Viele Ängste und Unsicherheiten von Eltern bezüglich des Essverhaltens ihrer Säuglinge und Kleinkinder beruhen auf ungenügenden Kenntnissen der normalen Entwicklung des Essens in den ersten Lebensjahren [3]. Auch für Fachpersonen ist ausreichendes Wissen über die Ernährung und das Essverhalten von Kindern wichtig, um Familien kompetent beraten zu können. Die hier vorgestellte Sichtweise behandelt die normale Entwicklung des Essverhaltens und seine Einflussfaktoren aus entwicklungspädiatrischer Sicht [19]. Die Entstehungsbedingungen von Fütter- oder Essverhaltensstörungen werden aus kinderpsychiatrischer Perspektive erläutert. Das kindliche Essverhalten wird von physiologischen Regulationsmechanismen, individuellen Entwicklungseigenheiten des Kindes, der Eltern-Kind-Interaktion und -Beziehung sowie sozialen und kulturellen Einflüssen geprägt. Die entwicklungspädiatrische Haltung plädiert für eine Passung (nach Largo und Jenni für einen Fit [20]) zwischen den individuellen Eigenheiten des Kindes und den Erwartungen seines sozialen Umfelds als bestmögliche Bedingung für normales Wachstum und Entwicklung.

Physiologische Regulationsmechanismen

Die physiologische Regulation von Hunger und Sättigung wurde in den letzten Jahren intensiv erforscht [13]. Das Essverhalten ist wie das Schlafverhalten homöostatisch reguliert [28]. Physiologische Regulationsprozesse stellen sicher, dass der Energiehaushalt eines Individuums in einem stabilen Gleichgewichtszustand aufrechterhalten wird (Homöostase). Bei einem Energiedefizit wird eine physiologische Kaskade ausgelöst, die zur Appetitstimulation führt. Wenn in der Folge ein bestimmter Sättigungsgrad erreicht wird, werden Hormonsysteme sowie weitere neuroendokrine und neuronale Signale aktiviert, die die weitere Nahrungsaufnahme bremsen. Die homöostatisch regulierten physiologischen Systeme sollen anhaltende Nahrungskarenz verhindern und das Risiko für eine Adipositas reduzieren [13]. Die meisten Kenntnisse der physiologischen Ernährungsregulation stammen allerdings aus Tiermodellen oder aus Untersuchungen bei Erwachsenen [13, 28].

Die Eigenregulation der Nahrungsaufnahme ist sehr früh funktionstüchtig

Nur wenige Studien haben die Ernährungsregulation im Säuglings- und Kindesalter beschrieben (z. B. [10, 29]). Soussignan et al. [29] berichteten beispielsweise, dass 2 Tage alte gesunde Säuglinge nach dem Stillen eine Abneigung gegen Milchgeschmack zeigten. Neugeborene sind bei Sättigung also weniger an Nahrung interessiert. Ähnlich wie die Schlafregulation [17] ist also auch die Eigenregulation der Nahrungsaufnahme sehr früh im Säuglingsalter funktionstüchtig. Eine praktische Schlussfolgerung, die daraus gezogen werden kann, lautet: Wenn ein Kind mehr oder weniger parallel zu den Wachstumskurven wächst und es körperlich gesund ist, dann wird sein Bedarf an Energie und Nährstoffen durch eigenregulative Prozesse und eine angemessene Nahrungsmenge gedeckt.

Hunger- und Sättigungsregulation sowie auch der Nahrungsbedarf sind bereits in den ersten Lebenstagen von Kind zu Kind sehr unterschiedlich ausgeprägt (Abb. 1; [16]). Die hohe Variabilität ist besonders durch die unterschiedlichen physiologischen Regulationsmechanismen des Energiehaushaltes von Kind zu Kind bedingt [4]. Es zeigen allerdings nur gestillte Säuglinge eine vollständig eigenregulierte Nahrungsaufnahme, während bei flaschenernährten Säuglingen zum großen Teil die Eltern die Kontrolle über die Ernährung haben. Dies könnte ein Grund sein, weshalb flaschenernährte Kinder ein höheres Risiko für die spätere Entwicklung einer Adipositas aufweisen [25]. Das Erkennen von kindlichen Sättigungssignalen durch die Bezugspersonen ist eine wichtige Voraussetzung, damit das Kind nicht überfüttert wird.

