12). Es konnte somit gezeigt werden, dass alle Patienten mit einem ISS>12 ohne Ausnahme in ein Haus der Maximalversorgung transportiert werden (s. Abb. 1)

Hauptuntersuchung

Im Zeitraum vom 01.01.1996 bis 31.12.2000 wurden lebend mit dem NAW bzw. RTH 1962 Patienten aufgrund eines chirurgischen oder pädiatrischen Notfalls in eines der beiden an der Untersuchung teilnehmenden Kliniken bzw. ein Schwerpunktkrankenhaus außerhalb des Landkreises transportiert.

Direkt an der Unfallstelle verstarben 112 Unfallopfer in erster Linie an der Folge von Verkehrsunfällen (Abb. 2). Lebend wurden 342 Patienten mit einem Verletzungsschweregrad von ISS≥16 in eines der beiden Zielkrankenhäuser transportiert. Somit erlitten insgesamt 454 Verletzte (360 Männer, 94 Frauen) mit einem durchschnittlichen Alter zum Unfallzeitpunkt von 37,5 Jahren im Untersuchungszeitraums eine primär letale bzw. schwere (ISS≥16) Verletzungen.

Abb. 2
figure 2

Unfallursache direkt an der Unfallstelle verstorbener Unfallopfer (n=112)

Die überwiegende Anzahl der Unfallopfer verunfallte in den Nachmittagsstunden (Abb. 3). Ebenfalls zeigt sich im Untersuchungszeitraum eine diskrete Häufung von Unfällen in den wärmeren Monaten April bis September mit 191 Unfällen (56%) vs. Oktober bis März mit 151 Unfällen (44%).

Abb. 3
figure 3

Unfallzeitpunkt (n=342)

Direkt im Schockraum verstarben 7 Patienten, welche unter Reanimationsbedingungen in die Klinik eingeliefert worden waren. Es kommen daher nur die Daten der 335 Patienten zur Darstellung, von denen eine vollständige Diagnostik zur Errechnung der Unfallschwere vorlag (Tabelle 1).

Tabelle 1 In die Untersuchung eingeschlossene und ausgewertete Patienten im Studienzeitraum 01.01.1996–31.12.2000

Gerettet wurden 191 Patienten (57%) bodengebunden, in 151 Fällen (43%) erfolgte der Transport durch den Rettungshubschrauber. Die durchschnittliche Verletzungsschwere lag bei einem ISS von 27 (Median=22, ISS=16–75) wobei überwiegend Verletzungen der Schweregrade ISS=16–25 vorlagen (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Schweregrad der erlittenen Verletzungen

Am häufigsten erlitten die Unfallopfer Kombinationsverletzungen der Regionen Kopf/Hals und Thorax sowie Thoraxtraumen in Kombination mit Extremitätenverletzungen (Tabelle 2).

Tabelle 2 Häufigkeit der Verletzungen im Untersuchungskollektiv

Schädel-Hirn-Trauma (SHT)

Von den 355 Patienten erlitten insgesamt 220 Unfallopfer Verletzungen der Kopf-Hals-Region (63%). Es handelte sich dabei um 202 SHT und in 18 Fällen um Verletzungen des Gesichtsschädels. In 170 Fällen bestand ein schweres SHT mit einem AIS>3 (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Verletzungsgrad der SHT

Aufgrund intrakranieller Verletzungen wurden 54 chirurgische Eingriffe durchgeführt, in erster Linie handelte es sich hierbei um die Anlage von Hirndrucksonden und Trepanationen.

Am häufigsten lagen Thoraxtraumen als Kombinationsverletzungen (n=116), mit einem mittleren AIS=3 gefolgt von Verletzungen der AIS-Region Becken/Extremitäten (n=110) mit einem AIS von im Mittel 2,52 vor.

Thoraxtraumen

Ein Thoraxtrauma erlitten 179 Patienten (Abb. 6). In 171 Fällen handelte es sich um stumpfe Traumen, penetrierende Verletzungen bestanden in 7 Fällen. In der überwiegenden Anzahl (n=177) lagen Lungenkontusionen vor, eine Aortenverletzung zeigten 4 Patienten. Eine Thoraxdrainagenanlage ein- oder beidseitig erfolgte in 80 Fällen, 17 Patienten wurden thorakotomiert.

Abb. 6
figure 6

Verletzungsschwere der Thoraxverletzungen (n=179)

Eine zusätzliche Verletzung der Kopf-Hals-Region als Kombinationstrauma lag bei 116 Patienten mit einem mittleren AIS=3,3 vor. An 2. Stelle bestanden Kombinationsverletzungen der AIS-Region Becken/Extremitäten (n=106) mit einem AIS von im Mittel 2,6.