Abb. 1
figure 1

Tägliche Nahrungsmenge in den ersten Lebensmonaten. a Absolut, b bezogen auf das Körpergewicht. (Aus Jenni et al. [16])

Entwicklungsperioden

In den ersten 2 Lebensjahren gibt es 3 Entwicklungsperioden des Essverhaltens: die Anfangsphase mit flüssiger Ernährung (Stillzeit), die Übergangszeit der Breiernährung und die Phase der kindgerechten Erwachsenenernährung. Häufige Themen in der kinderärztlichen Praxis sind Trinkschwäche und Umstellung des Stillens oder der Flaschennahrung auf eine Breiernährung.

Es müssen gewisse Voraussetzungen für eine erfolgreiche Brust- bzw. Flaschenfütterung sowie die Umstellung von flüssiger auf feste Nahrung gegeben sein (z. B. Reifung des Stoffwechsels, der Verdauung und der oropharyngealen Fähigkeiten). Damit das junge Kind Brei essen kann, muss es eine aufrechte und einigermaßen stabile Position einnehmen und die Breinahrung schlucken können, ohne sich zu verschlucken. Diese Entwicklungsschritte sind ebenfalls von Kind zu Kind hoch variabel (Zürcher Longitudinalstudien [19]; Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Entwicklung des Ess- und Trinkverhaltens in den ersten 2½ Jahren. Dargestellt sind die 10., 50. und 90. Perzentile. (Aus Jenni et al. [16], Daten aus den Zürcher Longitudinalstudien)

Einige wenige Kinder können aufgrund ihrer motorischen Voraussetzungen schon mit 3 Monaten Brei essen. Die meisten schaffen es zwischen dem 4. und 7. Monat, einige brauchen bis zum 9. Lebensmonat. Bereits in diesem Alter nehmen die Kinder auch feste Esswaren wie z. B. Kekse oder Brot in den Mund. Ab dem 1. Geburtstag beginnen die Kinder zu essen, was auf den Familientisch kommt. Speisen müssen aber immer noch häufig püriert und zerkleinert werden. Spätestens ab diesem Alter ist eine besondere Kindernahrung wie beispielsweise Juniormilchen, auf die auch zuvor verzichtet werden kann, nicht mehr angezeigt. Eine kindsgerechte Erwachsenenernährung ist ausreichend. Schließlich entwickelt sich die Fähigkeit, feste Nahrung zu kauen, im 2. Lebensjahr.

Kulturelle und soziale Einflüsse

Kulturelle Normen und Vorstellungen beeinflussen die kindliche Entwicklung wesentlich. In der frühen Kindheit hängen besonders die Schlaf- und Fütterungsrituale von kulturellen und geografischen Begebenheiten ab [18]. In manchen Kulturen wird das Essen der Säuglinge von den Bezugspersonen vorgekaut, während andere diese Praxis als unhygienisch und sogar gefährlich beurteilen [26]. In wieder anderen Kulturen werden die Kinder während des Fütterns getragen, und in anderen sitzt das Kind in einem Stühlchen [14]. Die große Variabilität der kulturellen Praktiken zeigt, dass Säuglinge und Kinder sehr anpassungsfähig sind und darum rigide Empfehlungen bezüglich des Essverhaltens vermieden werden sollten [13].

Rigide Empfehlungen bezüglich des Essverhaltens sind nicht angebracht

Im 2. Lebensjahr ahmen die Kinder das Essverhalten der Eltern häufig nach und wollen selbstständig essen und trinken. Dafür braucht es Vorbilder. Tatsächlich sind das Imitationsverhalten und das soziale Lernen die stärksten Lerntriebe des heranwachsenden Kleinkinds. Entsprechend groß ist die Verantwortung von Bezugspersonen als Vorbilder.

Nahrungsvorlieben

Studien haben darauf hingewiesen, dass Belohnungssysteme, die die Lust auf bestimmte Nahrung steuern, in den ersten 2 bis 3 Lebensjahren noch nicht ausgeprägt sind und erst später eine zentrale Rolle in der Ernährungsregulation spielen [2]. Obwohl sensorische Wahrnehmungsprozesse noch unreif sind, können sich Säuglinge und Kleinkinder doch in einem gewissen Maß gustatorisch und olfaktorisch an Nahrung gewöhnen. Nahrungsvorlieben von Schwangeren oder Stillenden beeinflussen das intrauterine Milieu und die geschmackliche Vielfalt der Muttermilch. Tatsächlich kommt die Ablehnung neuer Speisen bei ehemals gestillten Kindern weniger häufig vor als bei flaschenernährten Kindern. Für Eltern besteht demnach die Möglichkeit, die beschriebene Gewohnheit des Sich-hinein-Schmeckens auszunutzen, um Kinder an eine gesunde und vielfältige Ernährung heranzuführen [11]. Häufig findet sich im Kleinkindalter das „picky eating“ bzw. eine Neophobie gegenüber unvertrauten Speisen als passageres Phänomen. Das selektive Vermeiden von bitteren und sauren Nahrungsmitteln wird als evolutionsbiologisch adaptives Verhalten für die Zeit beschrieben, in der das motorisch mobile Kleinkind Essbares unkontrolliert erreichen kann, aber noch kein Bewusstsein für Unverträgliches ausgebildet hat. Einer niederländischen Kohortenstudie zufolge zeigten fast 50 % aller Kleinkinder ein selektives Essverhalten mit einem Gipfel im frühen 3. Lebensjahr und einer steten Abnahme bis zum Schulalter [7].

Eltern-Kind-Interaktion

Die Eltern-Kind-Interaktion spielt für das kindliche Essverhalten eine zentrale Rolle. So müssen die Erwartungen der Bezugspersonen an ein normales Essverhalten den Entwicklungseigenheiten des Kindes angepasst sein [19]. Werden die kindlichen Bedürfnisse bezüglich Hunger und Sättigung von Bezugspersonen nicht erkannt oder sind die Säuglinge wegen einer Erkrankung nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse zu signalisieren, können sich Fütter- oder Essstörungen entwickeln. Eine übermäßige Kontrolle der kindlichen Ernährung unterdrückt die Fähigkeit zur Eigenregulation und kann zu unkontrolliertem Essen des Kindes führen. Daneben gibt es Kinder, die auf eine kontrollierende, intrusive Fütterung mit Abwehr und Vermeidung reagieren. Hierbei entfaltet sich zwischen Bezugsperson und Kind eine offene oder verdeckte Auseinandersetzung um jeden Löffel oder Bissen, der mit erhöhter Anspannung bei den Mahlzeiten einhergeht und den kindlichen Appetit so weit hemmen kann, dass ein Untergewicht resultiert. Besonders wichtig ist folglich die Anerkennung der Autonomiebedürfnisse des Kindes, das bereits um den 1. Geburtstag oder sogar früher zum Selberessen mit den Fingern bereit ist.

Frühkindliche Autonomieentwicklung

Das Bestreben nach Autonomie ist ein bestimmender Faktor in der Entwicklung des Essverhaltens [8]. Bereits in den ersten Lebenswochen ist das Kind in der Lage, Hunger und Sättigung zu signalisieren (1. Phase). Es hat gelernt, die Aufmerksamkeit genügend lang auf das Trinken zu richten. Ein Zuwenig oder Zuviel an Wachheit, Aktivität und Aufmerksamkeit („arousal“) kann zu einer Fütterstörung mit Beeinträchtigung der homöostatischen Regulation führen. In der Zeit zwischen der 6. Lebenswoche und dem 6. Lebensmonat (2. Phase) setzt der Säugling gezielt Mimik und Vokalisation ein und lernt, sich als aktiven Partner in der Fütterinteraktion wahrzunehmen. Die Kommunikation in dieser Phase läuft ausschließlich dyadisch ab, also in der Regel zwischen Mutter und Kind. Zwischen dem 7. Lebensmonat und dem Ende des 3. Lebensjahrs (3. Phase) beginnt das Kind nach und nach Bedürfnisse auszuhandeln. Zunächst will es Nahrung selbst in der Hand halten und zum Mund führen. Gegen Ende des 1. Lebensjahrs verlangt es, den Löffel zu halten. Spätestens Anfang des 2. Lebensjahrs will es mit anderen essen und einen eigenen Teller haben. Die Kommunikation in der 3. Phase läuft triadisch ab, d. h., es entsteht ein Kommunikationsdreieck zwischen Kind, Elternteil und einem etwas bedeutsamen Dritten (z. B. dem anderen Elternteil, Geschwister, einer Puppe oder der Nahrung selbst). Da viele Kinder erst im 4. Lebensjahr in der Lage sind, eine Mahlzeit weitgehend ohne elterliche Unterstützung und Zuspruch zu bewältigen, werden Essverhaltensprobleme vor dem 3. Geburtstag als Fütterstörungen und erst danach als Essstörungen bezeichnet.