Abdominalverletzungen

Verletzungen der abdominellen Organe lagen in 98 Fällen vor. Wie bei den thorakalen Verletzungen handelte es sich in erster Linie um stumpfe Traumen (n=87). Am häufigsten waren die Leber (n=32) und die Milz (n=31) betroffen. In 62 Fällen musste aufgrund der Schwere der Verletzung operativ interveniert werden.

Am häufigsten erlitten die Patienten zusätzliche Verletzungen der Thoraxregion als Kombinationsverletzungen (n=71) mit einem mittleren AIS von 3,2, gefolgt von Verletzungen der AIS-Region Becken/Extremitäten (n=50) mit einem AIS von im Mittel 2,8.

Wirbelsäulenverletzungen

Ingesamt 83 Patienten erlitten Verletzungen der Wirbelsäule, wobei mit 41 Fällen in erster Linie die Brustwirbelsäule betroffen war. Neurologische Ausfälle verschiedener Schweregrade bestanden bei 42 Patienten.

Am häufigsten erlitten die Patienten zusätzliche Thoraxtraumen als Kombinationsverletzungen (n=50) mit einem mittleren AIS=3,4 sowie SHT (n=49) mit einem AIS von im Mittel 3,4.

Becken- und Extremitätenverletzungen

Insgesamt erlitten 147 Patienten 224 Frakturen (inklusive Skapula und Klavikula); 3 oder mehr Frakturen bestanden hierbei bei 21 Unfallverletzten. Am häufigsten fanden sich Femurfrakturen (n=58), gefolgt Unterschenkelfrakturen (n=53). Offene Frakturen lagen bei 35 Patienten vor. Beckenfrakturen erlitten 43 Patienten, eine Acetabulumfraktur bestand bei 9 Patienten.

Letalität und Dauer des stationären Aufenthalts

Direkt im Schockraum bzw. während des stationären Aufenthalts verstarben insgesamt 64 Patienten. Haupttodesursache war hierbei in erster Linie das schwere SHT, gefolgt von therapierefraktärem hämorrhagischem Schock. In 6 Fällen war die Todesursache aus den Akten nicht exakt zu erheben (Tabelle 3).

Tabelle 3 Todesursache der während des stationären Aufenthalts verstorbenen 64 Patienten

Insgesamt wurden von den 335 Patienten 247 auf die Intensivstation aufgenommen, die übrigen 88 Patienten wurden auf die „intermediate care“ oder periphere Station verlegt. Die durchschnittliche Intensivliegedauer der Patienten betrug im Median 3 Tage (1–60 Tage, Mittelwert=6,3 Tage), bedingt durch die relativ hohen Anzahl früh verstorbener Patienten. Der Median der Gesamtliegedauer betrug 15,3 Tage (Mittelwert=12 Tage).

Bevölkerungsbezogene Inzidenz schwerer Verletzungen

Grundlage der Berechung der bevölkerungsbezogenen Inzidenz war die mittlere Einwohnerzahl der Jahre 1996–2000. Diese betrug in der Untersuchungsregion 269.499 Personen und in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1996–2000 8.2105.913 Personen. Die Berechnung erfolgte unter der Annahme, dass die in der Untersuchungsregion Verunfallten mit Wohnsitz außerhalb der Region in etwa der Zahl der außerhalb der Region Verunfallten mit Wohnsitz in der Region entsprechen. Zur Abschätzung einer möglichen Überschätzung war in einer Pilotstudie an 70 Verunfallten der Wohnsitz erhoben worden wobei 11 dieser 70 in der Untersuchungsregion Verunfallten einen Wohnsitz außerhalb der Region hatten (15,7%, binomialer 95%-Konfidenzbereich =7,2–24,2%). Es waren keine Daten zu den außerhalb der Untersuchungsregion verunfallten Einwohnern verfügbar.

Anhand dieser Abschätzung ergibt sich eine Inzidenz der schweren Mehrfachverletzung von 24,86/100.000 Einwohner in der Untersuchungsregion, wenn alle Patienten nach dem Ereignisort bzw. dem Ort der Versorgung berücksichtigt werden. Dies bedeutet hochgerechnet auf die Bundesrepublik Deutschland eine Gesamtzahl von ca. 20.400 schweren Mehrfachverletzten/Jahr (Tabelle 4).