Frühkindliche Essverhaltensstörungen

Interpersonales Modell

Das Zusammenspiel von kindlicher Nahrungsaufnahme und elterlicher Fütterung hat im 1. Lebensjahr, wie beschrieben, eine besondere Bedeutung. In den ersten Lebensmonaten verbringt der Säugling ein Drittel bis zur Hälfte seiner Wachzeit mit Essen und einen meist deutlich geringeren Anteil der verbleibenden Zeit in ebenso aktiver Wechselseitigkeit mit seinen Eltern. Hier ist eine Mahlzeit also das ideale Übungsfeld für die Entwicklung von Autonomie und sozialer Interaktion. Die Eltern erproben ihre Rolle als kompetente Eltern unter Anwendung intuitiver Fähigkeiten. Eine fehlende Passung von elterlichem Fütter- und kindlichem Essverhalten kann zu Belastungen der (Eltern-)Paarbeziehung sowie zu Auffälligkeiten des kindlichen Essverhaltens führen. Es ist für das Selbstverständnis einer Mutter existenziell, ihr Baby am Leben zu erhalten. Eine Mutter stellt sich infrage, wenn sie beim Füttern das Gefühl des Versagens spürt, und glaubt, auf diese Weise keine „primäre Bezogenheit“ zu ihrem Kind entwickeln zu können. Für sie steht emotional das kindliche Überleben auf dem Spiel [15].

In gemeinsamen Mahlzeiten schaukeln sich Belastungen auf

Essen ist an sich lustvoll und ein soziales Ereignis. Wenn Kinder nicht essen und sich keine behandelbare medizinische Ursache findet, werden gemeinsame Mahlzeiten zu emotional negativ aufgeladenen Situationen. In der Fütter- oder Esssituation begegnen sich schließlich kindliche und elterliche Belastungen und schaukeln sich gegenseitig auf. Das Nicht-füttern-Können oder Verweigern des Kindes kann potenziell Fehlentwicklungen triggern. Die Folgen dysfunktionaler Fütterinteraktionen werden je nach Verlauf und Kontext auf der Ebene des Kindes (z. B. Verweigerung), der Eltern (z. B. niedriger Selbstwert) oder der Interaktion (z. B. Zwang) abgelesen. Nicht selten ist die Esssituation Bühne für elterliche Belastungen und Konflikte, die in der Biografie eines oder beider Elternteile zu finden sind. Solche Konstellationen bedürfen psychotherapeutischer Hilfe.

Epidemiologie

In Populationsstudien zeigen 20–25 % der Kinder zwischen 0 und 3 Jahren ein auffälliges Essverhalten (z. B. Verweigerung der Löffelfütterung, essen mit Ablenkung, selektive Begrenzung auf wenige Nahrungsmittel). Die Häufigkeit der Kinder mit einer klinisch bedeutsamen Ess- oder Fütterstörung beträgt 2–5 %; ca. 0,5 % aller Kinder werden hospitalisiert. Eine Gedeihstörung, die auf eine zu geringe Kalorienzufuhr zurückgeführt werden kann, haben 3–4 % der Kinder [23].

Klinische Formen

International einheitliche und anerkannte Diagnose- und Behandlungskonzepte existieren bis heute nicht. Die American Psychiatric Association integriert in ihrer 2013 erschienenen 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5, Tab. 1) die zuvor gebräuchlichsten Klassifikationen [5, 9]. Die neue Einteilung weist eine gute klinische Anwendbarkeit und Abgrenzung zu anderen Essstörungen auf. Im deutschsprachigen Raum wurden Fütterstörungen oft als Regulationsstörung eingeordnet. Die Diagnose „Regulationsstörung“ – uneindeutig konzeptionalisiert und empirisch kaum abgesichert – bezieht sich meist auf eine anlagebedingte Störung der Reaktivität auf sensorische Reize und ist nicht geeignet, die Symptome und das Spektrum frühkindlicher Essverhaltensstörungen in ihrer Komplexität abzudecken. Die entsprechende Leitlinie der AWMF – Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften wurde überarbeitet, an internationale Klassifikationen angepasst und ist seit Kurzem verfügbar [30].