Tabelle 4 Inzidenz der verletzten Patienten in der Untersuchungsregion sowie errechtete Häufigkeit/Jahr in Deutschland mit und ohne Korrekturfaktor

Diskussion

Der Rückgang der Anzahl der Unfalltoten in den letzten Jahren wird allgemein der Leistungsfähigkeit aktiver und passiver Sicherheitssysteme zugeschrieben. Entscheidend für eine erfolgversprechende Unfallversorgung sind aber neben diesen technischen Innovationen kurze Rettungszeiten, eine effiziente Diagnostik und entsprechende operative und intensivmedizinische Therapie. Insbesondere die adäquate Therapie in spezialisierten Zentren hat nachgewiesenermaßen einen direkten Einfluss auf die Prognose der Verletzung und somit auch auf die spätere Lebensqualität und Leistungsfähigkeit der Unfallopfer [11, 12].

In Anbetracht der chronischen Ressourcenknappheit der letzten Jahre werden sich auch die unfallchirurgischen Versorgungseinheiten einem zunehmenden Konzentrationsprozess nicht entziehen können [5]. Um als gleichberechtigter Diskussionspartner der „Kostenträger“ die zu erwartenden Veränderungen aktiv mitgestalten zu können, bedarf es jedoch eines fundierten Zahlenmaterials, um einerseits die gesellschaftliche Bedeutung der Unfallverletzung an sich und andererseits die Leistungsfähigkeit der Versorgung schwer verletzter Patienten nachzuweisen.

Da eine einheitliche Erhebung aller Unfälle in der Bundesrepublik Deutschland nicht durchgeführt wird und keine Morbiditätstatistik existiert, war das Ziel dieser Untersuchung die systematische und vollständige Erfassung aller schweren Unfallverletzungen in einer definierten Studienregion.

Der als Untersuchungsregion gewählte Alb-Donau-Kreis und das Stadtgebiet Ulm schienen für die geplante Untersuchung besonders geeignet, da nur Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung und 2 Häuser der Maximalversorgung für die Versorgung von Unfallverletzten zur Verfügung stehen. Es war daher anzunehmen, dass Schwerverletzte mit einem ISS≥16 nur in den beiden Häusern der Maximalversorgung behandelt werden. Diese Annahme und das gewählte Studiendesign mussten im 1. Schritt durch Voruntersuchungen validiert werden. Es konnte dabei nachgewiesen werden, dass in der Studienregion Patienten mit einem ISS>9 grundsätzlich notärztlich versorgt werden (Voruntersuchung I) und in ein der Verletzungsschwere entsprechendes Zielkrankenhaus transportiert werden (Voruntersuchung II). Ebenfalls konnte somit gezeigt werden, dass die Verletzungsschwere primär am Unfallort korrekt eingeschätzt wurde, da spätere Sekundärverlegungen nach bereits begonnener Behandlung nicht notwendig waren.

Die Berechnung von Inzidenzen basierend auf dem Behandlungsort kann potentiell zu systematischen Verzerrungen führen, da auch Patienten berücksichtigt werden, welche ihren Wohnort außerhalb des definierten Einzugsgebiets haben. Daher wurde in der ersten Voruntersuchung auch der Wohnort der Patienten miterfasst. Hierbei konnte nachgewiesen werden, dass der überwiegende Teil der verletzten Patienten (84%) in der Studienregion ansässig ist. Da aber auch davon ausgegangen werden kann, dass Patienten aus der Bezugsbevölkerung außerhalb des definierten Versorgungsgebiets verunfallen und sich diese „entgangenen“ Fälle mit den Fällen mit externem Wohnort die Waage halten, wurde eine Korrektur der zu erwartenden Inzidenz schwerer Verletzungen nicht vorgenommen.

Die Analyse der Unfallzeiten, Unfallursachen und der demographischen Daten bestätigt die im Traumaregister der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie gewonnenen Erkenntnisse [13]. In 1. Linie handelt es sich um Verkehrsunfälle. Betroffen sind hauptsächlich junge erwerbsfähige Patienten mit einem durchschnittlichen Alter von 37 Jahren und der Unfallzeitpunkt ist in >60% der Fälle nach 16 Uhr. Aus diesen Tatsachen ergibt sich, dass die Ressourcen der Schwerverletztenversorgung vorwiegend zur Behandlung von Verkehrsunfällen vorgehalten werden müssen und die Behandlung der Verletzten zum überwiegenden Teil während der Bereitschaftsdienstzeiten erfolgt. Dieser Aspekt bedarf in den Zeiten des EuGh-Urteils ganz besonderer Beachtung.

Durch diese Untersuchung konnte erstmals bevölkerungsbezogen die Häufigkeit schwerer Mehrfachverletzungen erhoben werden. Obwohl es denkbar ist, dass der Bevölkerungsaufbau, das Risikoverhalten und umweltbedingte Risiken wie Witterung, Straßenbau und Verkehrsdichte sowie Organisation und Qualität von Rettungssystemen und medizinischer Versorgung in der Untersuchungsregion vom bundesdeutschen Querschnitt abweichen, lässt sich aus den erhaltenen Daten mit Einschränkungen die Inzidenz für das gesamte Bundesgebiet errechnen.