Tab. 1 Diagnostische Kriterien und Codierungen. (American Psychiatric Association [1])

Für Kliniker und Praktiker sind die Wolfson-Kriterien als valides Screeninginstrument anwendbar (Tab. 2). Sind sie erfüllt und liegt ein pathologisches Fütterverhalten (Tab. 3) bzw. antizipatorisches Würgen/Erbrechen vor, kann von einer behandlungsbedürftigen Störung ausgegangen werden.

Tab. 2 Wolfson-Kriterien. (Nach Levine et al. [21])
Tab. 3 Pathologisches Fütterverhalten. (Nach Levy et al. [22])

Im Folgenden werden die wesentlichen klinischen Erscheinungsformen beschrieben:

  • Fütterstörung mit Beeinträchtigung der homöostatischen Regulation,

  • Fütterstörung mit unzureichender Eltern-Kind-Reziprozität,

  • infantile Anorexie,

  • sensorisch bedingte Nahrungsverweigerung,

  • funktionelle Dysphagie (konditionierte oder posttraumatische Fütterstörung),

  • emotionale Störung mit Nahrungsvermeidung.

Fütterstörung mit Beeinträchtigung der homöostatischen Regulation.

Diese beginnt in den ersten 8 Lebenswochen. Das Kind ist nicht in der Lage, lange oder kontinuierlich genug einen ausreichenden Wachzustand zum Trinken aufrechtzuerhalten. Es hat Mühe, einen regelmäßigen Essrhythmus aufzubauen. Unerfahrene Eltern sind verunsichert. Es kommt zu dysfunktionalen Interaktionszirkeln. Frühzeitig erkannt, ist diese Fütterstörung relativ einfach zu behandeln [8].

Fütterstörung mit unzureichender Eltern-Kind-Reziprozität.

Diese Störung betrifft Kinder, die nicht ausreichend trinken oder essen, obwohl genügend Nahrung vorhanden ist. Sie geht oft mit einer Gedeihstörung einher. Im Arm der Mutter wirken die Kinder abwesend, hypoton und wenden den Blick ab, was bis zur Aufgabe der Beziehungsgestaltung mit der Bezugsperson führen kann. Das Verhalten ist eine Reaktion auf mangelnde oder fehlende Bedürfnisbefriedigung (Deprivation). Mütterliche Depression, hoher sozialer Stress, Vernachlässigung oder andere Formen von Missbrauch spielen eine Rolle [8].

Infantile Anorexie.

Diese Störung tritt frühestens in der 2. Hälfte des 1. Lebensjahrs auf. Sie steht in engem Zusammenhang mit der Autonomieentwicklung des Kindes [8] und geht ebenfalls oft mit einer Gedeihstörung einher. Die Symptomatik beginnt häufig nach einem Übergang in der Ernährung (z. B. Fingerfood). Die Kinder sind ausgesprochen neugierig und ablenkbar. Während einer Mahlzeit sind sie mehr an ihrer Umgebung als am Essen interessiert, was Eltern zu Ablenkungsmanövern beim Füttern veranlasst, die das Signalisieren der Essbereitschaft seitens des Kindes weiter hemmen. Ein Zusammenhang mit der Anorexia nervosa der Adoleszenz, deren zentrales Symptom die Gewichtsphobie ist, besteht nicht.

Sensorisch bedingte Nahrungsverweigerung.

Gelegentlich entwickelt ein Kind, evolutionsbiologisch gesehen, wenig sinnvolle und andauernde Aversionen gegen Speisen oder Nahrungsbestandteile. Diese Kinder sind ohne Hilfen nicht bereit, ihr Nahrungsspektrum zu erweitern. Bei manchen finden sich erhöhte Dichte und Durchmesser von Zungenpapillen, die für die differenzierte Wahrnehmung von Geschmack, Konsistenz und Form der Speise zuständig sind. Sie empfinden entweder ein unangenehmes Brennen bei der Aufnahme von Nahrungsbestandteilen, haben eine intensivere Wahrnehmung von bestimmten Speisen und/oder eine erhöhte Sensibilität für die Körnung der Nahrung [12, 27].