Bei einer Inzidenz von 24,86 Verletzungen/100.000 Einwohner in der Untersuchungsregion ergibt sich somit für die Bundesrepublik Deutschland eine Gesamtzahl von ca. 20.400 Patienten/Jahr mit schwerer Mehrfachverletzung.

Direkt an der Unfallstelle bzw. sekundär in der Klinik verstarben während des Untersuchungszeitraums insgesamt 176 Patienten. Hochgerechnet auf die Bundesrepublik würden sich somit pro Jahr ca. 10.700 Unfalltote ergeben. Tatsächlich erleiden aber ungefähr 20.000 Unfallopfer jährlich tödliche Verletzungen [2]. Diese Diskrepanz deutet auf eine im Vergleich zu Gesamtdeutschland niedrigere Unfallrate in der Untersuchungsregion hin, wenn unterstellt wird, dass die Anzahl der Unfalltoten proportional zur Gesamtzahl der Unfälle ist.

Diese Annahme wird auch durch die Anzahl der im Straßenverkehr getöteten Personen unterstützt [14]. Diese betrug im Jahre 2000 in Baden-Württemberg 79/1 Mio. Einwohner und im Bundesdeutschen Mittel 91/1 Mio. Einwohner. Es kann daher angenommen werden, dass die tatsächliche Anzahl der Personen, welche jedes Jahr eine schwere Verletzung (ISS≥16) in Deutschland erleiden, beträchtlich höher ist als die hier errechnete. Verwendet man den aus der Berechnung der Unfalltoten erhalten Korrekturfaktor von 1,9 ergibt sich eine Inzidenz von 47,23/100.000 Einwohner, was 38.760 Polytraumatisierten/Jahr entsprechen würde (s. Tabelle 4).

Die hierdurch alleine im Rahmen der akutstationären Behandlung entstehenden Behandlungskosten sind enorm [15, 16, 17, 18]. Eine in unserem Hause in den Jahren 1997 und 1998 durchgeführte Analyse an 71 polytraumatisierten Patienten mit einem durchschnittlichen ISS von 23 ergab durchschnittliche Behandlungskosten von 21.866 Euro/Patient [18]. Werden diese Kosten zugrunde gelegt, ergeben sich allein in der Untersuchungsregion Aufwendungen für die stationäre Schwerverletztenversorgung von 1.465.022 Euro/Jahr. Hochgerechnet auf die Bundesrepublik Deutschland ergeben sich somit Kosten von 446 (20.400 Schwerverletzte) bis 847 Mio. Euro/Jahr (38.760 Schwerverletzte). Mit der von Obertacke et al. [16] erarbeitete Kalkulation, an einem mit Mittel (ISS=32) schwerer verletzen Kollektiv (53.500 Euro/Patient) errechnen sich für Gesamtdeutschland sogar Kosten von umgerechnet 1,09 (20.400 Schwerverletzte) bis 2,07 Mrd. Euro/Jahr (38.760 Schwerverletzte).

Die besondere Bedeutung des schweren SHT bei polytraumatisierten Patienten wird durch diese Untersuchung erneut unterstrichen. Von 335 polytraumatisierten Patienten erlitten 202 ein schweres SHT, dies entspricht einem Anteil von 60%. Das SHT war im untersuchten Patientenkollektiv noch vor dem Thoraxtrauma die dominierende Verletzung und die Haupttodesursache der sekundär in der Klinik verstorbenen Patienten.

In unserer Untersuchung betrug die Häufigkeit eines schweren SHT (AIS≥3), welches im Rahmen einer Mehrfachverletzung erlittenen wurde, 12,27/100.000 Einwohner. Hochgerechnet auf die Bundesrepublik Deutschland ergibt dies jährlich bis zu 20.000 Unfallopfer mit schweren SHT. In Anbetracht der hohen Rate neuropsychologischer Defizite nach schwerem SHT und fehlender therapeutischer Innovationen in den letzten Jahrzehnten sollten diese Daten insbesondere zu einer Intensivierung der Forschung beitragen.

Durch diese Untersuchung sollte ein Überblick über die Inzidenz schwerer Verletzungen gewonnen werden. Ziel war im 1. Schritt die Darstellung der Häufigkeit von schweren und somit ressourcenintensiven Verletzungen. Kritisch anzumerken ist das retrospektive Studiendesign—zukünftiges Ziel muss daher die Etablierung eines flächendeckenden Registers mit der bevölkerungsbezogenen Erfassung aller Verletzungen sein.