Funktionelle Dysphagie (konditionierte oder posttraumatische Fütterstörung).

Ein möglicher Grund, bestimmte Speisen zu meiden oder zu schlucken, liegt in der zeitlichen Kopplung einer unangenehmen Erfahrung mit der Aufnahme einer Speise. Säuglinge, die beispielsweise nach dem Ansetzen der Flasche eine (unkontrollierbare) Situation erleben, wie Zwang oder Schmerz, entwickeln u. U. derartige Symptome. Gehäuft tritt die funktionelle Dysphagie nach wiederholtem Legen einer nasogastralen Sonde, Absaugen oder bei zeitnahem Erbrechen während bzw. nach einer Mahlzeit auf. Die Kinder sind bereits bei Positionierung zur Fütterung oder Konfrontation mit der Flasche ängstlich. Die Angst ist oft im Halbschlaf aufgehoben.

Emotionale Störung mit Nahrungsvermeidung.

Diese klinisch bedeutsame Gruppe von Kindern vermeidet aus affektiven Motiven Nahrung. Die Gründe dafür sind vielfältig, meistens reaktiv und nicht selten in familiären Belastungen zu suchen. Betrifft die Angst nur ein bestimmtes Nahrungsmittel, ist ein Auslöser im Sinne einer emotional bedeutsamen Situation eruierbar (Phobie). Im Unterschied zur konditionierten Fütterstörung liegt kein primärer physiologischer Trigger wie Schmerz vor. Vielmehr besteht ein Zusammenhang mit Ängsten oder Depressivität – sowohl beim Kind als auch den Eltern. Mütter weisen gehäuft (restriktive) Ess- sowie Angst- und Zwangsstörungen auf. Auch aktuelle Belastungen der Eltern sollen in ihrer Auswirkung auf das Essverhalten des Kindes berücksichtigt werden [6, 24].

Ein beeinträchtigtes Fütter- und Essverhalten im Säuglings- und Kleinkindalter ist häufig, jedoch meistens selbstlimitierend, wenn es frühzeitig erkannt und die Familien adäquat aufgeklärt und begleitet werden. Eine wichtige Rolle kommt dem Kinderarzt zu, der die besorgten und verunsicherten Eltern mit Hinweis auf das breite Spektrum des kindlichen Essverhaltens und der Gewichtsentwicklung beruhigen kann.

Störungswertige Formen mit und ohne Gedeihstörung sind abzugrenzen, da diese bedeutsame Fehlentwicklungen aufseiten des Kindes, der Bezugsperson oder auf der interaktionellen Ebene nach sich ziehen. Die Behandlung dieser klinisch relevanten Störungen gehört in die Hand erfahrener, gut vernetzter Fachpersonen. Bei schweren Formen ist in die Betreuung durch ein multidisziplinär zusammengesetztes Team angezeigt, in dem auch die elterliche psychische Disposition und ggf. Behandlung Berücksichtigung findet.

Fazit für die Praxis

  • Säuglinge und Kinder steuern ihren Bedarf an Energie und Nährstoffen mithilfe physiologischer Regulationsmechanismen.

  • Wenn ein Kind mehr oder weniger parallel zu den Perzentilenkurven wächst und gesund ist, dann wird sein Bedarf an Energie und Nährstoffen gedeckt.

  • Energiehaushalt und Nahrungsaufnahme sind von Kind zu Kind hoch variabel. Die Erwartungen des Umfelds müssen an den tatsächlichen Energiebedarf angepasst werden.

  • Die interkulturelle Vielfalt des Essverhaltens verdient Anerkennung. Rigide Empfehlungen sind nicht angebracht.

  • Eltern können als Vorbilder und durch sensitives Fütterverhalten ihren Kindern den Weg zu einer gesunden und vielfältigen Ernährung ebnen.

  • Eine übermäßige elterliche Kontrolle des Essverhaltens ist nicht angebracht.

  • Das Risiko für die Entwicklung von Verhaltensstörungen im Kleinkind- und im Vorschulalter ist erhöht, wenn sie nicht frühzeitig erkannt und ggf. behandelt werden. Die Zusammenarbeit verschiedener Professionen ist zu empfehlen.